Donnerstag, Dezember 26

Die NZZ hat dreissig Haftanstalten in der Uiguren-Region besucht. Die berüchtigten «Berufsbildungszentren» scheinen tatsächlich geschlossen zu sein. Dafür gibt es viele neue Hochsicherheitsgefängnisse.

Sind die Umerziehungslager in Xinjiang geschlossen? Das behauptet die chinesische Regierung – und Journalisten und Sinologen aus Europa und den USA bestätigen es. Im September 2022 schrieb die «Washington Post» einen Artikel, in dem stand: «Das Programm der Umerziehungslager scheint 2019 unter internationalem Druck beendet worden zu sein.»

Der Artikel schlug international Wellen. Zwei deutsche Sinologen schrieben im vergangenen Jahr in einem Gastbeitrag in der NZZ, dass die Lager «inzwischen weitgehend aufgelöst worden sein» sollen. Sie forderten: «Wenn sich die Menschenrechtslage weiter nachweisbar normalisiert, sollte die EU den Dialog aufnehmen und die wegen Xinjiang gegen China verhängten Sanktionen überdenken.»

Die Realität ist komplexer, wie eine Recherche der NZZ in Xinjiang zeigt. Journalisten der NZZ fuhren auf einer einwöchigen Reise im November zu dreissig Haftanstalten in verschiedenen Teilen Xinjiangs – die Region ist fünfmal so gross wie Deutschland.

Die genauen Orte der Lager hat die Denkfabrik Australian Strategic Policy Institute (Aspi) in einer Studie mithilfe von Satellitenbildern bestimmt. Die Denkfabrik, die teilweise von Regierungen in Australien, Japan, den USA und Europa finanziert wird, fasst sowohl Umerziehungslager als auch Gefängnisse unter dem Begriff «Haftanstalten» zusammen. Im deutschsprachigen Raum ist meist von «Lagern» die Rede. Aspi hielt 2020 gestützt auf Satellitenbilder fest, dass es in Xinjiang zu Spitzenzeiten 384 Haftanstalten gab.

Chinesische Touristen reisen in Massen nach Xinjiang

Dass die Frage der Lager erst in jüngster Zeit wieder zum Thema wird, hängt mit dem schwierigen Zugang zu Xinjiang zusammen. Während der Pandemie waren Reisen innerhalb Chinas oft kaum bis gar nicht möglich. Im März 2020 verwies die chinesische Regierung rund ein Dutzend amerikanischer Journalisten des Landes. In den ersten knapp eineinhalb Jahren der Pandemie, bis im Mai 2021, erhielten – soweit bekannt – keine westlichen Journalisten neue Visa für China.

Im Dezember 2022 verabschiedete sich China über Nacht von den Covid-Restriktionen. Seitdem reisen chinesische Touristen massenweise nach Xinjiang. Dort fahren sie Ski oder reiten auf Kamelen. Auch westliche Journalisten fliegen wieder nach Urumqi. Xinjiangs Hauptstadt liegt mit rund fünf Flugstunden ab Schanghai oder Shenzhen fast auf halbem Weg nach Europa.

Verfolgt von Männern in Zivilkleidung

Die NZZ fuhr zunächst zu einem der vielen Lager am Rande von Urumqi; in diesem gilt laut der Denkfabrik Aspi die höchste Sicherheitsstufe. Die Anstalt wurde 2018, zur Hochzeit der Repression, von 15 auf 28 Gebäude ausgebaut. Sie ist umrundet von einer hohen Mauer und Wachtürmen.

Vor dem Eingang, einem rund fünf Meter hohen Metallgitter, stand eine Autosperre aus Metall. Aus dem Wachhäuschen traten zwei uniformierte Männer. «Zweite Haftanstalt Urumqi», stand auf einem Schild. «Geheimer Sicherheitsbereich. Fotografieren verboten» auf einem anderen.

Anwohner sagten, es handele sich um ein Gefängnis, das nicht mehr in Betrieb sei. Die NZZ sah keine weiteren Anzeichen für Betriebsamkeit, wahrscheinlich ist das Lager tatsächlich ungenutzt.

Das zweite besuchte Lager war in Betrieb. Die Ortschaft Dabancheng ist ein Bezirk von Urumqi und liegt gut eine Autostunde südwestlich der Regionalhauptstadt, vor einer malerischen Bergkette. Das Gefängnis wurde laut Aspi 2019 neu gebaut. Vor dem Besuchereingang wartete eine Handvoll Personen, womöglich Angehörige von Inhaftierten. Daneben parkierten Autos und Busse.

In Wachtürmen hielten Uniformierte Ausschau. Weil die Journalisten der NZZ zudem auf der Reise stets von Autos und Männern in Zivilkleidern verfolgt wurden, sprachen sie die Leute sicherheitshalber nicht an.

Eine der höchsten Inhaftierungsraten der Welt

Die chinesische Regierung bezeichnete die Umerziehungslager in Xinjiang als «Berufsbildungszentren», in denen die Insassen, deren Muttersprache meist Uigurisch war, etwa Chinesisch lernten. Ausländische Experten schätzten die Anzahl der Insassen in solchen Lagern lange auf mindestens eine Million. Die chinesische Regierung selbst schrieb schliesslich in einem Weissbuch 2020, in Xinjiang hätten zwischen 2014 und 2019 jedes Jahr im Schnitt 1,3 Millionen Menschen «berufsbildende» Massnahmen durchlaufen.

