Freitag, September 27

Im klammen Berlin gibt es ein Gezerre um die Sanierung der Komischen Oper. Sogar ein Baustopp stand zur Debatte. In dieser ungewissen Lage stemmt das Haus Händels «Messias», szenisch monumental, im ehemaligen Flughafen Tempelhof.

Kurz vor Mitternacht kommt die Nachricht: Berlins Kultursenator Joe Chialo habe soeben erklärt, ein Baustopp für die Komische Oper komme nicht infrage. Ähnliches hatte er zuvor in einem Rundfunkinterview angedeutet. Doch jetzt, unmittelbar nach der Premiere und unter dem frischen Eindruck von Händels «Halleluja», intoniert von rund vierhundert Chorsängern, verteilt auf 1200 Quadratmeter Spielfläche, wird der Senator plötzlich poetisch: Niemand, sagt er, werde «die Axt an das Herzstück dieser Stadt legen».

Arm, aber sexy: Dieser Slogan passt zu Berlin nach wie vor. Da ist es viel wert, wenn ausgerechnet die Komische Oper zu einem sakrosankten «Herzstück» aufrückt. Schon im sogenannten Berliner Opernstreit nach der Wiedervereinigung wäre dieses kleinste der drei Musiktheater in der deutschen Hauptstadt beinahe einkassiert worden. Zurzeit ist der historische Bau zwischen der Behrenstrasse und dem Boulevard Unter den Linden eingerüstet, die Kosten der laufenden Sanierung werden auf etwa 480 Millionen Euro geschätzt.

Durch eine Indiskretion, zu der es in der Kantine des Abgeordnetenhauses gekommen sein soll, erfuhr die Öffentlichkeit im Juli, dass geplant sei, diese Baustelle stillzulegen. Nur vorübergehend, wie es hiess. Selbst dann würde das Projekt aber täglich nur noch teurer – ein feiner Stoff für eine neue Operette. Dass damit aber erneut auch die Abschaffung des Hauses wieder in den Bereich des Denkbaren gerückt wurde, ist alles andere als komisch.

Himmlische Heerscharen

Bereits vor einem Jahr ist die Oper, die auch einmal vom heutigen Zürcher Intendanten Andreas Homoki geleitet wurde, ins Schillertheater umgezogen; es hatte zuvor schon der Lindenoper als Interim gedient. Bespielt werden seither auch andere Ausweichquartiere, etwa einer der beiden stillgelegten Berliner Flughäfen. Tempelhof bietet, ausser reichlich Platz, ein Industrie-Ambiente mit viel Patina, historische Altlasten aus der NS-Zeit und schicke Rosinenbomber.

So ein Ambiente ist auch für Nicht-Operngänger attraktiv. Im vorigen Jahr liess der Regisseur Tobias Kratzer hier im Hangar 1 einen künstlichen See implantieren, für die Veroperung des Oratoriums «Das Floss der Medusa» von Hans Werner Henze. Zur diesjährigen Spielzeiteröffnung hat Damiano Michieletto im Hangar 4 den «Messias» von Georg Friedrich Händel inszeniert. Auch ein Oratorium – und eines der populärsten Werke der Musikgeschichte.

Schon zur Zeit der vormärzlich-politisch motivierten Musikfestbewegung wurde der «Messias» in gigantischen Besetzungen aufgeführt, mit mehr als tausend Laiensängern. Im Hangar 4 sind es deutlich weniger, doch nicht weniger als acht Berliner Laienchöre haben hier mit den rund fünfzig professionellen Chorsängern der Komischen Oper zusammengefunden. Sie und der Chordirektor David Cavelius haben in den Proben offenkundig ganze Arbeit geleistet: Unmittelbar präsent und punktgenau wirken diese Chöre, trotz Mikrofonierung, ungeachtet auch der erheblichen Distanzen untereinander und zum Orchester. Selbst der mörderische Nachhall und akustische Unschärfe-Relationen, wie sie in einer Halle wie dieser unvermeidlich sind, spielen bald kaum noch eine Rolle.

