Sonntag, Oktober 6

Ausgerechnet im Jahr eins nach der langen Zeit mit dem Trainer Peter Zeidler erreichen die Ostschweizer mit der Ligaphase der Conference League ihren grössten internationalen Erfolg seit 2013. Das hat mit Spielglück und Kitt zu tun – und mit einer Entkrampfung.

Frage an Enrico Maassen, irgendwann in den letzten Wochen. «Es läuft im Moment ziemlich viel für euch, oder?» Die knappe Antwort des neuen Trainers des FC St. Gallen: «Wir tun auch viel dafür.»

Die Ostschweizer begannen die Saison in der Qualifikation zur Conference League, auf unterster Europacup-Stufe. Sie schalteten Tobol Kostanay aus, das Team aus Kasachstan, gegen das sich der FC Basel vor Jahresfrist aus den internationalen Wettbewerben verabschiedet hatte. Sie überstanden in Polen einen epischen Match gegen Slask Wroclaw dank Entscheiden des Videoschiedsrichters, mit Tumulten und einer 25-minütigen Nachspielzeit. Sie gewinnen jüngst bei Trabzonspor im Penaltyschiessen, in der lauten Arena eines stärker eingestuften Widersachers.

Sie zeigen Zusammenhalt, jubeln in der Türkei unbändig im Kollektiv, Matthias Hüppi mittendrin, der Präsident, der vom einstigen Triumvirat übrig geblieben ist. Hüppi, der Sportchef Alain Sutter und der Trainer Peter Zeidler schienen über Jahre wie verkettet. Anfang 2024 musste Sutter gehen, im Sommer zog Zeidler in die Bundesliga nach Bochum weiter. Und jetzt bündelt der Klub Spiel- und Losglück, gewinnt entscheidende Spiele und holt mit der Ligaphase der Conference League das, was ihm in den letzten Zeidler-Jahren verwehrt geblieben ist.

Vom mehrjährigen Triumvirat ist nur noch Hüppi da – Zeidler lief in eine Sackgasse

Internationale (Heim-)Spiele gegen die AC Fiorentina, gegen Vitória Guimarães und gegen TSC (Backa Topola, Serbien) sowie zum Beispiel ein Auswärtsspiel beim Bundesligisten Heidenheim; ein erweitertes Schaufenster für Personal und Geld. Die Startgage beträgt 3,2 Millionen Euro, ein Sieg wird 0,4 Millionen wert sein. Zudem dürfte St. Gallen das Publikum in Scharen anlocken. Da werden sich einige (Zusatz-)Millionen addieren.

Letztmals war der Klub 2013/14 in einer Europacup-Gruppenphase unterwegs. Der Trainer hiess damals Jeff Saibene. Seither lief nicht mehr viel. Der Tiefpunkt war 2018 erreicht, als der norwegische Kleinklub Sarpsborg für die Ostschweizer eine Nummer zu gross war. Jetzt ist im internationalen Teil ein neues Kapitel aufgeschlagen. Zumindest das.

Alain Sutter, über Jahre das sportliche Gewissen im Verein, hatte den Klub zu verlassen, weil er nicht mit dem jetzigen Sportchef Roger Stilz zusammenarbeiten wollte. Zeidler ging, weil Deutschland rief. Und weil es mit ihm in St. Gallen nach sechs Jahren keine Zukunft mehr gegeben hätte. Zu verfahren war die Situation mit der Atmosphäre rund um das Team, zu stur der Trainer, zu argwöhnisch, zu wenig anpassungsfähig, zu planlos in der Vermittlung des Pressings, zu beratungsresistent. Zeidler verlor zusehends den Staff und die Spieler, einen nach dem anderen.

Das überrascht, wenn man bedenkt, wie gut Zeidler ankommt, wie interessant und gewinnend er ist, wie tiefgründig er denkt, aus welcher Schule er stammt. Aber er verlor sich über die Jahre, nutzte sich ab, er, der mit einem Vertrag bis 2027 und allen Vollmachten ausgestattet war.

Was für ihn spricht: Das Team hielt sich auf einem gewissen Niveau, aufgeputscht vom heimischen Publikum. Zudem blieb Zeidler auf seinem Weg. Er liess sich nicht auf Nebenschauplätze ein, blieb berechenbar. Er zog es einfach durch.

