Fed-Chef Jerome Powell kündigt offiziell den geldpolitischen Richtungswechsel an: Statt Bekämpfung der Inflation steht für die US-Notenbank jetzt die Pflege des Arbeitsmarktes im Vordergrund. Die Finanzmärkte erwarten rasche Zinssenkungen. Ist das plausibel?
«In der realen Welt schwanken die Dinge zwischen ‹ziemlich gut› und ‹nicht so toll›, aber an den Finanzmärkten schwankt die Wahrnehmung oft zwischen ‹makellos› und ‹hoffnungslos›.»
Howard Marks, amerik. Value-Investor (*1946)
Vom Beben, das Anfang August die globalen Finanzmärkte erschüttert hat, sind kaum mehr Spuren zu sehen. Wer die vergangenen drei Wochen im Urlaub auf einer einsamen Insel war, könnte denken, im August sei an den Börsen nichts los gewesen.
Viel Lärm um nichts also?
Es wäre falsch, die Ereignisse der ersten Augustwoche zu ignorieren. Beben (oder Vorbeben) dieser Art müssen immer ernst genommen werden. Auch wenn sich der Auslöser der Verkaufswelle nicht kausal erklären lässt – die Zinserhöhung der Bank of Japan; ein enttäuschender Arbeitsmarktbericht in den USA; die Nachricht, dass Warren Buffett die Hälfte seiner Position in Apple verkauft hat –, so gab die Episode doch einen Einblick in eine Frage, die sich die Marktteilnehmer für kurze Zeit wieder akut stellten: Was, wenn die US-Wirtschaft – und mit ihr die Welt – doch in eine Rezession fällt?
Diese Frage beschäftigt Investoren seit mehr als zwei Jahren, seit die US-Notenbank (Fed) das heftigste geldpolitische Bremsmanöver seit mehr als vierzig Jahren eingeleitet hat. Doch erst jetzt, mit der Erwartung baldiger Zinssenkungen, beginnt die eigentlich kritische Phase.
Wir versuchen im dieswöchigen «Big Picture», eine Einordnung vorzunehmen.
Die erste Zinssenkung des Fed sowie eine steiler werdende Zinskurve, die aus einer Inversion kommt: Das sind historisch betrachtet jeweils die Vorboten eines drohenden Abschwungs. Die Details dazu haben wir vor einiger Zeit in diesem Video erläutert:
Selbstverständlich handelt es sich dabei nicht um eine Gesetzmässigkeit, sondern um ein «typisches» Muster, wie es in früheren Zinserhöhungszyklen zu sehen war.
Nun ist es wieder soweit: Die Zinskurve ist zwar immer noch invers – das heisst, die Rendite zweijähriger US-Staatsanleihen liegt höher als die Rendite zehnjähriger Treasuries –, aber die Inversion könnte sich demnächst auflösen.
Wichtig dabei ist die Art und Weise, wie sich die Inversion auflöst: Die kurzfristigen Zinsen sinken (in Erwartung einer baldigen Lockerung der Fed-Geldpolitik) rascher als die zehnjährigen. Man spricht in diesem Zusammenhang von einem Bull Steepener – und genau diese Bewegung war in der Vergangenheit jeweils Vorbote einer Rezession.
An der kommenden Sitzung des Offenmarktausschusses vom 18. September wird das Fed voraussichtlich dem Beispiel anderer westlicher Zentralbanken wie der EZB, der Schweizerischen Nationalbank, der Bank of Canada oder Schwedens Riksbank folgen und den Leitzins, die Fed Funds Rate, senken. Im am Mittwoch publizierten Protokoll der letzten Fed-Sitzung von Ende Juli war zu lesen, dass über den Zeitpunkt dieses Schrittes im Gremium weitgehend Einigkeit herrschte.
Die Rendite zweijähriger Treasury Notes liegt mittlerweile fast 1,5 Prozentpunkte unter der Fed Funds Rate – der Bondmarkt signalisiert damit klar, in welche Richtung sich die Zinsen entwickeln werden.
Pikant ist nun, wie sich an den Terminmärkten bereits eine markante Erwartungshaltung aufgebaut hat: Demnach soll die Fed Funds Rate bis Ende 2024 um fast 100 Basispunkte (Bp) sinken. Bis Ende Jahr tagt der Fed-Offenmarktausschuss aber nur noch drei Mal – am 18. September, am 7. November und am 18. Dezember. Das bedeutet, an mindestens einer dieser Sitzungen müsste das Gremium nicht bloss eine Zinssenkung von 25 Bp, sondern gleich einen «Doppelschritt» von 50 Bp beschliessen.
Ist das plausibel?
