Sonntag, Oktober 6

Der ukrainische Staat möchte die Trennung der Ukrainischen Orthodoxen Kirche von Moskau erreichen. Westliche Kirchenvertreter bis hin zum Papst sehen darin eine Verletzung der Religionsfreiheit –und Russland freut sich über die Schützenhilfe.

Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski hat vergangene Woche ein vom Parlament mit grosser Mehrheit beschlossenes Gesetz unterzeichnet, das die Tätigkeit der Russischen Orthodoxen Kirche in der Ukraine untersagt. Hintergrund ist die Tatsache, dass der russische Patriarch Kirill seit Jahren als Sprachrohr der Kreml-Propaganda wirkt und Putins Krieg gegen die Ukraine zu legitimieren versucht. Im März 2024 hat eine von ihm geleitete kirchliche Organisation, das Weltkonzil des Russischen Volkes, die «militärische Spezialoperation» gar als Heiligen Krieg bezeichnet und der Ukraine das Recht auf Eigenstaatlichkeit abgesprochen. Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, dass die Ukraine dieser Propaganda einen Riegel schieben will.

In Lettland wurde schon im September 2022 ein solches Gesetz erlassen, worauf sich die Lettische Orthodoxe Kirche ganz ohne Protest und ohne den Vorwurf, der Staat verletze damit die Religionsfreiheit, für unabhängig vom Moskauer Patriarchat erklärte. In Estland wurde soeben ein analoger Beschluss gefasst. Im Falle der Ukraine ist nun aber die Aufregung gross. Meist ist von einem «Verbot» oder einer «Liquidierung» der Ukrainischen Orthodoxen Kirche (UOK) die Rede. Diese Kirche, lange Zeit die grösste der Ukraine, gehörte früher in autonomer Form zum Moskauer Patriarchat. Unter dem Eindruck der Rechtfertigung des Krieges durch Patriarch Kirill hatte sie sich jedoch bereits im Mai 2022 losgesagt und ihre Selbständigkeit erklärt.

Doppelspiel des Kiewer Metropoliten

Doch wenn dies so ist, warum sollte dann die Ukrainische Orthodoxe Kirche durch ein Gesetz, das die Tätigkeit der russischen Kirche in der Ukraine untersagt, vernichtet werden? Viele Ukrainer halten die Unabhängigkeit der UOK für ein blosses Lippenbekenntnis und vermuten, dass die Kirche weiterhin enge Beziehungen zum Moskauer Patriarchat unterhält. Dafür spricht, dass dieses nach wie vor die UOK als eine ihr unterstehende Teilkirche betrachtet und in seinen kirchlichen Jahrbüchern sämtliche Bischöfe als Bischöfe des Moskauer Patriarchats aufführt.

Das Oberhaupt der UOK, Metropolit Onufri von Kiew, ist nach dem Patriarchen das ranghöchste ständige Mitglied des Heiligen Synods, des obersten Leitungsgremiums in Moskau. Onufri hat zwar seit Kriegsbeginn nicht mehr an Sitzungen in Moskau teilgenommen, aber seinen Austritt aus dem Synod hat er auch nicht erklärt, geschweige denn Protest gegen seine Einreihung in die Moskauer Hierarchie erhoben. Auch von anderen ukrainischen Bischöfen ist solches nicht bekannt.

Hinzu kommt, dass die ukrainischen Behörden gegen mehr als hundert Kleriker der UOK Untersuchungsverfahren wegen Kollaboration mit Russland oder Rechtfertigung des russischen Angriffskriegs eingeleitet haben. In mindestens 26 Fällen kam es zu einer gerichtlichen Verurteilung. Von diesen schwarzen Schafen in den eigenen Reihen hat sich die Kirche nicht distanziert. Misstrauen schürt ferner die Tatsache, dass Metropolit Onufri und weitere hohe Kleriker auch die russische Staatsbürgerschaft besitzen oder besassen, dies aber meist erst dann zugaben, wenn entsprechende Belege veröffentlicht wurden.

Staatliche Anerkennung leicht möglich

So wird mit dem neuen Gesetz von der UOK nur eine konsequente Umsetzung dessen verlangt, was die Kirche 2022 selber beschlossen hat. Nichts anderes sei die Bedingung für eine staatliche Anerkennung dieser Kirche, erklärte der Leiter der für Religionspolitik zuständigen Behörde in Kiew, Wiktor Jelenski. Um nicht unter die Bestimmungen des neuen Gesetzes zu fallen, reiche es aus, wenn die UOK erstens offiziell den Rückzug ihrer Amtsträger aus der Bischofssynode sowie aus allen anderen Gremien des Moskauer Patriarchats erkläre und zweitens den anderen orthodoxen Kirchen mitteile, sie sei nicht mehr länger Teil dieses Patriarchats. Die Ukraine fordere von der UOK auch keine Vereinigung mit der 2019 gegründeten, Moskau-kritischen Orthodoxen Kirche der Ukraine, sondern würde sie als eigenständige Kirche anerkennen.

