Dienstag, Oktober 8

Immer wieder erleben Singles auf Dating-Portalen einen plötzlichen Kontaktabbruch – selbst nach intensivem Kontakt. Eine Psychologin erklärt, weshalb Ghosting häufiger wird, Daten früher aber trotzdem nicht einfacher war.

Lisa schaut zum x-ten Mal an diesem Tag in ihre Dating-App. «No new messages», steht da. Dabei hatte sich Lisa noch vor wenigen Tagen intensiv mit Alex ausgetauscht. Nun meldet er sich nicht mehr. «Habe ich etwas Falsches gesagt?», fragt Lisa über die App. Doch eine Antwort bleibt aus. Alex meldet sich gar nicht mehr, bis sein Profil plötzlich verschwindet. Lisa wurde geghostet. Schon wieder.

Lisa und Alex sind fiktiv. Das Beispiel zeigt aber, was Tausende auf Dating-Apps und -Portalen erleben, wenn sie sich auf Partnersuche begeben. Ghosting heisst das Phänomen, bei dem Menschen unangekündigt aus dem Kontakt treten. Eine repräsentative Studie im Auftrag der Dating-Plattform Parship zeigt, dass fast die Hälfte der Befragten bereits schlechte Erfahrungen beim Daten gemacht hat – vor allem durch Ghosting.

Betroffene bleiben oft mit nagenden Selbstzweifeln zurück und mit der Frage: «Was habe ich falsch gemacht?» Dania Schiftan ist klinische Sexologin und Psychotherapeutin und berät auch das Dating-Portal Parship. Sie kennt die Probleme bei der Partnersuche und auch das Phänomen des plötzlichen Kontaktabbruchs.

Frau Schiftan, gibt es eine Generation Ghosting?

Es kam immer schon vor, dass Menschen einfach so verschwunden sind, auch in Freundschaften. Neu ist nur der Name, und dass die digitale Welt mehr Möglichkeiten dazu bietet. Es wird auf diesen Plattformen nur offensichtlicher, auch weil man mit mehr Menschen in Kontakt treten kann.

Haben Dating-Apps dieses Phänomen noch verstärkt?

Ja und nein. Mit der Digitalisierung werden viele Kontakte anonymer. Denn über die Apps und Portale kann man leicht hinter eine Maske flüchten. Wie viel man von sich preisgibt, entscheidet jeder selbst. Der Chat-Partner bleibt erst einmal so etwas wie ein Avatar: Es geht vermeintlich nicht um ein menschliches Gegenüber. Das sieht man auch am zunehmend rauen Ton im Netz. Im echten Leben haben die wenigsten Menschen den Mut dazu, gegenüber anderen Menschen extreme oder beleidigende Positionen einzunehmen. Im Internet fühlen sie sich im Schutz der Anonymität aber sicher. Das ist beim Online-Dating auch so.

Was löst Ghosting bei Betroffenen aus?

Manche Menschen nehmen so ein Verhalten leider persönlich: «War ich zu langweilig, bin ich nicht attraktiv genug?» Man geht automatisch davon aus, dass man selbst die Ursache für den Kontaktabbruch war. Wir suchen für negative Erfahrungen eine Erklärung.

Warum?

Beim plötzlichen Kontaktabbruch tun wir das, um abschliessen zu können. Fehlen die Erklärungen, sucht sich die Psyche eben selbst Erklärungen. Daraus entstehen dann Glaubenssätze wie: «Ich bin nicht liebenswert, ich bin nicht genug.» Insbesondere, wenn Betroffene zuvor schon an mangelndem Selbstwert gelitten haben.

Wie können wir damit umgehen?

Indem wir uns in der Haltung üben, dass es nichts mit uns selbst zu tun hat, lernen wir, solche Rückzüge und Ablehnungen auszuhalten. Wir können auch lernen, Vorteile darin zu sehen, dass der Kontakt nicht weiterging. Menschen, die andere ghosten, haben oft Schwierigkeiten, sich mit ihrem Gegenüber auseinanderzusetzen und eigene Bedürfnisse mitzuteilen. Deshalb verschwinden sie lieber. Wichtig ist, die Beziehung für sich selbst definitiv zu beenden und nicht wieder zu versuchen, Kontakt aufzunehmen.

Wie verhindern wir, geghostet zu werden?

Verhindern kann man das fast nicht. Und man sollte sich sogar darauf einstellen, dass es einem passieren könnte. Viel entscheidender ist der Umgang damit. Es hilft aber, während des Chattens achtsam zu sein und zu prüfen, wie sich der Austausch gestaltet. Geht die Unterhaltung zu sehr von mir aus oder engagiert und interessiert sich auch der andere? Wenn man selbst mehr gibt als der andere, sollte man ihn darauf ansprechen.

Jemanden im echten Leben zu ghosten, ist schwieriger. War das Daten früher einfacher?

Früher lernte man sich über Freunde, im Klub, im Sportverein und in der Schule kennen. Dort lief man sich häufig über den Weg, und das Gegenüber war mit jemandem aus dem eigenen Freundeskreis befreundet. Beim Online-Daten sind die Distanzen oft grösser, und es gibt keine direkten Verbindungen. Das macht es leichter, sich zurückzuziehen.

Also war es früher besser.