Der Dirigent George Petrou, erfahren in historisch informierter Aufführungspraxis, leistet sich schnelle Tempi und variable Dynamiken. Die vier Solisten kommen damit bestens zurecht. Auch von den Chören verlangt Petrou entschieden exakte Artikulation, fast nichts läuft ihm aus dem Ruder. Zwar wirken die Akteure auf der weiss lackierten Riesenspielfläche, von den steil ansteigenden Tribünen aus betrachtet, manchmal etwas verloren oder gar verlegen. Wie sie da gruppenweise die Arme heben oder sich zusammenfalten auf blankem Boden, erinnert das an eine Eurythmie-Darbietung beim Waldorfschulfest.

Zudem wird viel gerannt. Aber es wird auch ausgezeichnet gesungen. Mitten im Weihnachtsgeschehen, im Chorjubel «For unto us a Child is born», geht draussen auf dem Tempelhofer Feld ein Feuerwerk los – mehr oder weniger zufällig wird an diesem Premierentag das jährliche Drachenfest gefeiert. Der Lärm macht Händel akustisch heftig Konkurrenz. Doch durch die hohen Milchglasfenster des Hangars blitzt und leuchtet es, rot-golden. Das müssen wohl, so denkt man, die himmlischen Heerscharen sein.

«Oberammergau light»

Allerdings klaffen die Bibeltexte und das, was die Regie zeigt, weit auseinander. Der «Messias» hat eigentlich keine theatrale Handlung. Mit einer Kompilation aus Altem und Neuem Testament berichtet das Werk vom Leben und Wirken Christi, von der Verkündigung bis zur Auferstehung. Die Chorsätze sind oft meisterhaft mit den Soli verflochten. Zusammen bilden die Sänger die Menschheit ab, individuell und in Gemeinschaft, wenn sie den Allmächtigen anrufen, den «King of Glory» fürchten und den «Prince of Peace» preisen. Michieletto collagiert das biblische Geschehen indes mit einer eigenen Handlung.

Angeregt von einer Zeitungsnotiz, erzählt er die wahre Geschichte der Brittaney Maynard, einer jungen Amerikanerin, die nach der Krebsdiagnose nur noch wenige Monate zu leben hat und den ärztlich begleiteten Freitod wählt – was einen medialen Shitstorm auslöst. So steht es im Programmheft zu lesen. Die Koinzidenz zum ersten Einsatz der Suizidkapsel in Schaffhausen ist unheimlich, aber Zufall. Was man live auf der Bühne sieht, gleicht ohnehin mehr einem «Oberammergau light».

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Eine Schauspielerin (Anouk Elias) rennt händeringend herum. Die Chöre halten ihr Protestplakate entgegen. Die Sopranistin (Julia Grüter) schiebt sie, in weissem Arztkittel, durch einen Computertomografen. Der Tenor (Julien Behr) hält sie, er mimt ihren Ehemann. Der Bassist (Tijl Faveyts) und die Altistin (Rachel Wilson) sitzen, als ihre Eltern, mit ihr am Küchentisch. Am Ende umarmt die Frau einen Baum oder vielmehr einen Lorbeer im Blumentopf – und geht, einen Papierdrachen mit sich führend, hinaus aufs Tempelhofer Feld, ins Scheinwerferlicht.

All das kann man schnell vergessen. Und sich denken: Es ist doch wirklich ein Kreuz mit der Bibel auf der Bühne. Oder sich erinnern, wehmütig, an die erste Opernfassung des «Messias», die Achim Freyer anno 1985 quasi nebenan in der Deutschen Oper realisierte. Abstrakt, archaisch verfremdet. Brote mit Augen, Engel mit Schwertern, der Tod mit Propeller. Lauter Rätselbilder, die sich ins Gedächtnis gruben.

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