Mindestens sechs Wochen lang sollen im Gazastreifen die Waffen schweigen. Was umfasst das Abkommen zwischen Israel und der Hamas genau?
Zum ersten Mal seit mehr als einem Jahr ist es still im Gazastreifen – es sind keine Gewehrsalven mehr zu hören, keine Explosionen. Monatelang hatten Israel und die islamistische Terrororganisation Hamas unter Vermittlung von Katar, Ägypten und den USA verhandelt, bis sie sich am 15. Januar endlich einig wurden.
Das Abkommen, das am 19. Januar in Kraft getreten ist, umfasst drei Phasen. In der ersten Phase sollen die Waffen sechs Wochen lang schweigen. In der ebenfalls sechswöchigen zweiten Phase soll ein definitives Ende des Krieges vereinbart werden, während in der dritten Phase ein Plan zum Wiederaufbau des zerstörten Gazastreifens beginnen soll.
Bislang sind lediglich die Details der ersten Phase bekannt – die Bedingungen der zweiten Phase müssen erst noch verhandelt werden. Anhand von Grafiken wird im Folgenden gezeigt, was in den nächsten sechs Wochen passieren soll.
Geiseln werden gegen palästinensische Häftlinge ausgetauscht
Bild links: Die Hamas übergibt am 19. Januar die israelische Geisel Doron Steinbrecher dem Internationalen Komitee des Roten Kreuzes. Bild rechts: Freigelassene palästinensische Häftlinge kommen am 19. Januar in einem Bus in Ramallah an.
Israel hat dem Abkommen vor allem deshalb zugestimmt, weil es dadurch mehrere israelische Geiseln aus dem Gazastreifen befreien kann. Während der ersten Phase sollen insgesamt 33 Geiseln freikommen. Es handelt sich vor allem um Frauen, Kinder, Soldatinnen, Kranke sowie Männer über 50 Jahre – wobei nicht klar ist, ob alle 33 noch am Leben sind.
Im Gegenzug hat sich Israel verpflichtet, mehr als 1700 palästinensische Häftlinge aus israelischen Gefängnissen freizulassen – darunter Hunderte Terroristen, die zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt wurden.
Die Hamas hatte am 7. Oktober 2023 insgesamt 251 Geiseln nach Gaza verschleppt. Davon waren 105 im Rahmen einer einwöchigen Feuerpause im November 2023 freigelassen worden. Acht Geiseln wurden seit Kriegsbeginn von der israelischen Armee lebend gerettet, 40 konnten nur noch tot geborgen werden.
Am 19. Januar wurden nun drei weitere Geiseln freigelassen, allesamt junge Frauen. Am 26. Januar sollen die nächsten vier Geiseln folgen. Danach sollen bis zum Ablauf der sechs Wochen alle sieben Tage drei Geiseln freigelassen werden.
In den Verhandlungen haben sich Israel und die Hamas auf eine komplexe Formel zum Austausch von Geiseln und palästinensischen Häftlingen geeinigt. Für jede weibliche Geisel sollen jeweils 30 palästinensische Frauen und Kinder aus israelischen Gefängnissen freigelassen werden. Für Soldatinnen hingegen kommen jeweils 50 Häftlinge frei – darunter je 30, die zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt wurden.
Insgesamt sollen so 734 in Israel verurteilte Palästinenserinnen und Palästinenser auf freien Fuss gesetzt werden, wie eine vom israelischen Justizministerium veröffentlichte Liste zeigt. Unter ihnen sind rund 300 Hamas-Mitglieder, aber auch Hunderte Angehörige der Fatah-Partei von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas sowie Mitglieder der Terrorgruppe Palästinensischer Islamischer Jihad.
Zusätzlich soll Israel weitere 1000 Gefangene freilassen, die seit Kriegsbeginn im Gazastreifen festgenommen wurden – allerdings nur solche, die sich nicht am Hamas-Massaker vom 7. Oktober beteiligt hatten.
Rückzug der Armee aus dem Gazastreifen – Rückkehr der Menschen in den Norden
Bild links: Israelische Soldaten blicken am 19. Januar über den zerstörten Gazastreifen. Bild rechts: Nach Beginn der Waffenruhe am Sonntag gehen Hunderte Palästinenser durch die zerstörten Strassen von Gaza Stadt.
