Am Samstag spielt die Schweiz im EM-Achtelfinal gegen Italien. Über das Verhältnis zu unserem allerliebsten Nachbarn.

«Wettlauf mit der Zeit am San Bernardino», titelte dieser Tage der Boulevard, und gemeint waren nicht die verschütteten Menschen im Misox, sondern die A 13. Verkehrsminister Rösti verlangt, sie möge raschestens instand gesetzt werden, auf dass der Ferienverkehr ungehindert rolle: ins Land unserer Träume – zu dem wir eine Beziehung hegen, die zwischen Herablassung und Bewunderung schwankt.

Zwischen Sehnsucht und offenem Rassismus: Vor wenigen Jahren noch erzählte Berns damaliger Stadtpräsident Alexander Tschäppät in aller Öffentlichkeit einen hämischen Witz über die angeblich arbeitsscheuen Italiener. Verachtetes, geliebtes Italien! Wir schimpfen, wenn der Zug aus Mailand wieder einmal um Stunden verspätet ist. Dennoch verklären wir das Land.

Besonders in der Erinnerung. Eine Fälschung der Maglia azzurra trug ich, erstanden für 10 000 Lire an einem Marktstand in La Spezia, drehte auf meinem Cilo-Halbrenner Runden durchs Dorf und war der glücklichste 17-Jährige der Welt: «Mein» Italien hatte Deutschland im WM-Final 3:1 bezwungen. Wer damals Fussball mochte, wich als Fan auf Ferien- und Nachbarländer aus, es gab während unserer Jugendzeit keine Endrunde, an der die Schweiz teilgenommen hätte.

Noch hatte es nicht eingedunkelt am Abend des 11. Juli 1982, dennoch war’s still bei uns auf dem Land. Nur droben bei den Salminis war noch Lärm und drüben im Wohnblock, wo die Protopapas hausten. Jahre später erst vernahm ich, in den Städten habe es in jener Nacht Autokorsos gegeben, hätten Italienerinnen und Schweizer sich in den Armen gelegen.

Über Nacht war die Welt azurblau

«Campioni del mondo!» Das war Genugtuung für die eben noch als «Tschinggen» geschmähten Gastarbeiter. Mit einem Mal war Klassenkamerad Gianluca aus Bümpliz der Star des Schulhauses, neidisch flochten wir Mitschüler italienische Floskeln in unseren Slang und schlichen wir uns in die Diskothek «Medora» ins Tscharnergut. Über Nacht war die Welt azurblau, feierte mit dem stoischen Dino Zoff, dem schönen Antonio Cabrini und dem flinken Paolo Rossi den WM-Triumph, hörte Antonello Venditti und Gianna Nannini, las Umberto Ecos «Der Name der Rose» und schaukelte alsbald mit Federico Fellinis «E la nave va» traumtrunken durchs Kino.

Das Belpaese wurde zur Heimat unserer Herzen in einer Zeit, als in der Schweiz allein schon das Gefühl verpönt war, sich heimisch zu fühlen. Für einen echten Caffè espresso musste man damals noch über die Grenze fahren. Fluchtpunkt Süden. Den Italienerinnen und Italienern in der Schweiz – zuvor als Saisonniers diskriminiert, als «muratori» geringgeschätzt – hatte der berauschende Fussball der «Azzurri» Bewunderung eingebracht, mehr noch: Wir wollten sein wie sie. Italianità wurde zur Leitkultur der 1980er Jahre. Die Cantautori dominierten die Hitparaden, wer etwas auf sich hielt, fuhr ein «Ciao»-Töffli, die Coolsten besorgten sich gar Jeans der Marke Jesus, made in Italy, dazu ein Shirt von Robe di Kappa.

«Gli italiani.» Gekommen waren sie schon hundert Jahre vorher, hatten für uns den Durchbruch am Gotthard erzielt und später den Lötschbergtunnel gesprengt, unsere Häuser und Autobahnen gebaut und unsere Vorstädte besiedelt, in Bern-Bethlehem, dem Zürcher «Chreis Cheib» und dem Basler Birstal. Gebraucht als Maurer unseres Wohlstands, geduldet und doch verhöhnt. In einem einzigen Satz pointierte Max Frisch 1965 das Dilemma: «Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen.» Als solche blieben die Zugewanderten lange unverstanden. Was sich mit Tamilinnen und Tamilen sowie den «Jugos» gescholtenen Menschen aus dem Balkan wiederholen sollte.

Wir haben uns unser Italien schöngesoffen, schöngesungen

Nun aber, Mitte der 1980er Jahre, galt «Viva l’Italia». Das hatte gewiss auch mit Kitsch zu tun. Man summte Francesco De Gregoris Hymne mit, ohne zu verstehen, wie kritisch, ja zynisch sie war. Man schwärmte für Kommunistenväterchen Enrico Berlinguer und den greisen Präsidenten Sandro Pertini, den einstigen Partisanen. Ja, selbst für Politiker schwärmten wir – es waren ja nicht unsere. «Avanti popolo!» Goethes «Land, wo die Zitronen blühn», war uns Sehnsuchtstopos, war Wunschland, Leinwand unserer Projektionen, lange bevor Kuba, Nepal, Argentinien dies wurden. Italien war Synonym für Gaumenfreuden, Anmut, Dolcefarniente.

