Die schonungslosen Kurzgeschichten des amerikanischen Autors gehören zum Besten, was die amerikanische Literatur zu bieten hat. Seine neusten Texte führen samt und sonders ins Verderben.

Zu den Lichtgestalten der amerikanischen Short Story gehört seit längerem der 1958 in Texas geborene Schriftsteller George Saunders. Der studierte Geophysiker, der relativ spät zum Schreiben kam, brilliert seit Mitte der 1990er Jahre mit Kurzgeschichten, was ihn nicht daran hinderte, 2017 kurz das Genre zu wechseln und mit dem kühnen Friedhofsroman «Lincoln im Bardo» sofort den Pulitzer-Preis einzuheimsen.

In seinem neuen Erzählungsband «Tag der Befreiung» zeigt Saunders von der ersten Seite an, warum ihm inzwischen ein legendärer Ruf vorauseilt. Neun Geschichten sind hier versammelt, die sich auf keinen Nenner bringen lassen und souverän von realistischen Settings in magisch-dystopische Räume wechseln. Die unerbittliche, schonungslose Art und Weise, mit der diese Texte unsere Gegenwart auseinandernehmen oder in eine Zukunft potenzierter Trostlosigkeit verlängern, ist ohnegleichen.

Brutales Regime in den USA

Bereits die Auftakterzählung «Liebesbrief» kennt kein Erbarmen. Sie tarnt sich als das besorgte Schreiben eines Grossvaters an seinen Enkel Robbie und ist unserer Zeit offenkundig um nur wenige Jahre voraus. Die Vereinigten Staaten haben sich in einen faschistischen Unrechtsstaat verwandelt, in dem abweichende Meinungen von den «Loyalisten» an der Macht umgehend sanktioniert werden.

Gegen dieses Regime zu protestieren erscheint vielen als sinnlos, und so flüchten sich Robbies Grosseltern in eine Resignation, für die das persönliche Wohlergehen über allem steht. Freunde ihres Enkels sind in schwere Bedrängnis geraten, und da dieser mit dem Gedanken spielt, sich für sie einzusetzen, fühlt sich der Grossvater genötigt, zu «Diskretion und Umsicht» aufzurufen. Zu spät sei es, gegen die Machthaber aufzutreten, das hätte man früher tun müssen, und so bleibt eine Kleinmütigkeit, auf die diese Machthaber setzen.

George Saunders’ Herz schlägt in vielen seiner Storys für die Aussenseiter, die Marginalisierten der Gesellschaft, die freilich deshalb nicht automatisch zu angenehmen, tugendhaften Zeitgenossen werden. In «Muttertag» etwa treffen zwei Frauen, Alma und Debi, aufeinander, die sich seit der Jugend kennen. Freundinnen waren sie nie, und Freundinnen werden sie auch keine mehr werden. Das Wiedersehen löst so keine schönen Gefühle aus. «Du liebe Güte. Sah die aber alt aus», lautet Almas erster Gedanke, als sie Debi auf der anderen Strassenseite sieht.

«Eine Sache auf der Arbeit» inszeniert das Gefecht zweier Frauen, die für dieselbe Firma arbeiten und dennoch nicht unterschiedlicher sein könnten. Da ist Brenda, mit der es das Leben nie gut gemeint hat und die deshalb ihre dürftigen Finanzen dadurch zu entlasten sucht, dass sie Kaffeekapseln und Küchentücher aus dem Büro entwendet – ein Vorfall, den ihre gutsituierte Kollegin Geneviève sofort bei den Vorgesetzten anzeigt. Brenda versucht zurückzuschlagen, als sie herausfindet, dass sich ihre Widersacherin Liebesnachmittage mit einem Kollegen von der Firma bezahlen lässt.

Für Brenda, der die Kündigung droht, bleibt da keine Zeit für edle Gedanken; ihre Wut ist nicht zu zügeln: «Nein, sie liebte Menschen, Menschen waren super. Auch dieser Depp im Bus. Wahrscheinlich hatte er sie so stinkig angestarrt, weil er einen schlechten Tag hinter sich hatte, wobei, mit der hässlichen Fresse? Kein Wunder. Wer würde so was schon heiraten? Quatsch, auch die Hässlichen kommen unter die Haube. Die nahmen einfach andere Hässliche. Passte dann schon.»

Harte Kost

Während Saunders in solchen Geschichten seine Figuren und ihre Lebenswelt mitleidslos seziert, schreibt er diese Elendszustände andernorts weiter – besonders radikal in der achtzig Seiten umfassenden Titelerzählung «Tag der Befreiung». Sie zeigt Menschen, die auf der Unterwürfigkeitsskala ganz oben angelangt sind. Sie werden an Wände genagelt, über Flüssigkeitsschläuche ernährt und von Computerprogrammen komplett gesteuert. Die quasi gekreuzigten Gestalten sind bei den Untermeyers untergebracht, die ab und zu gelangweilte Menschen einladen, denen sie ihre Opfer wie im Theater vorführen.

Vor allem diese Erzählung, deren Brutalität weder Rücksicht auf die Figuren noch auf die Leser nimmt, ist keine einfache Kost. Und dennoch kommt man nicht umhin, dem Horrorszenarium mit einer Art Ekelfaszination zu folgen, beklommen und sonderbar berührt. Wie es George Saunders gelingt, einen derart in seinen Bann zu ziehen, ist ein Kunststück, das sich nicht leicht entschlüsseln lässt.

George Saunders: Tag der Befreiung. Stories. Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Heibert. Luchterhand-Verlag, München 2024. 320 S., Fr. 36.90.

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