Freitag, April 18

Nach der Einigung von Schwarz-Rot für ein künftiges Regierungsprogramm in Deutschland übt die Opposition teilweise ätzende Kritik, während sich die Wirtschaft zurückhaltend gibt. Derweil kündigen erste SPD-Mitglieder an, den Vertrag abzulehnen.

Sie sollten jetzt nicht gleich alles wieder schlecht reden. Darum hatte der CSU-Vorsitzende Markus Söder am Mittwoch gebeten, als Union und SPD ihren Koalitionsvertrag präsentierten. Den Gefallen taten ihm allerdings weder die Opposition im Deutschen Bundestag noch die Wirtschaft. Selbst aus den eigenen Reihen der möglichen künftigen Koalitionspartner kommt Ablehnung.

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Erwartungsgemäss übte die AfD scharfe Kritik an dem möglichen künftigen Regierungsprogramm von Schwarz und Rot. Der Vertrag sei eine «Kapitulationsurkunde» des CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz, sagte die Partei-Ko-Vorsitzende Alice Weidel. Sie warf Merz vor, gegenüber der SPD zu viele Zugeständnisse gemacht zu haben. Die angekündigte Migrationswende sei aufgegeben worden, der Atomausstieg werde nicht revidiert. Gemeinsam mit ihrem Kollegen Tino Chrupalla bemängelte Weidel zudem das Fehlen einer spürbaren Steuerreform.

Auch die Grünen reagierten enttäuscht. Sie monierten das Fehlen konkreter Konzepte für zentrale Zukunftsfragen wie den Klimaschutz, internationale Krisen oder den Reformbedarf in der Renten- und Gesundheitspolitik. Die Partei-Ko-Vorsitzende Franziska Brantner äusserte, «diese Koalition hat Geld wie Heu, aber Ideen wie Stroh».

Die Linke äusserte insbesondere Zweifel an der sozialpolitischen Ausrichtung des Vertrages. Die Partei vermisst Ansätze zur Dämpfung von Wohn- und Verbraucherpreisen sowie Massnahmen zur Stärkung des sozialen Ausgleichs.

Wirtschaft: «Wirksame Medizin, aber auch bittere Pillen»

Aus der Wirtschaft gibt es unterschiedliche Reaktionen. Tim-Oliver Müller, Hauptgeschäftsführer des Hauptverbands der Deutschen Bauindustrie, sagte, ein Verhandlungsergebnis in so kurzer Zeit sei zunächst ein gutes Signal, auf das die deutsche Wirtschaft und Industrie gewartet hätten. Ob mit dem Verhandlungsergebnis auch inhaltlich der Weg für Wachstum, Entbürokratisierung und Vereinfachung eingeschlagen werde, müsse sich jedoch erst noch zeigen.

Auch Jörg Dittrich vom Zentralverband des Deutschen Handwerks zeigte sich abwartend und skeptisch. «Der Koalitionsvertrag enthält wirksame Medizin, aber auch bittere Pillen», sagte er. Vieles könne sich in die richtige Richtung entwickeln. Ob dies aber zu einer echten Wirtschaftswende führe, bleibe abzuwarten.

Auch die Reaktion von Christian Sewing, Präsident des Bundesverbands deutscher Banken, fiel eher kühl aus. Der Koalitionsvertrag enthalte zwar wichtige Impulse für dringend benötigte Strukturreformen – etwa in den Bereichen Arbeitsmarkt, Bürokratieabbau und Steuern. Doch «man hätte sich an der einen oder anderen Stelle noch mehr gewünscht».

Die Stiftung Familienunternehmen bewertete den Verzicht auf Steuererhöhungen positiv, kritisierte jedoch den späten Einstieg in Unternehmenssteuersenkungen. Der Digitalverband Bitkom begrüsste die geplante Gründung eines Digitalministeriums als «überfälligen Impuls für Modernisierung und Wettbewerbsfähigkeit».

Einhelliges Lob kommt derweil aus der deutschen Rüstungsindustrie. Mit dem Bekenntnis zur Schaffung eines mehrjährigen Investitionsplans zur Gewährleistung langfristiger Planbarkeit werde eine wesentliche Erwartung der Branche erfüllt, teilte am Donnerstag der Bundesverband der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie mit. Gleiches gelte für die Zusage, noch im ersten halben Jahr der Regierungsarbeit ein Planungs- und Beschleunigungsgesetz für die Bundeswehr zu beschliessen. Die Branchenvertretung äusserte sich zudem zufrieden mit der Absicht der Koalitionäre , künftig in besonders kritischen Bereichen – wie Munition – mit Vorhalteverträgen und Abnahmegarantien zu arbeiten.

Status quo wird zementiert

Im Gegensatz dazu äusserten sich Wirtschaftsexperten eher zurückhaltend. Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Marcel Fratzscher, sieht im Koalitionsvertrag vor allem einen «Kompromiss, der den Status quo weitgehend beibehält und zentrale Zukunftsfragen unzureichend adressiert.»

Die Wirtschaftsweise Monika Schnitzer beklagte, dass die angekündigte Wirtschaftswende weit hinter den Wahlversprechen zurückbleibe. «Das ist leider kein Wachstumsprogramm.»

Der Verband «Die Jungen Unternehmer» kritisierte die Rentenpläne als ambitionslos. Wieder einmal werde ein stabiles Rentenniveau versprochen – ohne nachhaltige Finanzierung.

Lob und Kritik kommt auch von der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi. Ihr Chef Frank Werneke äusserte sich positiv zur geplanten Stabilisierung des Rentenniveaus, negativ jedoch zur geplanten Änderungen im Arbeitszeitgesetz. «Es ist absolut kontraproduktiv, nun eine wöchentliche anstatt einer täglichen Höchstarbeitszeit als Massstab heranzuziehen. Dies öffnet dem Missbrauch Tür und Tor», sagte er.

Berliner Jungsozialisten wollen Koalitionsvertrag ablehnen

Scharfe Kritik kommt von Amnesty International. Die Einschränkungen beim Familiennachzug sowie geplante Abschiebungen nach Afghanistan und Syrien seien «nicht vereinbar mit den Prinzipien der Menschenrechte», heisst es von der Nichtregierungsorganisation. Auch die Einstellung humanitärer Aufnahmeprogramme stehe im Widerspruch zu den politischen Bekenntnissen der Koalition.

Während die Kritik aus Opposition, Wirtschaft und Nichtregierungsorganisationen durchaus erwartbar war, regt sich nun auch in den Reihen der Koalitionspartner erster Widerstand. So lehnen die Jusos in Berlin den Vertrag von Union und SPD offenbar ab. Die Ko-Landesvorsitzende von Berlin, Kari Lemke, sagte am Morgen im Rundfunk Berlin Brandenburg, bei der parteiinternen Abstimmung werde sie die Einigung ablehnen. Die SPD gebe ihre Identität auf, insbesondere bei der Migration und bei der «Rückabwicklung des Bürgergeldes». Lemke kritisierte etwa die Aussetzung des Familiennachzugs für Migranten, die gegen das SPD-Prinzip der Solidarität verstosse.

Die Jusos sind die Jugendorganisation der SPD. Die Partei will nun ihre gut 350 000 Mitglieder über den Vertrag mit der Union online abstimmen lassen. Lemke sagte, sie spreche nicht nur für sich, sondern für alle Jusos in Berlin.

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