Ja – allerdings nur dann, wenn die Fed-Verantwortlichen realisieren, dass die US-Wirtschaft in einen ausgeprägten Abschwung rutscht und in eine Rezession zu kippen droht. Im Szenario einer perfekten sanften Landung ist es unwahrscheinlich, dass das Fed die Leitzinsen derart drastisch kürzt wie gegenwärtig an den Terminmärkten angenommen.
«Be careful what you wish for», möchte man den Marktteilnehmern deshalb zurufen. Hoffen sie tatsächlich auf rasche Zinssenkungen, müsste das fast zwangsläufig auch mit einer schärferen konjunkturellen Abkühlung – einer harten Landung – einhergehen.
Zumindest in den Schätzungen der Analysten zur Entwicklung der Unternehmensgewinne ist von einer Abkühlung aber nichts zu sehen: Die aggregierten Gewinnschätzungen für die Konzerne im S&P 500 für die jeweils nächsten zwölf Monate liegen in einem ungebremst steigenden Trend:
So richtig zusammen passt die Erwartungshaltung der Finanzmärkte deshalb nicht: Deutliche Zinssenkungen vom Fed, und gleichzeitig ungebremst wachsende Unternehmensgewinne.
Mit dieser Ausgangslage werden die Märkte besonders sensibel auf mögliche Enttäuschungen – oder positive Überraschungen – in den Konjunkturdaten reagieren. Die wichtigsten Daten, die sich Investoren vormerken sollten:
- 30. August: PCE-Inflationsrate (Personal Consumer Expenditures)
- 3. September: ISM-Einkaufsmanagerindex (Industriesektor)
- 4. September: JOLTS-Arbeitsmarktbericht
- 5. September: ISM-Einkaufsmanagerindex (Dienstleistungssektor)
- 6. September: Monatlicher Arbeitsmarktbericht (August)
- 11. September: CPI-Inflationsrate (Consumer Price Index)
- 18. September: Fed-Zinsentscheid
Es war das wichtigste Ereignis der abgelaufenen Woche: die Rede von Fed-Chef Jerome Powell am jährlichen Notenbankersymposium in Jackson Hole, Wyoming. Die Marktteilnehmer hingen Powell an den Lippen, als er heute Freitag um 10 Uhr New Yorker Zeit – 16 Uhr in der Schweiz – an das Podium schritt.
In der knapp zwanzigminütigen Rede lieferte Powell offenbar genau das, was die Märkten hören wollten: Der Kampf gegen die Inflation ist so gut wie gewonnen, jetzt ist es an der Zeit, dass sich die US-Notenbank auf ihr duales Mandat besinnt und den Fokus darauf legt, eine allzu starke Abkühlung des Arbeitsmarktes zu verhindern.
«Die Zeit ist gekommen, unsere Politik anzupassen», sagte Powell. «Vom Arbeitsmarkt geht kein Inflationsdruck mehr aus (…) Wir müssen jetzt handeln, um eine weitere Abschwächung des Arbeitsmarktes zu verhindern.»
«Ich bin zuversichtlich, dass es uns gelingt, die Inflation auf den Zielwert von 2% zu bringen und einen starken Arbeitsmarkt zu erhalten», sagte Powell weiter.
In der ersten Reaktion reagierte Wallstreet mit verhaltenem Applaus: Der S&P 500 und der Nasdaq 100 legten im unmittelbaren Nachgang von Powells Rede knapp 1% zu, der Goldpreis 📈 kletterte 1,2%.
Müssten wir die internationalen Finanzmärkte in ihrer Komplexität maximal reduzieren, dann sind es drei Preise, die jeder Investor im Auge behalten muss:
- Die Rendite zehnjähriger Treasury Notes
- Der Ölpreis
- Der Wechselkurs des Dollars
Diese drei Preise zeigen seit dem Frühsommer synchron nach unten. Die Zehnjahreszinsen sind seit Anfang Mai um 80 Bp gesunken…
…der Ölpreis bewegt sich trotz immer neuer Eskalationsszenarien im Konflikt zwischen Israel und Iran tendenziell nach unten…
…und schliesslich ist auch der Dollar, der im ersten Halbjahr mit seiner Härte überrascht hat, in eine Schwächephase getreten. Der handelsgewichtete Dollar-Index (DXY) hat seit Ende Juni mehr als 4% verloren.
Auch hier gilt: Es ist müssig, zu versuchen, diese Bewegungen kausal zu erklären. Aber wichtig ist die Feststellung, dass der Dollar sinkt – was durchaus mit der Erwartung sinkender Zinsen in den USA (sowie den gleichzeitig in horrendem Tempo steigenden Staatsschulden) zusammenhängen kann.