Diese Forderungen scheinen leicht erfüllbar, und ein Austritt aus den besagten Moskauer Gremien wirkt längst überfällig. Sollte die UOK nicht selbst ein Interesse daran haben, dass in ihren Kirchen nicht Putins imperialistische Ideologie einer «Russischen Welt» propagiert wird? Die übrigen ukrainischen Kirchen, darunter die griechisch-katholische und die römisch-katholische, sehen das so und unterstützen das neue Gesetz. «Die Hauptbedrohung der Religionsfreiheit», so erklären die Vertreter dieser Kirchen, sei «die russische Aggression, infolge deren Dutzende Kleriker von den Besetzern getötet und mehrere hundert Kirchen zerstört wurden».

Doch ausserhalb der Ukraine formiert sich eine bemerkenswerte Allianz zwischen Rom, Genf und Moskau. Kirchenführer aller drei grossen Konfessionen verurteilen das neue Gesetz und erklären es zu einem Versuch, die UOK zu zerstören. Auch Papst Franziskus schloss sich jüngst dieser Einschätzung an und mahnte, keine christliche Kirche dürfe direkt oder indirekt verboten werden. Der Ökumenische Rat der Kirchen spricht gar von einer «Kollektivbestrafung einer ganzen religiösen Gemeinschaft» und von einem Verstoss gegen die Glaubensfreiheit.

All das ist Wasser auf die Mühlen des Moskauer Patriarchats, das behauptet, durch das neue Gesetz würden Millionen von orthodoxen Gläubigen in die Illegalität getrieben. Das Ausmass der staatlichen Verfolgung sei vergleichbar mit der «atheistischen Repression in der Sowjetunion». Dagegen spricht allerdings schon, dass das Gesetz selbst explizit festhält, es dürfe keine Bestimmung des Gesetzestexts im Sinne einer Einschränkung der Religions- und Glaubensfreiheit interpretiert werden.

Mehr als 10 000 Gemeinden als eigene juristische Personen

Untersagt wird nur die Tätigkeit ausländischer religiöser Organisationen in der Ukraine, welche die russische Aggression unterstützen und die neoimperialistische Ideologie der «Russischen Welt» verbreiten. Es geht also mitnichten um ein generelles Verbot der UOK, sondern um eine klare organisatorische, kirchenrechtliche und politisch-ideologische Trennung vom Moskauer Patriarchat. Im Übrigen wäre ein generelles Verbot der UOK juristisch gar nicht möglich, da die Gemeinden einzeln registriert sind und der Staat somit mehr als 10 000 Verbotsverfahren durchführen müsste, was Jahre dauern würde.

Die entscheidende Frage ist, ob die betroffene Kirche bereit sein wird, sich vollständig vom Moskauer Patriarchat zu lösen. Der Leiter ihrer Informationsabteilung, Metropolit Kliment, hat in seinen ersten Äusserungen nicht gerade diesen Eindruck erweckt. Stattdessen vertrat er die Auffassung, den Urhebern dieses Gesetzes gehe es weniger um die Kirche selbst als vielmehr um deren Besitz. Dies erinnere ihn an die Zeiten der Sowjetunion, als die atheisti­schen Machthaber per Dekret die Konfiszierung kirchlichen Eigentums und die Entrechtung der Kirche verfügt hätten. Diese Argumentation lässt gerade nicht erkennen, dass sich die Leitung der UOK von der Moskauer Kirchenleitung distanziert.

Wird die Kirche, die seit 2022 erheblich an Mitgliedern verloren hat, an dieser Linie festhalten? Im Unterschied zur bischöflichen Hierarchie lassen sich an der Basis auch andere Stimmen vernehmen. So haben in den letzten Tagen mehr als 400 Priester an Metropolit Onufri appelliert, ein weiteres Konzil einzuberufen, um alle noch existierenden Verbindungen zur Russischen Orthodoxen Kirche zu beenden. Doch der Metropolit weigert sich, auch nur eine Abordnung dieser Gruppe zum Gespräch zu empfangen. Sollte sich die Kirchenführung nicht bewegen, werden die Gläubigen mit den Füssen abstimmen. Die seit 2019 mit der UOK rivalisierende Orthodoxe Kirche der Ukraine hat jedenfalls schon angekündigt, Kleriker und Gläubige gerne bei sich aufzunehmen.

Reinhard Flogaus ist Theologe, Experte für Ostkirchenkunde und Privatdozent an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin.

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