Im Rahmen der ersten Phase des Abkommens ziehen sich die israelischen Streitkräfte (IDF) aus allen dicht besiedelten Teilen des Gazastreifens zurück. Sie bleiben jedoch in einer 700 Meter breiten Pufferzone entlang der Grenze des Gazastreifens stationiert. Erst in einer allfälligen zweiten Phase soll ein vollständiger Rückzug der IDF erfolgen.
Die IDF sollen sich in der ersten Phase zudem schrittweise vom sogenannten Netzarim-Korridor zurückziehen, einer stark befestigten Strasse im mittleren Gazastreifen. Derweil werden vertriebene Palästinenser in ihre Heimat im Norden des Gazastreifens zurückkehren können:
- Ab Tag 7: Die IDF ziehen sich von der al-Rashid-Strasse an der Küste zurück. Über diese Strasse können unbewaffnete Palästinenser ohne Inspektion zu Fuss in den Norden zurückkehren. Autos und weitere Fahrzeuge dürfen den Netzarim-Korridor durchqueren, müssen sich aber einer Inspektion durch eine private Sicherheitsfirma unterziehen.
- Ab Tag 22: Die IDF ziehen sich von der Salah-al-Din-Strasse in der Mitte des Gazastreifens zurück. Nun können unbewaffnete Palästinenser auch über diese Strasse in den Norden zurückkehren.
Auch entlang des sogenannten Philadelphi-Korridors, der den Gazastreifen und Ägypten trennt, soll Israel während der ersten Phase seine Truppenpräsenz «schrittweise reduzieren». Gemäss dem Abkommen sollen die IDF am 42. Tag, dem letzten Tag der ersten Phase, mit dem Rückzug aus dem Philadelphi-Korridor beginnen und diesen bis spätestens am 50. Tag abschliessen.
Hilfslieferungen und Grenzöffnungen
Bild links: Lastwagen mit Hilfsgütern fahren in den Gazastreifen. Bild rechts: Eine Ambulanz mit verletzten Palästinensern passiert im November 2024 den Grenzübergang von Rafah.
Die humanitären Hilfslieferungen in den Gazastreifen sollen im Rahmen des Abkommens massiv gesteigert werden. Jeden Tag sollen 600 Lastwagen in das Küstengebiet gelangen, davon mindestens 50 Lastwagen mit Treibstoff. Jeweils 300 LKW sollen in den Norden fahren, wohin in den vergangenen Monaten kaum noch Hilfsgüter gelangt waren und wo die humanitäre Lage katastrophal ist.
Zum Vergleich: In den vergangenen Monaten hatten durchschnittlich weniger als 100 Lastwagen pro Tag den Gazastreifen erreicht. Im Oktober waren die Hilfslieferungen gar auf den tiefsten Stand seit Kriegsbeginn gesunken.
In den ersten zwei Tagen der Waffenruhe gelangten nun laut der Uno bereits mehr als 1500 Lastwagen in das Küstengebiet. Das Abkommen hält fest, dass auch Maschinen zur Beseitigung von Trümmern in den Gazastreifen geliefert werden sollen, ebenso Materialien, um den Betrieb von Spitälern und Bäckereien sicherzustellen. Auch 60 000 Wohnwagen sowie 200 000 Zelte sollen eingeführt werden. In den vergangenen Monaten hatten Hunderttausende Palästinenser in improvisierten Zelten gehaust.
Während der ersten Phase soll auch der Grenzübergang von Rafah wieder geöffnet werden, der seit dem Beginn einer israelischen Offensive auf die südlichste Stadt der Enklave im Mai 2024 geschlossen ist. Sobald alle weiblichen Geiseln auf freiem Fuss sind, dürfen verwundete und kranke Palästinenser sowie täglich 50 verwundete Kämpfer den Grenzübergang für medizinische Behandlungen passieren.
Wie geht es weiter?
Ab dem 16. Tag der ersten Phase sollen die Verhandlungen über die Bedingungen und die Umsetzung der zweiten Phase beginnen, in der es zu einem permanenten Ende des Krieges kommen soll. Es ist allerdings völlig offen, ob diese Gespräche zum Erfolg führen können. Israel wird keine Präsenz der Hamas im Gazastreifen akzeptieren – diese hingegen macht bislang keine Anstalten, ihren Machtanspruch über das Gebiet abzutreten.
Das Abkommen sieht jedoch vor, dass die Verhandlungen auch nach Ablauf der sechs Wochen so lange weitergehen sollen, bis eine Einigung gefunden ist. Dennoch zweifeln viele Beobachter daran, dass es überhaupt zu einer zweiten Phase kommen wird.