Längst fluchten wir über das Reagan-, später das Bush-Regime in den USA, empörten uns über Österreichs braunnationale politische Rechte. Wir boykottierten wegen Frankreichs Atomtests auf Mururoa den Champagner – und tranken stattdessen Prosecco. Nein, wie Silvio Berlusconi die Demokratie aushebelte und wie die Mehrheit seines Volkes ihn gewähren liess, das blendeten wir lieber aus. Es hätte uns die nächste Toskana-Reise vergällt. Wir haben uns unser Italien schöngesoffen, schöngesungen, «Viva l’Italia!».

Der Bademeister, braungebrannt neben seinem «Salvataggio»-Ruderkatamaran; die laute Marktfrau; der Barista, der einem mit schwungvoller Souplesse den Espresso auf die Untertasse setzt, während er mit der anderen Hand die Zuckerschale aufschnippt – allesamt kleine Darsteller ihrer selbst. Zwischen altrömischen Triumphbögen und faschistischen Protzbauten, in einer Kulisse, deren Geschichtsträchtigkeit doch erdrückend sein müsste, spielten sie leichthin, achtlos beinahe ihre alltägliche «Commedia», führten sie lässig ihr Melodram auf. Dieses Italien der prunkvollen Piazze und staubigen Fussballplätze, der prächtigen Ruinen und scheusslichen Neubauten, ein Italien der Hütten und Paläste: Wir behielten es im Herzen.

Als Exotikum hat sich Italien abgenutzt

Dabei war längst auch der Calcio zum Spielball von Politik und organisiertem Verbrechen geworden, zur Schaubühne von Betrug und Geldwäscherei. Bloss hatten wir das nicht wahrhaben wollen. 1981 steckte der Stürmer Paolo Rossi mitten im Schlamassel um illegale Wetten und manipulierte Spiele. Er war für drei Jahre gesperrt worden, wurde jedoch nach nur einem begnadigt, im Frühjahr 1982, rechtzeitig zur Weltmeisterschaft – und schoss «uns» zum Titel.

Feierten wir den Sieg der Squadra nicht wie eine Revolution? Entsprach es nicht ganz der Duselei, die wir pflegten? Wir hörten Partisanenlieder als Schlager und Schlager als Partisanenlieder. Einerlei, ob «Bella Ciao» oder «Ciao, bella», stets wähnten wir uns auf der Seite einer schlau-sinnlichen Gegenkultur. Verfehlungen wie jene des Fussballers Rossi taten wir als charmante Schelmenstücke ab. Selbst unser Kopfschütteln darüber, dass man den «Duce» Mussolini noch immer als Sujet auf T-Shirts, Fahnen und Kochschürzen kaufen konnte, blieb ein wohlwollendes.

Erst allmählich verflog der Zauber. Weil sich mit Berlusconi ein Mann 30 Jahre lang beinahe ununterbrochen an der Macht hielt, der Gesetze nach Gutdünken und allzeit zum Eigennutz änderte, nahezu totale Kontrolle über Filmproduktion, Medien und Buchhandel ausübte und alle sechs nationalen TV-Kanäle gängelte. Bald war sein Fernsehen dümmlicher, als Fellini es 1986 in «Ginger e Fred» persifliert hatte.

Zwar regte sich Widerstand, lehnten junge Satirikerinnen und Slampoeten sich auf. Doch es wurde nördlich der Alpen kaum gehört. Vielleicht, weil wir uns sträuben, Italien als modernes Land wahrzunehmen. Oder weil Italien sich als Exotikum abgenutzt hat, seit Aceto balsamico in jeder Küche steht.

Aber erlebte die Sehnsucht nicht jüngst eine Renaissance? Dank Elena Ferrantes Roman-Tetralogie «Meine geniale Freundin», dank dem Film «C’è ancora domani», einer Art «Barbie» für Fortgeschrittene: ernsthafter, dadurch weit eindringlicher. Womöglich der Film des Jahres. Gerade sang Pop-Star Mahmood, der schwule Sohn eines Ägypters und einer Italienerin, in Zürich vor ausverkauftem Haus, bald füllt Gianna Nannini wieder das Hallenstadion.

Und die «Azzurri»? Haben sich in den EM-Achtelfinal gemurkst, von der eigenen Presse zunächst verdammt, dann in den Himmel gelupft: «Miracolo Italia!», jubilierte die «Gazzetta dello Sport» nach dem späten Ausgleich gegen Kroatien. Und ich habe mitgejubelt.

Heute Freitag streife ich ein Schweizer Nationaldress über, als Aussenverteidiger der Literatur-Nati, die gegen den FC Grossrat Basel antritt. Am Samstag trage ich dann azurblau. Und fröne dem kindlichen Traum von einem Land, das wir gern belächeln, aber still bewundern.

Bänz Friedli ist Autor und Kabarettist. Er befasst sich seit langem mit italienischer Populärkultur

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