Aber eben: Irgendwann würden sich im Fussball die Legendenbildungen verselbständigen, die mit der Realität nicht mehr viel zu tun hätten, sagt ein Kenner der St. Galler Szene. Jeder Trainer macht seine Erfahrungen, jeder verliert Vertrauen in die Umgebung, zum Beispiel, wenn er wie Zeidler den FC Sion erlebt hat.

Die Frage war stets: Was kommt nach Zeidler?

Enrico Maassen wollte andere Meinungen hören

Jetzt heisst es: Der Spass sei zurückgekehrt, die Mannschaft habe einen kontrollierten (Pressing-)Plan, Fehler würden angesprochen. Und es herrsche im Team ein Gefühl der Zusammengehörigkeit. Das ist das, was Hüppi mit seinem Volksklubprojekt will. Möglichst Einigkeit im Kosmos, nicht nur im Stadion und in der gewachsenen Organisation, sondern auch im Team, also dort, wo die Lokomotive zieht.

Das war die Vorgabe. Da greift der neue Sportchef Stilz auf seine langjährigen Erfahrungen in Deutschland zurück und präsentiert den hierzulande unbekannten, erst 40-jährigen Trainer Enrico Maassen. Stilz leitete in Hamburg das Nachwuchszentrum und lief Maassen über den Weg, als dieser bei Drochtersen/Assel in der Regionalliga tätig war. «Er machte eine Wald-und-Wiesen-Mannschaft flott», sagt Stilz heute. Maassen ging zu Rödinghausen – wieder Pressing, wieder Erfolg. Schliesslich rief der Trainerstab von Borussia Dortmund.

2022 kam jene Station, die in Gesprächen vor dem St. Galler Engagement Thema wurde. Maassen coachte Augsburg etwas mehr als ein Jahr, danach folgte die Trennung. In der Ostschweiz beeindruckte, dass sich Maassen zweieinhalb Monate nach der Entlassung mit den Augsburg-Verantwortlichen zu einem Bier traf, etwa mit dem damaligen Sportchef Stefan Reuter. Der Trainer fragte Reuter auch nach dessen Meinung. Was war mit mir? Was denkt ihr? Selbstreflexion, Selbstkritik. Bei sich suchen, nicht auslagern.

Mit Maassen stellt sich der FC St. Gallen neu auf. Änderungen im Staff, Kulturwechsel. Nach einem dank (VAR-)Glück gewonnenen Meisterschaftsspiel sagte der Präsident Hüppi: «Die Dynamik gefällt mir. Es kann guttun, gewisse Dinge neu aufzugleisen. Die Basis dafür wurde in den letzten sechs Jahren gelegt.» Das waren die Zeidler-Jahre. Der Blick in die Augen Hüppis genügt für die Erkennung, wie kompliziert die Lage mit Zeidler am Ende geworden war.

St. Gallen setzt auf Zigi, Quintillà und Görtler

Die Conference League wird den Klub in einer Weise beanspruchen, wie er das in der Ära Hüppi noch nicht kennt. Einstweilen profitiert Maassen davon, dass er die Spieler dank mehr Einsätzen besser bei Laune halten kann. Der FC St. Gallen hat etwas mehr ins Kader investiert als früher und wäre ohne Europacup etwas aufgebläht. Kalkulierbares Risiko. Für den 24-jährigen Ungar Kevin Csoboth etwa wurde laut ungarischen Quellen etwas mehr als eine Million Euro ausgegeben. Die Europacup-Millionen federn ab.

#LG2028!

St. Gallen setzt auf eine erfahrene Achse und hat diese mit langjährigen Verträgen ausgestattet: auf den 27-jährigen Goalie Lawrence Ati Zigi (Kontrakt bis 2027), der das Team gegen Trabzonspor im Spiel hielt. Auf die 30-jährigen, bis 2028 angebundenen Jordi Quintillà und Lukas Görtler.

Abzuwarten bleibt, wozu gerade sie unter der neuen Leitung fähig sind. Mit der Conference League ist in der Meisterschaft nichts gewonnen. Als Maassen drei Gründe für den guten Saisonstart nennen soll, sagte er vor ein paar Tagen: «Mit der Idee, wie wir Fussball spielen wollen, sind wir erstens auf einem guten Weg. Zweitens der Wille der Mannschaft. Und drittens der aussergewöhnliche Zusammenhalt.»

Der Erfolg in Trabzon hat das einstweilen bestätigt.

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