Samstag, Oktober 5

In der estnischen Stadt Narwa befindet sich einer der letzten offenen Grenzübergänge zu Russland. Ein Augenschein.

Die Warnungen sind nicht zu übersehen. «Die Polizei rät von Reisen nach Russland ab!», steht in fetten schwarzen Buchstaben auf einem orangen Plakat. «Unterstützen Sie nicht die Aggression Russlands gegen die Ukraine!», auf einem anderen. Die Plakate hängen am Grenzposten von Narwa, an der Grenze zwischen Estland und Russland. Den Leuten, die sich dort anstellen, ist das egal.

Hunderte sind es an diesem Mittwochnachmittag auf der estnischen Seite: Männer, Frauen und Kinder mit Rollkoffern, Taschen und Haustieren. Ein älterer Herr spielt Handorgel, eine Seniorin döst auf einer Sitzbank, und ein kleines Mädchen sitzt auf dem Boden und spielt mit Kieselsteinchen.

Seit Finnland seine Ostgrenze komplett geschlossen und Lettland zwei Übergänge dichtgemacht hat, führt durch Narwa einer der wenigen offiziellen Wege aus dem Schengenraum nach Russland. Täglich passieren hier 1300 bis 1800 Personen den Kontrollposten Richtung Iwangorod. Ungefähr jeder Siebte von ihnen führt laut den estnischen Behörden verbotene Güter mit sich.

Wer sind diese Menschen, die allen Warnungen zum Trotz nach Russland reisen? Was haben sie im Osten vor?

Die Schmuggler

Zwei estnische Polizisten geleiten einen betrunkenen Mann aus der Schalterhalle zurück auf die estnische Seite. Seine Reise endet an diesem Tag in Narwa – weshalb, wollen die Beamten nicht kommentieren. Dahinter geht der Grenzalltag weiter: Passkontrolle, geöffnete Reisetaschen, Zöllner, die durch Kleider wühlen und leere Portemonnaies untersuchen.

Die Beamten suchen verbotene Güter. Aus den Koffern und Rucksäcken fischen sie täglich europäisches Bargeld und Luxusgüter wie teure Weine und Uhren. Aber auch Waffen und Munition, Nachtsichtgeräte, Mikrochips und Drohnen, Starlink-Antennen und Nato-Uniformen. Wegen des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs von Russland in der Ukraine hat die EU die Ausfuhr zahlreicher Güter verboten – allen voran sogenannte Dual-Use-Güter, die sowohl zivil als auch militärisch verwendet werden können.

Ants Kutti, der Leiter der Zollstelle, sagt: «Wir nehmen die Sanktionen sehr ernst.» Die Beamten seien darin geschult, Schmuggler zu erkennen. Die Verstösse hätten jedoch zugenommen, weshalb Estland seit Anfang August alle Passagiere kontrolliere. Jede Person könne etwas Verbotenes mitführen – viele aus Versehen, andere mit klarer Absicht.

Kutti spricht von organisiertem Schmuggel. Arbeitslose Bewohnerinnen und Bewohner von Narwa verdienten ihr Geld damit, verbotene Güter über die Grenze zu transportieren. «Meist wissen sie nicht einmal, was sie da aus dem Land bringen.» Die meisten dieser Kuriere kennen Kutti und seine Männer unterdessen. Trotzdem versuchten viele ihr Glück immer wieder.

Pro Tag fliegen in Narwa sieben bis fünfzehn Fälle auf, bei denen die Zöllner von Absicht ausgehen. Welche Strafe einem Schmuggler droht, hängt von der Schwere des Verstosses ab. Kleinere Vergehen werden mit Bussen geahndet, bei gröberen Verstössen droht ein Strafverfahren.

Die Schlange

Draussen vor dem Grenzposten ist die Schlange immer noch gut hundert Meter lang. Einige Reisende haben Klappstühle dabei. Dass der Grenzübertritt länger dauern könnte, hat sich in den sozialen Netzwerken herumgesprochen.

Wenige Meter neben den Wartenden steht ein junger Mann. Er hat ein tätowiertes Spinnennetz auf dem Arm, am Ellbogen, und trägt eine kleine Umhängetasche. In der Schlange munkelt man, dass man bei ihm einen Platz weiter vorne kaufen könne. Der Polizist Rainis Kokla bestätigt, dass so ein Geschäftsmodell existiert. «Wir haben gehört, dass die Leute mehrere hundert Euro für einen Platz verlangen.»