Nicht unbedingt. Denn es ist für uns immer schon schwer gewesen, mit abgebrochenen Beziehungen umzugehen. Ghosting ist eine feige Form, einer Person aus dem Weg zu gehen. Doch die Leute haben auch früher Wege gefunden, jemanden nicht mehr sehen zu müssen.

Dennoch klagen Nutzerinnen und Nutzer, auf Dating-Plattformen öfter geghostet zu werden. Warum ist das so?

Vor allem auf Gratis-Plattformen gibt es immer noch viele Leute, die aus Neugierde oder aus Langeweile eine Dating-App mit einer Konsumhaltung nutzen. Das ist natürlich verführerisch, die App ist ja immer da. Doch viele Leute wollen nicht bewusst daten.

Aber das würde bei einem Kennenlernen in einer Bar nicht passieren, oder?

Doch, natürlich. Einige Klientinnen in meiner Praxis haben diese Erfahrung häufiger gemacht. Man lernt sich in einer Bar kennen, bleibt aneinander hängen, unterhält sich den ganzen Abend und tauscht am Ende Telefonnummern aus. Und dann kommt das böse Erwachen: Die Nummer stellt sich als falsch heraus. Dann ging es dem Gegenüber eben auch nicht um ein echtes Kennenlernen.

Wessen Profil nicht gleich überzeugt, wird weggewischt. Sind wir beim Dating oberflächlicher geworden?

Es würde sicher nicht schaden, etwas Tempo beim Entscheidungsprozess herauszunehmen. Gleichzeitig entsteht auch mehr Authentizität.

Inwiefern?

Früher gab es ein klares Drehbuch, wie man in eine Beziehung gelangt. Heute sind die Skripte nicht mehr so klar, wie man eine erfüllende Partnerschaft findet. Aber finden kann man sie noch immer. Gerade jüngere Menschen machen sich viel bewusster Gedanken darüber, welches Modell von Kontakt, Dating oder Beziehung am besten zu ihnen passt. Sie werden also auch ein Stück authentischer, bekennen sich bewusst zur Monogamie, einer offenen Beziehung oder dem neuen Trend «Situationship».

Was ist damit gemeint?

Üblicherweise ist es die Übergangszeit zwischen dem ersten Dating und einer festen Beziehung. Also eine Art «Beziehung ohne Verbindlichkeit». Man verhält sich wie ein Paar, hat sich aber nicht – oder noch nicht – festgelegt, in einer festen Beziehung zu sein. Dieser Zustand kann wenige Wochen oder auch mehrere Monate dauern.

Das klingt nach wenig Verbindlichkeit. Sind wir heute eher bereit, allein zu leben?

Nein, das würde ich nicht sagen. Früher wurde von der Gesellschaft einfach erwartet, dass man ab einem bestimmten Alter heiratet und Kinder bekommt. Das ist heute nicht mehr so. Wir Menschen sind aber Herdentiere, wir suchen Nähe, immer. Wir können nicht ohne Kontakte bestehen. Das hat uns die Pandemie eindrücklich gezeigt. Viele Probleme, die wir jetzt haben, sind aus dem Kontaktverlust entstanden.

Bedeuten uns Kontakte digital weniger?

Nicht unbedingt. Es kommt auf die Person an. Wenn zwei Menschen sich bei persönlichen Treffen gut verstehen, dann kann sich daraus etwas entwickeln. Das kann aber auch bei zwei Menschen entstehen, die sich zunächst digital austauschen. Es gibt viele Frauen, denen es leichterfällt, zu schreiben, als im direkten Austausch mit jemandem zu stehen.

Aber fehlt beim Digitalen nicht all das, was wichtig ist, um sich ein Bild vom anderen machen zu können?

Ja: die Mimik, die Gestik, der Geruch des anderen, der Geschmack . . . Wer digital flirtet, sollte sich deshalb möglichst bald verabreden, damit man vom Chat-Partner kein Idealbild entwirft, welches nicht auf ihn zutrifft und dem er im realen Leben gar nicht gerecht werden kann.

Haben wir durch all die digitalen Tools das Dating verlernt?

Jein. Jemand ohne soziale Netzwerke und ohne Smartphone findet es heute schwierig, zu daten. Für Menschen, die Mühe haben, auf andere Menschen zuzugehen, ist die digitale Welt dagegen eine Rettung. Denn dort kommen sie potenziell zu mehr Kontakten als sonst. Online-Dating ist nicht für jeden.

Für wen denn nicht?

Etwa für Menschen, die jedes Mal darunter leiden, wenn ein Kontakt oberflächlich verläuft. Man muss die Spielregeln des Online-Datings verstehen lernen.

Und die wären?

Man muss es spielerischer angehen. Vielleicht findet man nicht den Lebenspartner, dafür aber eine neue Freundschaft. Bei aller Lockerheit sollte man eine gesunde Skepsis beibehalten und die Warnsignale ernst nehmen: Was zu gut klingt, um wahr zu sein, ist es meistens auch. Es hilft, wenn man ausdrücken kann, was einem wichtig ist. Dann kann man auch Nähe übers Schreiben herstellen. Und man sollte sich unbedingt bald treffen und nicht zu viel Zeit in der Phantasiewelt des Chats verbringen.

Zur Person

Dania Schiftan arbeitet als Psychotherapeutin und klinische Sexologin in Zürich. Zudem hat sie als Autorin mehrere Bücher veröffentlicht. Sie ist Podcasterin («Release – Der Therapiepodcast») und Dozentin, unter anderem an der Universität Zürich.

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