Andreea Campeanu
Auch fünf Monate nachdem die Wahlen in Rumänien annulliert worden sind, demonstrieren Anhänger des vermeintlichen Wahlsiegers.
Eigentlich müsste man irgendwann aufgeben, irgendwann wird es Wahnsinn, gegen etwas zu protestieren, das man nicht ändern kann. Aber der 41-jährige Oliver steht an diesem Donnerstagmorgen Ende April trotzdem vor dem Gebäude der Staatsanwaltschaft in Bukarest. Die Sonne brennt, hinter Absperrgittern schwenken Fernsehkameras hektisch hin und her. Kommt er endlich? Da! Ist er das? Nein, Fehlalarm.
Dutzende Menschen und ebenso viele Journalisten warten hier auf ein Phantom: Calin Georgescu. Für seine Gegner ist er eine rechtsextreme, von Russland gesteuerte Marionette, für die anderen ein Messias und ein Retter Rumäniens. Oliver, der aus Vorsicht seinen vollen Namen nicht veröffentlicht sehen will, nennt ihn den «bestmöglichen Menschen, der uns alle liebt». Er zieht streng an seiner Zigarette, inhaliert tief, es ist ein emotionaler Moment, jedes Mal wenn der Messias erwartet wird.
Ein Gegner von EU und Nato
Georgescu hatte im November überraschend die erste Runde der rumänischen Präsidentschaftswahlen gewonnen. Die Wahl hatte nicht nur Rumänien in Aufregung versetzt. Georgescu kokettierte mit der faschistischen Vergangenheit des Landes und wollte die Militärhilfe an die Ukraine einstellen. EU und Nato bezeichnete er als teuflische, ausbeuterische Institutionen – ein Problem insbesondere für das Verteidigungsbündnis, an dessen Ostflanke Rumänien liegt.
Aber kurz darauf annullierte das Verfassungsgericht die Wahlen, weil Georgescu auf Tiktok angeblich auf illegale Weise von fremder Hilfe – gemeint war Russland – profitiert habe. Im März schlossen ihn die Richter von den neu angesetzten Wiederholungswahlen aus.
Das hatte in Bukarest und anderen Städten des Landes riesige Proteste ausgelöst. Irgendwann ebbten sie ab, Georgescu schwebt seither wie ein Geist durch die rumänische Öffentlichkeit. Interviews gibt er fast nie. Beim Trump-nahen amerikanischen Journalisten Tucker Carlson trat er auf, redete zehn Minuten lang ohne Unterbrechung von Verschwörungen, wobei sogar dem keiner Verschwörungstheorie abgeneigten Carlson die Spucke wegblieb.
Einmal pro Woche muss sich Georgescu bei der Polizei melden. Er taucht dann bei einem Polizeiposten im Norden der Hauptstadt auf. An diesem Donnerstag hat ihn zudem die Staatsanwaltschaft vorgeladen, ein weiterer Termin, der die Flammen des Protestes am Lodern hält.
Oliver lebt eigentlich in Kanada, aber die Affäre Georgescu brachte ihn zurück in die Heimat. Am selben Tag, als das Gericht Georgescu von der Wahl ausschloss, kaufte Oliver ein Flugticket und machte sich auf den Weg nach Bukarest. Er ist selbständiger Buchhalter, hat keinen Arbeitgeber, der nach ihm fragt. Natürlich verdient er in dieser Zeit kein Geld. «Aber manchmal spielt Geld keine Rolle. Manchmal ist Freiheit wichtiger als Geld.»
Seit bald zwei Monaten ist er nun da, jede Woche hat er an Protesten teilgenommen, weil seine Stimme, die Stimme von Millionen Rumänen einfach «gelöscht» wurde. «Wie damals im Kommunismus», sagt Oliver und zieht wieder an seiner Zigarette. «Mein Vater ist 88. Er sagte mir: Es ist wieder wie früher.»
Oliver ist nicht allein. Es ist eine bunte Truppe, die sich jeweils versammelt: Grossmütter mit Kopftüchern, die Kreuze in der Hand halten, ein Mann in einem grellen weissen Anzug, ein in Tracht gekleideter Mann mit bis zur Hüfte reichendem Bart, eine Mutter mit ihrer Tochter, die ein Buch Georgescus in der Hand hält und hofft, dass er es signieren wird.
Man kann die Gruppe unterteilen in Pragmatiker und Fanatiker. Oliver – auch wenn der Entscheid, alles liegenzulassen und Tausende Kilometer in die Heimat zu fliegen, impulsiv und radikal erscheint – gehört zur pragmatischen Sorte. Seine Wut ist gross, aber nachvollziehbar. Wer wäre nicht empört, wenn sein Wahlentscheid einfach für ungültig erklärt worden wäre?
Der Messias schweigt
Plötzlich werden alle unruhig, rufen «Georgescu presidente! Georgescu presidente!» und drängen sich um ihren Retter, der zügig auf das Tor der Staatsanwaltschaft zuschreitet und lächelt, als ob er etwas weiss, von dem die anderen nichts ahnen.
Nach einer halben Stunde verlässt er das Gebäude und verschwindet in einem Auto, ohne ein Wort gesagt zu haben. Die Menge versteht auch so, was sich hier abspielt. Georgescu hatte es im Wahlkampf angekündigt. Er versprach seinen Wählern, gegen «das System» zu kämpfen, warnte sie aber davor, dass dieses zurückschlagen würde. Nun widerfährt ihm, was er prophezeit hatte. Er beschreitet seinen Kreuzweg wie einst Jesus, begleitet von Jüngern, von Polizeiposten zu Staatsanwaltschaft zu Polizeiposten.