Nach Angaben von Menschenrechtlern und Angehörigen wurden viele ehemalige Insassen der «Berufsbildungszentren» zu Gefängnisstrafen verurteilt. Offizielle Zahlen gibt es nicht. Laut der Nichtregierungsorganisation Human Rights Watch sassen Mitte 2022 rund eine halbe Million Uiguren im Gefängnis. In Xinjiang leben rund zwölf Millionen Uiguren.

Die Behörden bestreiten, dass sich die Massnahmen gegen bestimmte Ethnien richten. «Xinjiang unternimmt Anstrengungen zur Bekämpfung des Terrorismus und zur Deradikalisierung, ohne auf bestimmte Ethnien abzuzielen», teilt das Amt für auswärtige Angelegenheiten in der Provinzhauptstadt Urumqi mit.

Die Nachrichtenagentur AP erhielt 2022 eine Liste mit Namen von 10 000 inhaftierten Uiguren in Xinjiang. Demnach sitzen im Landkreis Konasheher fast vier Prozent der Bevölkerung im Gefängnis. Das ist eine der höchsten Inhaftierungsraten der Welt.

Direkt neben dem Gefängnis in Dabancheng befindet sich ein weiteres Lager. Die chinesische Regierung hat das «Berufsbildungszentrum» offiziell umgewandelt zur Dritten Haftanstalt Urumqi. Die Nachrichtenagentur AP schätzte dessen Kapazität 2021 auf 10 000 Gefangene – es sei das grösste Gefängnis Chinas.

Beim Besuch im November war nicht klar ersichtlich, ob das Lager weiter in Betrieb war. Einer der Wachtürme an der Hunderte Meter langen Mauer war abgebaut, die anderen nicht, aber sie waren unbesetzt. Neben dem Lager standen Dutzende Autos vor Verwaltungsgebäuden.

Mindestens zwei weitere Lager waren allem Anschein nach weiterhin in Betrieb. Eines befindet sich in der Stadt Turpan, eine weitere Autostunde südwestlich von Dabancheng. Ein Polizist, der an einer Strassenkreuzung vor dem Lager Wache stand, sagte auf Nachfrage, es handele sich um einen «Disziplinierungsort». Am Abend leuchtete in dem Lager ein von fern sichtbarer Scheinwerferpfahl.

Festgehalten von Wachmännern und Polizisten

Als die NZZ am nächsten Morgen einem Wachmann weitere Fragen stellte, rief dieser Verstärkung. Innerhalb weniger Minuten erschien ein Dutzend Wachmänner und Polizisten. Sie stellten die Identität der Journalisten fest und befragten sie. Nach einer guten halben Stunde durften sie gehen.

Ein weiteres aktives Lager befindet sich eine halbe Autostunde südlich der Stadt Kashgar, der kulturellen Hochburg der Uiguren unweit der Grenze zu Kirgistan. Eine massive weisse Mauer – laut der Denkfabrik Aspi vierzehn Meter hoch – umgibt die dreizehn Gebäude. In den Wachtürmen standen Uniformierte.

Dieses Gefängnis wurde laut Aspi erst im Januar 2020 eröffnet, also kurz nach dem offiziellen Ende der Umerziehungslager. Aspi schätzt die Kapazität der Anstalt auf rund 10 000 Insassen. Daneben befand sich laut Aspi einst eine «berufsbildende und technische Schule», die bis April 2020 von der Weltbank mitfinanziert wurde.

Unmittelbar rund um Kashgar verzeichnet das Aspi vierzehn Lager. Die NZZ konnte aus Zeitgründen nur eine Handvoll aufsuchen. Im Wachturm eines Gefängnisses, das laut Aspi seit 2017 um das Fünffache vergrössert worden ist, stand ein Uniformierter.

Zwei weitere Lager im Landkreis Kunes konnte die NZZ nicht besuchen, weil die Polizei sie weiträumig absperrte. Die Strassensperre zum einen Lager war offensichtlich dauerhaft eingerichtet. Den Weg zur zweiten Anstalt sperrten zwei Polizeiautos ab, die sich kurz vor der Ankunft der NZZ-Journalisten quer auf die Zufahrtsstrasse gestellt hatten.

Die NZZ wertet diese Anstalten ebenfalls als «anscheinend weiterhin in Betrieb». Gleiches gilt für ein Gefängnis in der Kleinstadt Ghulja. Vor diesem befanden sich um die typische Feierabendzeit von 18 Uhr mehrere Autos und Leute, vermutlich Mitarbeiter oder Angehörige von Insassen.

Gefängnisse statt «Berufsbildungszentren»

Die Recherche der NZZ hat gezeigt: Tatsächlich schienen alle besuchten «Berufsbildungszentren» geschlossen zu sein. Alle Teilnehmer der Programme hätten inzwischen ihren Abschluss gemacht, teilt das Amt für auswärtige Angelegenheiten in Xinjiang auf Anfrage mit.

Doch die vielen Gefängnisse sind offenbar weiterhin in Betrieb. Von den insgesamt dreissig aufgesuchten Lagern schienen sieben genutzt zu werden, das sind 23 Prozent. Zu einer Quote von 38 Prozent war im Sommer die französische Nachrichtenagentur AFP gekommen, die 26 Lager überprüfte. 10 von 26 Lagern schienen in Betrieb zu sein.

Die Gefängnisse wurden in den vergangenen Jahren sogar massiv ausgebaut. Mutmasslich Hunderttausende Uiguren, die laut Beobachtern keine fairen Prozesse bekommen haben, müssen nun Jahre hinter Gittern verbringen. China mag das System der Umerziehungslager in Xinjiang beendet haben, stattdessen gibt es nun massenhaft Hochsicherheitsgefängnisse.

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