Montag, November 25

Für Long Covid gibt es bis heute keine wirksamen Therapien. Sogenannte Body-Maps helfen, das Erleben der Betroffenen besser zu erfassen und damit das Krankheitsverständnis zu vertiefen.

Long Covid hat das Leben von Millionen von Menschen weltweit verändert. Doch wirksame Therapien gibt es bis heute keine. Die Medizin kann den Patienten derzeit nur bedingt weiterhelfen. Um das Krankheitsverständnis zu vertiefen, braucht es deshalb Ideen aus anderen Fachgebieten. Neue Perspektiven eröffnen sich nun aus den Sozialwissenschaften, und zwar aus der Humangeografie.

Gewöhnlich analysieren Geografen, wie Ereignisse oder Phänomene auf lokaler, regionaler und internationaler Ebene zusammenhängen. «In der Humangeografie sprechen wir aber häufig über den Körper als ersten Massstab», sagt die Geografin Maaret Jokela-Pansini, die mit den Universitäten Zürich und Oxford assoziiert ist. «Alles, was uns widerfährt, erleben wir durch unseren Körper.»

Das gilt auch für Krankheiten. Wie wir eine Krankheit erleben, die damit verbundenen Schmerzen, Emotionen, aber auch unsere Resilienz, hängt vom Kontext ab. Ein 85-jähriger Grossvater in Zürich wird eine Krebsdiagnose anders auffassen als eine 35-jährige Mutter in Bangladesh.

Alter, Geschlecht und sozioökonomische Faktoren spielen für das Erleben von Krankheit ebenso eine Rolle wie die Umweltbedingungen, das Gesundheitssystem oder die gesellschaftlichen Wertevorstellungen, die stets auch einem Wandel unterworfen sind. «Wenn wir über Gesundheit nachdenken, müssen wir immer auch Raum und Zeit einbeziehen», sagt Jokela-Pansini.

Das gilt für Menschen mit Long Covid ganz besonders. Sie sind in ihrem Alltagsleben stark beeinträchtigt, wegen ihrer Symptome haben sie aber zugleich Mühe, sich einem zuweilen skeptischen Umfeld adäquat mitzuteilen. Die Erfahrungen der Patienten gehen also weit über ihre körperlichen Beschwerden hinaus. Das Krankheitserleben in seinen vielen Dimensionen besser zu erfassen, ist eines der Ziele von Jokela-Pansini.

Eine Art von Storytelling

Bei ihrer früheren Forschung war die Geografin auf das sogenannte Body-Mapping gestossen, eine Methode, die in den Sozialwissenschaften und der medizinischen Forschung, etwa bei Trauma- und chronischen Schmerzpatienten, schon seit einiger Zeit zur Anwendung kommt. Es handelt sich dabei um eine Art «alternative Kartografie», bei der die Patienten zunächst körpergrosse Umrisse ihres Körpers auf ein grosses Blatt zeichnen. Anhand von Fragen gestalten sie dann ihre persönliche Körperkarte.

Jokela-Pansini hat im vergangenen Jahr zusammen mit Beth Greenhough an der Universität Oxford das Projekt «Visualising Long Covid» gestartet und acht Workshops mit Long-Covid-Patientinnen veranstaltet. Dabei sollten sich die bisher ausschliesslich weiblichen Teilnehmer an folgenden Fragen orientieren: Wie erlebten sie ihre Gesundheit vor der Erkrankung? Wie wirkt sich diese auf ihren Alltag aus? Welche Unterstützung haben sie? Wie hat Long Covid ihr Selbstbild verändert? Was könnte ihr Leben verbessern?

«Beim Body-Mapping geht es ums Storytelling», erklärt die Geografin. Jede Patientin erlebe die Krankheit auf andere Art, wobei es auch wiederkehrende Motive gebe. So verwendeten bei den Workshops mehrere Teilnehmerinnen Schattenbilder von Personen. «Die Betroffenen erklärten, dass sie sich wie ein Schatten dessen fühlten, was sie einmal gewesen seien.» Der Schatten verkörpere zugleich die zeitliche Dimension. «Die Betroffenen hatten das Gefühl, in einer anderen Zeit zu leben. Alle anderen waren weitergezogen, doch sie waren in der Pandemie stehengeblieben.»

Meist beginnen die Patientinnen entweder mit ihrem Kopf oder ihrem Herz. Oft verwenden sie auch Fotos oder Zeitungsausschnitte, denn diese können das Erleben zuweilen besser ausdrücken. «Menschen mit Long Covid haben oft Schwierigkeiten, sich mitzuteilen, sei es wegen ihrer Symptome oder einfach, weil ihnen die Worte fehlen, um zu beschreiben, wie sie sich wirklich fühlen», sagt Oonagh Cousins, die an einem der Workshops teilnahm.

Cousins ärgert sich zum Beispiel über das Wort «Fatigue», das zur Beschreibung der Folgen von schweren Krankheiten wie Covid oder Krebs verwendet wird. Das klinge wie Müdigkeit, dabei sei Long Covid eine «tiefe Krankheit». «Es fühlt sich an wie der schlimmste Kater deines Lebens, kombiniert mit der schlimmsten Grippe deines Lebens. Dein Gehirn und dein ganzer Körper, alles fühlt sich sehr, sehr schwach und fragil an. Du bist nicht mehr du selbst.» Das Gleiche gilt für den Begriff «brain fog», auf Deutsch «Hirnnebel», der eine flauschige, wohlige Konnotation hat. Er trifft nicht annähernd, wie lähmend die kognitiven Symptome tatsächlich sein können.