Neben Oliver steht Iuliana Marieata Ene, eine Kindergartenlehrerin aus der Küstenstadt Constanta. Zwei Stunden ist sie heute angereist, gerade sind Osterferien, aber sie wäre auch sonst gekommen. Sie teilt sich die Stelle mit einer Kollegin, ebenfalls eine Georgescu-Wählerin. Wenn Ene protestieren geht, springt ihre Kollegin selbstverständlich ein.
Die Schüler sind sowieso eingebunden. Ene hält ein Kartonschild in der Form und den Farben Rumäniens in die Höhe, rot-gelb-blau beklebt. «Haben die Kinder gebastelt», sagt die Lehrerin und strahlt. Der Protest gibt ihr Energie, macht sie glücklich und traurig zugleich. «Wenn ich an den Moment zurückdenke, als ich erfuhr, dass er den ersten Wahlgang gewonnen hat – da wird mir anders. Ich dachte: Ein Wunder des Himmels ist geschehen!»
Ene hofft, dass bei der Wiederholungswahl nächstes Wochenende der nun an der Spitze des Kandidatenfelds liegende George Simion, der Georgescu ideologisch am nächsten steht, gewählt wird. Sie glaubt, dass Simion dann die Richter auswechselt und Georgescu so nachträglich zur Präsidentschaft verhilft. Eine steile These, die Simion aber selbst am Leben hält, damit die Georgescu-Anhänger ihm ihre Stimmen geben.
Immerhin erhält Iuliana Marieata Ene sich so den Glauben, dass ihre Stimme noch etwas zählen könnte. Es ist ja auch die Ohnmacht, die die Demonstranten immer noch hierhertreibt, selbst Monate nach der «Katastrophe», obwohl es keinerlei Aussicht darauf gibt, dass ihr Retter wiederauferstehen könnte.
«Grossmutter aller Rumänen»
Wahnsinn oder Verzweiflung? Vielleicht weder noch. Schliesslich behauptet in Rumänien niemand, dass die Stimmzettel gefälscht worden seien. Dass mehr als zwei Millionen Menschen für Georgescu gestimmt haben, ist unbestritten. Dass sie womöglich mit Geld aus Russland manipuliert wurden – will man das nun den Wählern vorwerfen?
Am Mittag zerstreut sich die Menge vorerst, ein paar schlendern die wenigen hundert Meter auf den Platz der Verfassung vor das «Haus des Volkes», den Palast, den sich der Diktator Nicolae Ceausescu einst bauen liess und der bis heute das zweitgrösste Gebäude der Welt ist.
Auf der Mitte des Platzes steht ein Zelt, eine riesige rumänische Flagge weht, darunter hängt eine kleinere amerikanische. Das Zelt gehört der vielleicht berühmtesten Demonstrantin Rumäniens: In der Öffentlichkeit nennen sie sie nur «Grossmutter», weil sie weder Namen noch Alter sagen will («2000 Jahre, so alt wie Rumänien»). Seit Beginn der Proteste im Dezember ist sie immer an vorderster Front dabei. Auch bei minus 15 Grad stand sie in dünnen Kleidern, umhüllt von einer Rumänienflagge, vor dem Kordon aus Polizisten und beschimpfte diese als Verräter und Diebe.
Die «Grossmutter aller Rumänen» will eigentlich nicht mit Journalisten reden, sie würden sie als Wahnsinnige beschreiben. Dann lächelt sie und zeigt Richtung Himmel. «Aber jeder Prophet war auch etwas ein Wahnsinniger.»
Zu den Pragmatikern gehört sie definitiv nicht. Sie redet von den Freimaurern, von George Soros, von Ursula von der Leyen und von den Schwulen und Lesben, die die Kinder manipulieren würden. Sie hat, neben den 19 Millionen adoptierten Rumänen, sieben leibliche Kinder, die sich um sie sorgten. «Auch sie denken, ich spinne, aber ich protestiere auch für sie, damit ihre Stimme zählt.»
Sorgen machen müssen sich die leiblichen Kinder nicht. «Grossmutter» hat ihre Unterstützer, den ganzen Tag über empfängt sie Männer und Frauen, die sich mit ihr filmen lassen und für ihre Follower auf Tiktok live vom Zelt berichten. Vor allem hat sie aber den 32-jährigen George, der sich als ihr Bodyguard darstellt. George hatte gar nicht für Georgescu gestimmt, begann aus Prinzip zu demonstrieren und wurde dann, je mehr er sich über Georgescu informierte, zum Jünger.
Hypothetische Frage an den Bodyguard: Wenn er Beweise dafür sähe, dass Georgescu ein Agent der Russen sei, würde er dann aufhören zu protestieren? «Nein, nein! Die Leute hier haben ihn gewählt, ihre Stimme muss zählen!» Spielt also keine Rolle, ob er das auf legalem oder illegalem Weg erreicht hat?
«Wir sind doch erwachsene Menschen und können selber denken. Sie sagen, er habe Bots gehabt. Wir sind die Bots! Wir sind stärker und mehr als jede Bot-Farm.»
Dann springt er auf. Der nächste Protest ist aufgeflammt, fünfzehn Minuten entfernt auf dem Platz des Sieges. Er will keinen Protest auslassen, auch wenn er nicht glaubt, dass sie gegen das System gewinnen können.
Das klingt fanatisch. Aber wer mag es ihm und den anderen verübeln, dass sie an eine Verschwörung glauben? Georgescu hat sie ja darauf vorbereitet und ihnen vom geheimen Netzwerk erzählt, das ihn von der Macht fernhalten wolle. Nun, da sich alles so abspielt wie vorhergesagt, finden sie nicht mehr zurück.