Ants Kutti leitet die Zollstation, Rainis Kokla arbeitet für die Polizei.

Der Handel mit den Plätzen, die Hitze, das Warten – die Stimmung ist spürbar angespannt. Zu Konflikten komme es vor allem dann, wenn die Leute betrunken seien oder gestresst, weil sie verbotene Gegenstände mitführten, sagt Kokla.

Warum wollen diese Menschen ins Land des Aggressors? «Familie», sagt eine junge Frau. Mit ihrem Freund stehe sie seit mehreren Stunden an. Um ihre Eltern zu besuchen, die gleich ennet der Grenze wohnten. Möglich sei das nur etwa einmal im Monat, denn die kurze Reise nimmt den ganzen Tag in Anspruch. Nervt sie die Warterei? «Nein, das ist doch kein Problem», sagt sie. «Es ist, wie es ist. Und immer noch besser als die ewige Videotelefonie.»

Ein Italiener mittleren Alters ist aus ähnlichen Gründen von Bergamo angereist. Sein Ziel: St. Petersburg, wo seine Frau mit den Kindern bei den Grosseltern wartet. Hat er keine Bedenken, nach Russland zu reisen – schliesslich hat die Ukraine in den letzten Wochen eine Offensive gestartet, um sich zu verteidigen. Drohnenangriffen treffen immer wieder auch Ziele in Moskau und St. Petersburg. «Nein, wieso auch? Das ist doch kein Problem.»

Das findet auch der 30-jährige Batiste aus Frankreich. Er war mit Interrail im Baltikum und hat beschlossen, einen Freund in St. Petersburg zu besuchen. Für das E-Visa hat er 30 Euro bezahlt. Die Reisewarnungen westlicher Aussenministerien, die jederzeit mögliche Schliessung der Grenze, das Risiko, in die Fänge der russischen Geheimdienste zu geraten: All das kümmert Batiste nicht. «Das sagen die Behörden ja über viele Länder. Ich hab keine Angst.»

Die Putinisten

Die wenigsten haben Lust, einer westlichen Journalistin über ihre Reisepläne Auskunft zu geben – schon gar nicht mit Bild und vollem Namen. Jede Aussage, die als Kritik am Kreml aufgefasst werden könnte, birgt ein Risiko. Die russischen Grenzbeamten sind für ihre Willkür bekannt. Seit Beginn des Krieges werden ablehnende Meinungen im Land im Keim erstickt.

Neben den Schmugglern, den auseinandergerissenen Familien und den Neugierigen wartet in Narwa aber noch eine dritte Gruppe auf den Übertritt nach Russland: jene, die mit Putins Invasionspolitik sympathisieren. Etwa der 45-jährige Ire James, der seit 2010 in Russland lebt. «Ich liebe das Land», sagt er. Dann setzt er zu einer Tirade an.

Seine Heimat? «Hat den Verstand verloren mit diesem ganzen woken Scheiss.» Der Krieg in der Ukraine? «Unglücklich», aber die Schuld der Amerikaner. Die westlichen Medien? «Mainstream und korrupt.» Wer zwischen den Zeilen lese, erkenne die Wahrheit. «Die Leute müssen endlich aufwachen.» Auch wenn James den Westen verabscheut, gibt er an, einmal pro Monat nach Grossbritannien zu reisen – wegen «Geschäften» und jüngst eines AC/DC-Konzerts.

Ähnlich sieht es die 60-jährige Künstlerin Inna, eine russisch-britische Doppelbürgerin aus dem englischen Newcastle. Sie ist unterwegs nach St. Petersburg, um ihre Tochter zu besuchen. Mit ihrem englischen Mann hat sie ein Haus in Pskow gekauft. «Durch den Brexit ist die Lage in Grossbritannien unberechenbar geworden. Ich freue mich auf eine bessere Zukunft.» Sie sei in der Kasachischen Sozialistischen Sowjetrepublik aufgewachsen, habe später in St. Petersburg und Boston studiert. Das Warten ist sie gewohnt. Die lange Schlange vor dem Grenzübergang wecke in ihr nostalgische Gefühle an früher.

Auf eine politische Diskussion will sie sich nicht einlassen – wie so viele hier. Sie lobt zwar die «russischen Werte». Welche die sind, kann oder will sie nicht sagen. Bevor sie weiter still in der Schlange steht, sagt sie nur noch das: «Die westlichen Regierungen sagen, man solle nicht nach Russland gehen, aber schauen Sie, wie viele Leute genau das Gegenteil tun. Was sagt das aus?»

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