Wichtig dabei ist die Erkenntnis, dass der Dollar nicht bloss sinkt, weil der Yen und der Euro erstarkt sind. Der Greenback hat sich auf breiter Front abgeschwächt. Asiatische Währungen wie der Ringgit (Malaysia), der Baht (Thailand) oder die Rupiah (Indonesien) haben sich seit Ende Juni zum Dollar zwischen 5 und 7,6% aufgewertet:
Selbst das «Carry Trade»-Beben von Anfang August haben die asiatischen Währungen – im Gegensatz zum Mexikanischen Peso – gut überstanden. Das ist für die fraglichen asiatischen Volkswirtschaften ein Zeichen der Stärke, und die Schwäche des Dollars öffnet ihren Zentralbanken den Pfad, weitere Zinssenkungen zu beschliessen. Noch im April sah sich Indonesiens Zentralbank beispielsweise gezwungen, die Zinsen zu erhöhen, um eine Abwertung der Rupiah zum Dollar zu verhindern. Diese Gefahr hat sich mit der Abschwächung des Dollars nun verflüchtigt.
Sollte sich die Schwäche des Dollars in den kommenden Monaten fortsetzen, würde das Rückenwind für die Aktienmärkte in Schwellenländern von Brasilien bis Indonesien bedeuten. Die Aufwertung der Währungen in Malaysia, Thailand, Indonesien und den Philippinen ist, nebenbei bemerkt, auch erfreulich für den Schweizer Expansionsdienstleister DKSH 📈, der den Grossteil seiner Einnahmen in Südostasien erwirtschaftet.
Zum Schluss noch ein kurzer Blick auf die Präsidentschaftswahlen in den USA. Der Parteikonvent der Demokraten in Chicago ist zu Ende gegangen, Kamala Harris und ihr Vize-Kandidat Tim Walz sind von der Partei offiziell nominiert.
Der Wahlkampf geht jetzt in die heisse Phase. An den Wettbörsen liegen Harris und ihr Gegner Donald Trump nahezu gleichauf.
Eine mögliche Veränderung der Ausgangslage könnte sich in den kommenden Tagen ergeben: Gerüchten zufolge soll der bisher unabhängige Kandidat Robert Kennedy Jr. das Rennen aufgeben und Trump seine Unterstützung aussprechen. Kennedy hat ohnehin keine Wahlchancen, aber in Umfragen konnte er bisher immerhin rund 5% der Wählerstimmen für sich beanspruchen. Ein Grossteil dieser Stimmen – besonders in wichtigen «Swing States» wie Arizona – dürfte nach dem offiziellen Ausscheiden Kennedys zu Trump wandern.
Es bleibt also spannend.
Harris fiel diese Woche mit der Ankündigung auf, sie wolle die während Trumps erster Amtszeit beschlossenen Senkungen der Unternehmensgewinnsteuern rückgängig machen – was im Effekt ein Anstieg des Gewinnsteuersatzes von 21 auf 28% bedeuten würde. Ebenso kündigte sie Preiskontrollen an, um «missbräuchliche» Preiserhöhungen von Unternehmen zu bekämpfen und die Krise der Lebenshaltungskosten anzugehen.
Alle diese Ankündigungen sind jedoch mit eine Prise Salz zu geniessen, denn für derartige Gesetzesänderungen bräuchte Harris beide Kongresskammern mit demokratischen Mehrheiten. Das wird an den Wettbörsen sowie in den Umfragen derzeit aber als unwahrscheinlich beurteilt.
Übrigens: Wir werden oft gefragt, welche Aktien profitieren würden, wenn Trump bzw. Harris die Wahlen gewinnt. Von derlei plumpen Prognosen würden wir aber abraten. Ein schönes Beispiel dafür liefert Marko Papic, Geopolitik-Stratege in Diensten der kanadischen Research-Boutique BCA:
Intuitiv würde man wohl sagen, dass Donald Trump besser für Aktien aus dem «dreckigen» Energiesektor (Öl und Gas) war als Joe Biden, nicht wahr? Schliesslich war es Trump, der mit dem Kampfspruch «Drill, Baby, drill» für Deregulierungen im Ölsektor warb, während Biden milliardenschwere Subventionen für erneuerbare Energien beschloss.
Doch wenn man die relative Performance des Energiesektors zum gesamten US-Aktienmarkt betrachtet, war Biden (grüne Kurve) für Öl-Aktien der beste Präsident der vergangenen drei Jahrzehnte. Und Trump (schwarz) war der mit Abstand schlechteste Präsident für den Energiesektor: