Freitag, Januar 31

Res Schmid spricht über gescheiterte Reformen, unleserliche Schülerschriften und das Bedürfnis nach mehr Zwang – wie Handy-Verbote oder verpflichtender Deutschunterricht.

Res Schmid, Sie sind seit 2010 Nidwaldner Regierungsrat und damit der dienstälteste Bildungsdirektor der Schweiz. Gibt es immer noch Sachen, über die sich aufregen?

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In unserem System dauert es ewig, bis man erkennt: Eine Schulreform hat nicht funktioniert. Man weigert sich, das Offensichtliche einzusehen. Viel zu selten werden Reformen mit Fehlentwicklungen rückgängig gemacht oder zumindest markante Anpassungen vorgenommen.

Sie meinen die integrative Schule.

Das integrative Schulmodell ist in der aktuellen Form gescheitert. Die integrative Schule verliert ihren Sinn, wenn das Niveau und die Qualität der Regelklasse wegen der Integration sinken.

Wie kam es zu dieser Entwicklung?

Bevor ich 2010 mein Amt antrat, wurde die integrative Schule eingeführt. Nidwalden war der erste Kanton, der diese Reform vollständig umgesetzt hat. Und obwohl wir seit 2012 sehen, dass zum Beispiel das Leseverständnis massiv abnimmt, hat die Ideologie gesiegt. Die lautet: Chancengleichheit für alle. Das ist sozialethisch wunderbar, aber wenn das Gegenteil eintritt, wenn es einen Kippeffekt gibt, wenn die Leistungen vieler Schüler schlechter werden und die Lehrer an ihre Grenzen kommen: Dann kann es so nicht weitergehen. Darum ist es wichtig, wieder Förderklassen einzuführen, um die Schüler mit besonderen Bedürfnissen und auch Verhaltensauffällige optimal zu unterstützen und zu betreuen. Das entlastet die Klassenlehrer und ermöglicht der Regelklasse, ihre Lernziele zu erreichen.

Warum ist es Ihnen nicht gelungen, diesen Abwärtstrend zumindest in Ihrem Kanton zu stoppen?

Weil ich das leider nicht allein kann. Ich war immer kritisch gegenüber Reformen und habe in meiner Amtszeit keine aus eigenem Antrieb eingeführt. Nun möchte ich korrigieren, was im bewährten Schulsystem kaputtgegangen ist. Die Ideologie, gepaart mit zunehmender Bürokratie: Das ist wie ein Geschwür, das sich langsam immer weiter ausbreitet.

Warum dauerte es so lange, bis die Probleme mit der vollumfänglichen Integration offen thematisiert wurden?

Erfahrene, ältere Lehrer, die noch ein klassisches Lehrerseminar gemacht haben, sagen mir seit über zehn Jahren: Res, wir sehen es wie du, die integrative Schule ist zum Scheitern verurteilt – aber wir können das nicht offiziell sagen.

Warum nicht?

Weil sich die Lehrer generell nicht gerne exponieren, was ich noch verstehen kann. Und viele haben mir auch ehrlich gesagt, dass ich das falsche Etikett auf der Stirn habe.

SVP.

Ja, klar. Als Bildungsdirektor war das lange ein Nachteil. Heute, und darüber bin ich froh, spielt das keine Rolle mehr. Weil die Probleme so gross sind, dass man sie nicht mehr wegen Parteigeplänkel ignorieren kann.

Was sind die grössten Probleme in Nidwalden?

Ich habe schon früh zwei rote Linien definiert. Eine ist für mich der Punkt, wenn es den Lehrern wegen Überlastung verleidet. Das kommt leider häufig vor. Zweitens: Wenn das Niveau der Regelklassen sinkt, weil sich der Unterricht zu sehr um Integration und die sogenannt Verhaltensauffälligen kümmern muss. Das ist heute leider auch der Fall. Die Folgen sind dramatisch. Der Lehrplan 21 ist derart überladen mit Kompetenzen, dass die wichtigsten Dinge, die wirklich wichtigen Grundkompetenzen Lesen, Schreiben, Rechnen darunter leiden und zu kurz kommen. Schweizweit sind wir in Nidwalden im unteren Mittelfeld. Das ist nicht gut genug. Vor allem der negative Trend bereitet mir Sorgen. Das ist die Schuld der Politik, nicht der Pädagogen. Sich das einzugestehen, ist bekanntlich keine Stärke der Politiker.

Welche schulischen Probleme sind auf die Zuwanderung zurückzuführen?

Ich versuche, die Gemeinden zu überzeugen, Integrationsklassen einzurichten. In diesen Klassen würden Schüler aus der Ukraine, Kinder von Asylbewerbern, aber auch die Tochter eines japanischen Ingenieurs, der bei den Pilatus Flugzeugwerken arbeitet, sprachlich so weit gebracht, dass sie nach einer angemessenen Zeit in die Regelklasse wechseln könnten. Man muss den Kindern Zeit lassen. Im Bedarfsfall bis zu einem Jahr.

Wird das nicht als ausgrenzend betrachtet?

Der Widerstand gegen solche Massnahmen nimmt ab. Die Probleme sind einfach zu gross, um so weiterzumachen wie bisher. Als kleiner Kanton haben wir die Chance voranzugehen, aber auch bei uns geht es furchtbar langsam.

Braucht es einen gewissen Zwang, um die Eltern dazu zu bringen, ihre Kinder schon vor der Einschulung auf ein bestimmtes sprachliches Niveau zu bringen?

Wenn es solche Angebote gibt, muss man die Eltern dazu verpflichten können. Schliesslich sind sie freiwillig in die Schweiz gekommen und sollten ihren Kindern den Schulstart nicht verbauen. Wenn es tatsächlich gelänge, auf diese Weise das Sprachniveau zu verbessern, würde das Ruhe in die Klassen bringen.

Der Kanton Nidwalden hat 2015 eine Volksinitiative abgelehnt, die die Abschaffung des Frühfranzösisch gefordert hat. War das ein Fehler?

Die Sprachenvielfalt an der Primarschule ist nach wie vor zu gross. Darunter leidet die Schulsprache, in unserem Fall also Deutsch. Wir müssen eine Sprache wegnehmen und mit den zusätzlichen Lektionen, die wir dadurch gewinnen, Deutsch üben. Lesen und Schreiben. Es wäre allen gedient, wenn wir nicht in der Primarschule, sondern in der Sekundarschule den Französischunterricht intensivieren würden. Aber auch hier ist die Zeit noch nicht reif, eine falsche Reform rückgängig zu machen. Allerdings höre ich inzwischen auch Stimmen der Zentralschweizer Erziehungsdirektoren, die ein Umdenken fordern.

Sind im Kanton Nidwalden Handy-Verbote an Schulen ein Thema?

Das Bedürfnis dafür ist da. Die Bildungsdirektion ist daran, im Hinblick auf den Start des Schuljahres strikte Richtlinien für Handys zu erlassen. Dies auf Antrag der Schulleiter und der Schulpräsidenten des Kantons. Gestützt auf diese Weisungen sollen die Schulen den Gebrauch des Handys nur noch für Notfälle erlauben. Auch in den Pausen soll der Gebrauch des Handys untersagt werden. Die Kinder sollen sich wieder mehr bewegen und spielen.

Und richtig ausdrücken sollen sie sich auch: Sie wehren sich vehement gegen das lautgetreue Schreiben.

Mit diesem Unsinn müssten wir sofort aufhören. Am besten wäre es, wenn die Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) zu diesem Schritt aufrufen würde, auch wenn diese Unterrichtsform noch Teil des von ihr gutgeheissenen Lehrplans 21 ist. Ich wünsche mir, die EDK würde den Mut aufbringen, diesen Fehler zu korrigieren. Und noch eine andere Entwicklung halte ich für sehr problematisch.

Welche?

Wenn ich meine Schulbesuche mache, dann sehe ich in den Heften der Dritt- und Viertklässler, dass viele schreiben wie die . . .

Wie was?

(lacht) Sagen wir es so: Es wird vielerorts überhaupt kein Wert mehr auf eine anständige Handschrift und Darstellung gelegt. Oft ist die Schrift unleserlich. Es wird sowieso nicht mehr verbunden in Schnürlischrift geschrieben, was ich bedaure. Wichtige motorische Fähigkeiten gehen verloren Und eben: diese Fehler. Zum Beispiel wird der Affe in den unteren Klassen noch mit einem f geschrieben. Das ist bedenklich. Aber der Lehrplan 21 sagt ja, dass erst ab der 3. Klasse korrigiert werden soll.

Dürften die Lehrer denn korrigieren, wenn sie wollten – und den Lehrplan ignorieren?

Natürlich! Jeder Lehrer, der das tut, wird von mir dazu ermutigt. Ich wäre sofort dafür dies zu verbieten. Aber es ist noch schwierig, sich als Bildungsdirektor eines Kantons gegen eine nationale Vorgabe durchzusetzen. Aber ich bin dafür, dass dieser Unsinn, und nur so kann man es nennen, sofort aufhört.

Dennoch hat man den Eindruck: Es gibt ständig neue Reformen. Die neuste Modeerscheinung: Abschaffung der Noten.

Mit dieser Entwicklung bin ich nicht einverstanden. Eine Note ist noch immer die fairste aller Bewertungen. Wenn ich mir die heute eingesetzte Soft-Form einer schriftlichen Bewertung ansehe, sehe ich vor allem Nachteile. Für die Lehrer ist der Aufwand erstens massiv höher – und wie diese beim Schüler und den Eltern ankommt und verstanden wird, ist völlig unklar. Jeder versteht eine solche schriftliche Bewertung anders. Nur Noten schaffen Fakten. In Nidwalden haben wir die Noten wieder ab der dritten Klasse eingeführt, nachdem bis zu meinem Amtsantritt erst ab der fünften Klasse benotet wurde. Von mir aus dürfte es auch schon ab der zweiten Klasse sein.

Erleben wir einen Trend, der eine leistungslose Gesellschaft fördert? Bloss keinen Druck. Und auch für das Kind, das im Skirennen den letzten Platz belegt, noch eine Goldmedaille . . .

Ich meine leider ja. Der Trend, jeden Druck zu vermeiden und alle gleichzustellen, ist eine linke ideologische Fehlentwicklung.

Wird diese an den Pädagogischen Hochschulen verbreitet?

Unter anderem. Ein Beispiel: In den Klassen, die von einer Lehrerin mit klaren Regeln geführt werden, ist es ruhig. Wenn Kinder einen Pamir tragen müssen, um sich Ruhe zu verschaffen: Dann ist das alles andere als gut. Ungeführter Unterricht und individuelles Lernen wird den angehenden Pädagogen an den PH aber leider oft als beste Lösung gelehrt. Unverständlich. Hätte ich noch schulpflichtige Kinder, würde ich als Vater ungehalten.

Spüren Sie, dass die Eltern ungehaltener werden?

Ich höre von vielen Eltern, dass sie gar nicht zufrieden sind mit der Art und Weise, wie heute Schule gegeben wird. Sie haben das Gefühl, ihr Kind komme zu kurz und könne seine Fähigkeiten nicht zum Tragen bringen, weil der Unterricht im integrativen System ungenügend ist.

Liegt das an der mangelnden Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer?

Wir stellen fest, dass die frisch ausgebildeten Lehrer häufig überrascht sind, wenn sie in eine Klasse kommen. Sie sind oft überfordert, wenn sie vor einer unruhigen und heterogenen Klasse stehen, in der nicht alles läuft, wie am Schnürchen. Das darf nicht sein!

Wie kann man dem vorbeugen?

Durch einen stärkeren Praxisbezug während der Ausbildung. Die künftigen Lehrer müssen früher und öfter in den Unterricht eingebunden werden, auch wenn sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht allzu viel Hintergrundwissen haben. Die Jungen können von den erfahrenen Lehrerinnen und Lehrern sehr viel lernen, was sie mit aller Theorie niemals erfahren können.

Wird an den Pädagogischen Hochschulen das Falsche gelehrt?

Ich habe zu wenig Fakten, um das mit Sicherheit sagen zu können. Aber ich beobachte in der Bildungspolitik generell, dass man sich in den letzten Jahren im Zweifelsfall für die linken Rezepte entschieden hat. Schule sollte neutral und ideologiefrei sein, ist es aber bei weitem nicht. Das sieht man an der Sexualpädagogik. Da kommen verschiedene Gruppen in die Schule und erzählen, welche diversen Geschlechter es gibt. Das hat in der Schule nichts zu suchen. Das gilt meiner Ansicht nach auch, Entschuldigung, für den ganzen Gender-Unfug. Damit machen wir unsere Sprache kaputt. In Nidwalden wird nicht gegendert. Das habe vor den Nidwaldner Lehrerinnen und Lehrern klipp und klar gesagt.

Wird das auch umgesetzt?

Im Nachhinein habe ich gehört, dass einige dies als Anmassung empfunden haben. Andererseits habe ich Briefe von Lehrern erhalten, die dankbar waren für meine klare Ansage.

Können Sie sich als Bildungsdirektor eines kleinen Kantons überhaupt wehren gegen diese Strömungen?

Die Bildungsdirektoren und die EDK hat sich bisher weitgehend aus dieser Diskussion herausgehalten und die Pädagogischen Hochschulen, gestützt auf die Bildungsfreiheit, machen lassen. Doch wenn man feststellt, dass die Entwicklung in eine falsche Richtung geht, muss man bildungspolitisch eine Korrektur fördern.

Davon ist wenig zu spüren.

Ich bin seit vielen Jahren ein einsamer Rufer in der Wüste. Man hört mir in diesen Gremien zu und lässt mich meine Haltung einbringen. Doch Konsequenzen haben meine Mahnungen nicht, die sich auf zahlreiche Schulbesuche und einen langjährigen engen Kontakt mit Lehrern und Schulleitern stützen.

Nun hat neben Ihrer Partei auch die FDP das Thema Bildungspolitik wiederentdeckt und fordern vehement Korrekturen. Kommt es nun zur Wende?

Ich habe mich sehr darüber gefreut, dass die FDP mit ihrem Papier so stark auftritt und glasklare Forderungen zur Bildungspolitik aufstellt. Endlich sind wir nicht mehr allein, sondern erhalten Unterstützung durch die Freisinnigen. Wir dürfen nun nicht aus falschem Stolz Initiativen und Vorstösse aus der FDP oder der Mitte nicht unterstützen. Vorwärts – egal von wem solche korrigierenden Impulse kommen.

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