Dienstag, November 26

An der Spitze der Super League herrscht ein fröhliches Jekami. Hierarchien wanken, die Verhältnisse geraten durcheinander, das Publikum strömt in die Stadien. Was ist da los?

Es ist heimelig im grossen Besprechungszimmer am Zürcher Schanzengraben: Wimpel und Pokale, ein Foto mit dem grossen Pelé, ein gerahmter NZZ-Bericht mit dem Familienhund, Nippes. Der FCZ-Präsident Ancillo Canepa hat in sein Büro geladen, auch der Sportchef Milos Malenovic ist zum Gespräch gekommen. Wie Vater und Sohn stellen sich die beiden für die Fotografin vor die schönen Erinnerungsstücke aus Canepas FCZ-Welt. Einer Welt, wie sie Canepa gefällt.

Wie viel in dieser Welt dem entspricht, was im und um den FCZ tatsächlich vor sich geht, ist eine andere Frage. Deshalb gilt es einiges geradezurücken und richtigzustellen an diesem Freitag Ende Oktober. Die vielen Entlassungen, die Grimmigkeit des Chef-Trainers, die Selbstherrlichkeit der Südkurve. Auch die Gerüchte über den Verkauf des Klubs an eine Gruppe hinter Malenovic stehen immer noch Raum.

«Chabis!», ruft Canepa, alles sei falsch. Er bucht es ab unter mutwilligen Unterstellungen von uninformierten Journalisten. Laut und deutlich sagt er das, Malenovic nickt und steuert salbungsvoll Ergänzungen bei. Zur Auflockerung gibt es Gelächter, manchmal ist es auch lustig im Büro Canepa. Wo liegt das Problem?

Denn der FCZ ist an diesem Donnerstag Leader, dies allein muss als Beleg genügen, dass die Neuerfindung des Klubs nach der Façon von «Leistungskultur» und «Change-Management» auf bestem Weg ist.

Drei Tage später sitzen Canepa und seine Frau Heliane in der Präsidentenloge im Letzigrund und schauen mit dem Ehrengast Monika Kaelin zu, wie die Mannschaft beim 1:3 gegen Servette sang- und klanglos untergeht. «Eine Katastrophe, das macht mich krank», sagt Ricardo Moniz, der grimmige Trainer, den Canepa und Malenovic über den Klee loben. Malenovic vergleicht den Niederländer mit Lucien Favre, «ein Künstlertyp». Nochmals drei Tage später hüpft der FCZ mit dem 2:0 in Sitten schon wieder an die Spitze.

Beim billigen Jakob

Was dieser Spitzenplatz wert ist, lässt sich schwer abschätzen. Canepa benutzt die gängige Floskel, dass die Meisterschaft noch lange dauert und die Füsse auf dem Boden bleiben. Denn momentan geht es an der Tabellenspitze lustig zu wie auf dem Jahrmarkt, wenn der billige Jakob ruft: Wer hat noch nicht, wer will noch mal?

Bereits sechs verschiedene Klubs haben im ersten Drittel die Meisterschaft angeführt – so etwas hat es schon seit vielen Jahren nicht mehr gegeben. Nach zwölf Runden steht der FCZ zuoberst, auch Servette, Luzern, Lugano, St. Gallen und sogar der FC Sion waren schon Erster. Nach fast jedem Redaktionsschluss kann wieder ein anderer Klub die Spitze übernehmen.

Aber Obacht: Warum spielen beim Jekami die Young Boys und der FC Basel bis jetzt nicht mit? Sie sind die grossen Abwesenden. Gross, weil beide Klubs mit Abstand am meisten Geld haben und mit den schönsten, besten und grössten Stadien viel Publikum. Gross sind sie aber vor allem wegen der jüngeren Vergangenheit. Sie verpflichtet zu Titeln und Trophäen: YB hat seit 2018 sechs von sieben möglichen Meisterschaften gewonnen, davor war es der FC Basel, der sogar acht Mal in Folge den Titel geholt hatte.

Die beiden Schwergewichte versuchen, ihrem Selbstverständnis gerecht zu werden, indem sie durch die Gegend taumeln wie geohrfeigte Boxer, unberechenbar und stets für eine Überraschung gut. Der FCB ist unter David Degen schon seit längerem so unterwegs, YB spätestens seit Jahresbeginn.

Bei den Bernern zeigt sich das Schlingern und Schlackern etwa darin, dass die YB-Führung innert acht Monaten zwei Trainer fortgeschickt hat. Raphael Wicky musste Anfang März nach drei Niederlagen gehen, obschon YB die Meisterschaft anführte. Vor kurzem war für Wickys Nachfolger Patrick Rahmen Schluss, weil sein Team zwar die Champions League erreichte, in der Meisterschaft aber Niederlage an Niederlage reihte.

Die YB-Bosse um den Mitbesitzer und obersten Sportverantwortlichen Christoph Spycher müssen sich nun gut überlegen, welchem Trainer sie nach dem zweiten Interregnum des Aushilfstrainers Joël Magnin im kommenden Jahr das hochkarätige, aber konturlose Kader anvertrauen wollen. Einem grossen Namen? Einem jungen, hungrigen Talent? Ausländer oder Schweizer? «Fussball isch geng es Risiko», würde Mani Matter singen.

In den YB-Teppichetagen soll man schon seit längerem keine munteren Lieder singen. Während der YB-Spiele sieht man bleiche Fassungslosigkeit in den Gesichtern der Verantwortlichen. Zu gross ist die nervöse Spannung. Nicht nur wegen der Suche nach dem wichtigsten Angestellten. Die Nervosität gründet tiefer, weil das Gefühl für Spieler, für Konstellationen und Befindlichkeiten zu schwinden droht nach den Jahren des Dauererfolgs und wirtschaftlichen Wachstums. Das trübe Theater rund um die Kündigung des CEO Wanja Greuel kurz vor Ende der letzten Meisterschaft war ein deutliches Signal für die Unruhe im Klub.

Zwar lässt in Bern die Champions League gerade wieder viele Millionen sprudeln und beschert dem Wankdorf verzaubernde Nächte wie gegen Inter Mailand bei der unglücklichen Niederlage in letzter Minute. Aber das Kontrastprogramm folgt jeweils postwendend: vier Tage später in Lugano mit Ratlosigkeit über eine kraftlose Darbietung im Schlafmodus. «Ich kann es auch nicht erklären», sagte der Trainer Magnin nach dem 0:2 im Tessin. Wie soll es weitergehen, wo liegt die Zukunft?

Vielleicht liegt die Zukunft in der Gegenwart, und die Zukunft ist im Fussball überbewertet. Das gilt gerade für die Young Boys in diesem Herbst. Was zählt, ist die Gegenwart, die Gegenwart des Spiels für das Publikum. «Es ist wie auf der Achterbahn im Europa-Park: Es geht steil hinunter und dann gleich wieder nach oben», sagte der YB-Captain Loris Benito nach dem wilden 3:2 gegen den FC Basel am letzten Mittwoch. In seinem Vergleich steckt mehr als nur die Beschreibung der Gefühlslage, nach der die Reporter so gerne fragen.

Benitos Vergleich ist auch eine Antwort auf die Frage, warum nicht nur in Bern das Publikum in die Stadien strömt wie nie zuvor. Es geht um das Angebot für Erlebnisse wie im Europa-Park, um Achterbahngefühle, um Nervenkitzel und emotionale Wallungen. Kurz: um Unterhaltung.

Auf der Showbühne

Unterhaltung bedeutet das Versprechen von Tränen, Dramen, Sekunden zwischen Glück und Pech, Freudensprüngen. Dieses Versprechen erneuert sich vor jedem Match automatisch, dazwischen müssen Klubs und Spieler das Versprechen erneuern und befeuern. Ein Versprechen, am besten mit schön verpackten Träumen. Exemplarisch hat das der FC Basel vorgeführt mit der Heimholung von Xherdan Shaqiri.

Die Verpflichtung Shaqiris ist ein idealtypisches Versprechen für die Inszenierung des Fussballtraums. Ein Traum in der Verpackung des Starspielers, von Basel zu Bayern München, Inter Mailand, Liverpool, unvergessene Tricks und Tore für die Schweizer Nationalmannschaft. Als Shaqiri vom Balkon im St.-Jakob-Park in die Menge winkt, ist Basel aus dem Häuschen, und durch die Fussballschweiz schwappt eine Welle der Vorfreude. Wird Shaqiri das Versprechen einlösen, den Traum von Show, Spektakel und Siegen für den FCB wahr zu machen?