Trauer um das nicht gelebte Leben

Body-Mapping gebe den Betroffenen die Möglichkeit, sich zu öffnen und ihre Krankheitserfahrungen in einer sicheren Umgebung zu kartografieren und zu teilen, erklärt Cousins. «Wie fühlt sich das Symptom an? Ist es im Bauch, im Herz oder in den Armen? Ist es rot, ist es orange, ist es weich? Wie fühlt es sich an, nicht ernst genommen zu werden? Wo auf dem Körper würde man das zeichnen?»

Oonagh Cousins ist heute 29 Jahre alt. Sie hatte sich gerade für das olympische Ruderteam von Grossbritannien qualifiziert, als sie im März 2020 an Covid erkrankte und anschliessend Long Covid entwickelte. Die Krankheit zwang sie, ihre Sportkarriere aufzugeben. Das tat weh. Aber es war nicht das Schlimmste. Weit schmerzhafter war es, zuzusehen, wie die Jahre an ihr vorbeizogen.

«Die Zeit Mitte zwanzig hätte eigentlich die beste Zeit meines Lebens sein sollen. Doch ich habe sie zu Hause verbracht und darauf gewartet, dass die Symptome verschwinden. Es waren nicht Wochen, nicht Monate, es waren Jahre – Zeit, die ich nie mehr zurückbekomme.» Es ist die Trauer um das nicht gelebte Leben. «Dinge, die ich hätte tun können, Menschen, die ich hätte treffen können, Erfahrungen, die ich hätte machen können.»

Immerhin hatte Cousins als Sportlerin das Glück, dass ihr niemand unterstellte, sie denke sich ihre Krankheit aus, sie sei im Grunde nur faul. «Mir wurde eine Glaubwürdigkeit zugestanden, die andere Leute nicht haben. Das verändert das Erleben der eigenen Krankheit massiv.» Cousins geht es schon viel besser, vollständig erholt hat sie sich aber nicht. Trainieren oder Vollzeit arbeiten kann die Biologin immer noch nicht, ohne Symptome auszulösen. «In einem kranken Körper zu leben, ist sehr, sehr schwierig.»

In Zusammenarbeit mit Long Covid Schweiz sollen im kommenden Jahr Body-Mapping-Workshops in der Schweiz organisiert werden. Ein in Oxford zusammen mit Long Covid Support entwickeltes Online-Tool wird es zudem ermöglichen, das Angebot für Personen zugänglich zu machen, die aufgrund ihrer Krankheit nicht in der Lage sind, physisch teilzunehmen.

Schnellere und bessere Kommunikation

Doch kann dieses Verfahren das Leben der Teilnehmenden erleichtern? Könnte es im Gesundheitssystem einen Beitrag leisten? Den Behandlungserfolg beeinflusst das Body-Mapping nicht, heilende Therapien für Long Covid sind noch nicht in Sicht. Jokela-Pansini erzählt aber von einer Teilnehmerin, die ihre Körperkarte zum Arzttermin mitbrachte und sagte: «Das bin ich.»

So gesehen, könnten Body-Maps helfen, in den wenigen zur Verfügung stehenden Minuten Informationen schneller zu vermitteln und damit die Kommunikation mit den Ärzten und dem Umfeld zu verbessern. Das Verfahren bietet zudem einen Raum, sich mit anderen Betroffenen auszutauschen.

Wertvoll ist das Body-Mapping aber auch wegen der qualitativen Information. «In der naturwissenschaftlichen Forschung versucht man stets zu standardisieren und allgemeingültige Aussagen zu machen», sagt Chantal Britt, Mitgründerin und Präsidentin von Long Covid Schweiz. Doch die Realität von Long-Covid-Patienten lasse sich oft nicht so standardisieren, wie wir das gerne hätten.

«Das Bundesamt für Gesundheit kam zum Beispiel jüngst zur Erkenntnis, dass die Versorgung von Long-Covid-Patienten in der Schweiz adäquat sei, weil es vierzig Sprechstunden gebe. Doch das entspricht in keiner Weise dem Empfinden der Betroffenen», so Britt. Die Anzahl Sprechstunden sage leider nichts über die Qualität der Behandlungsangebote aus.

Gerade bei Krankheiten, bei denen quantitative Ansätze derzeit fehlten, müsse man andere Wege finden, um das Erleben der Betroffenen zu erfassen. «Qualitative Aussagen, wie sie das Body-Mapping bietet, könnten es ermöglichen, bei manchen Betroffenen eine Entwicklung auszumachen oder zu erkennen, wo Anpassungen im System sinnvoll sind», sagt Britt.

Die medizinische Forschung verändert sich, heute bringen Patienten vermehrt ihre Sichtweise und ihre Erfahrungen ein. Und nicht nur sie: Historikerinnen, Anthropologen, Geografinnen, Mediziner und sogar die künstliche Intelligenz liefern jeweils unterschiedliche Sichtweisen auf Long Covid. «Es sind verschiedene Perspektiven auf die gleiche Krankheit», sagt Jokela-Pansini. Dies untersuche man auch in der Gesundheitsgeografie, einem Teilgebiet der Humangeografie, die den Menschen als Teil eines grösseren Gesamtzusammenhangs begreift.

Die Verknüpfung der verschiedenen Ebenen ermöglicht ein umfassenderes Krankheitsverständnis. Und die Geografie könnte hierbei durchaus eine Rolle spielen, sagt Jokela-Pansini. «Wir stehen zwischen den Sozial- und den Naturwissenschaften, wir verstehen beide Welten und könnten eine Art Übersetzer sein.»

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