Das Basler Shaqiri-Versprechen hat seinen Preis. Mindestens anderthalb Millionen Franken soll der FCB jährlich an Shaqiri überweisen, kein Spieler verdiente jemals mehr in der Schweiz. Die Investition in das Versprechen erfüllt viele Zwecke – etwa den, dass sich die Aufmerksamkeit auf den Starspieler richtet statt auf die vielkritisierte Führung um David Degen. Zahlt Shaqiri auf dem Rasen zurück, umso besser. Es gibt Anzeichen, dass auch dies klappen könnte.

Beim 2:3 in Bern hat der 33-Jährige gerade unterstrichen, dass er daran arbeitet, nicht nur mit seinem linken Fuss ein ganzes Team besser zu machen. Am vorletzten Samstag hat er die Winterthurer Schützenwiese in seine persönliche Showbühne verwandelt. Nicht nur die kleinen Fans in der Sirupkurve sind so verzückt, dass sie fast die 1:6-Niederlage vergessen: Xherdan Shaqiri nicht nur am TV, Xherdan Shaqiri sogar in Fleisch und Blut! Es ist kein Märchen.

Auf der Intensivstation

Ebenfalls kein Märchen ist die Geschichte vom reichen Onkel aus Amerika. Er heisst Joe Mansueto, dem Milliardär aus Chicago gehört seit gut drei Jahren der FC Lugano. Vergangene Woche war er zum zweiten Mal im Tessin auf Kurzbesuch und beschaute, was mit seinen gegen 50 Millionen Dollar angestellt wird. Er findet alles ganz prima, Lugano hat gerade den Meister YB besiegt. Mansueto sagt: «Nach den Rängen 4, 3 und 2 wollen wir den nächsten Schritt machen» – also Meister werden.

Ausgeschlossen ist das nicht. Der FC Lugano zeigt gute Leistungen, mit Renato Steffen hat er einen erfahrenen Unterschiedsspieler in seinen Reihen. Aber wen würde der FC Lugano als Meister interessieren? Nur wenige. Dreieinhalbtausend Zuschauer kommen durchschnittlich ins Stadion, Gästefans eingerechnet. Das Team zeigt guten Fussball, viel mehr ist da nicht. Das sportlich erfolgreiche Projekt unter Mansueto ist das erste Gegenbeispiel dafür, dass ausländische Klubbesitzer in der Schweiz erfolglos sind. Erfolglos wie die Grasshoppers, im Besitz des Los Angeles FC.

«Wir sind auf der Intensivstation», sagte der Grasshoppers-Trainer Marco Schällibaum am Donnerstag vor dem 1:1 gegen Lugano. Seine Mannschaft kommt nicht vom Fleck, sie muss den Abstieg fürchten, geplant war das ganz anders. Mansueto ist anwesend in der Loge im fast leeren Letzigrund, vielleicht gab er den GC-Verantwortlichen den einen oder anderen Tipp, wie sich die Dinge verbessern lassen. Den Trainer wechseln? Er gehe davon aus, dass er auch im nächsten Spiel auf der Bank sitzen werde, sagte Schällibaum nach dem Spiel.

Welcher Trainer auf welcher Bank sitzt, kann sich schnell ändern in der lustigen Schweizer Liga. Wer hätte gedacht, dass der stille Thomas Häberli mit Servette einen so guten Job macht, dass die Genfer als Meisterkandidat gehandelt werden? Ausser dem Servette-Sportdirektor René Weiler nicht viele. Auch das ist ein Beispiel für eine Meisterschaft, die so aufregend und unberechenbar scheint wie seit langem nicht mehr.

Nur eine Gewissheit bleibt: «Der FC Zürich wird niemals an Ausländer verkauft!» Ancillo Canepa unterstreicht auch diesen Satz mit einer grossen Geste, die Tabakpfeife in der Hand. Selbstverständlich will man ihm glauben, obwohl auch Canepa niemals nie sagt. Vielleicht wird der FCZ ja Meister. In der lustigen Liga ist alles möglich, man muss nur daran glauben.

Mitarbeit: Fabian Ruch

Ein Artikel aus der «»

Exit mobile version