Die Regierungspartei verfolgt einen konservativ-autoritären und russlandfreundlichen Kurs, viele Leute im Land hingegen sind prowestlich eingestellt und streben in die EU. Mehrere Granden des georgischen Fussballs stecken mittendrin in diesem Konflikt.

Die georgischen Fussballer versetzen selbst Experten ins Staunen. Sicher, Chwitscha Kwarazchelia war ein Begriff. Er wurde 2023 mit der SSC Napoli italienischer Meister und damals von der Serie A zum Spieler der Saison gekürt. In Neapel nennen sie ihn «Kwaradona», in Anlehnung an Diego Armando Maradona, der die Stadt einst ebenfalls verzückt hat. Kaum einer verbindet Nonchalance und Dynamik dermassen gewinnbringend wie Kwarazchelia. Er trägt seine Stulpen und Schienbeinschoner so aufreizend lässig, als wisse er, dass er jeder Grätsche elegant ausweichen kann.

Georgiens Trainer Willy Sagnol blickt auf eine imposante Spielerkarriere zurück; er war mit Frankreich WM-Finalist und mit dem FC Bayern Champions-League-Sieger. Aber haben Sie schon einmal etwas von Georges Mikautadse gehört? Der in Frankreich aufgewachsene Stürmer stieg zuletzt mit dem FC Metz in die Ligue 2 ab. Nun führt er an der EM mit drei Treffern die Torschützenliste an. Oder von Giorgi Mamardaschwili? Der Goalie spielt für den FC Valencia, er ist die Torhüter-Entdeckung der Gruppenphase.

Beobachtern des Schweizer Fussballs fällt im georgischen Kader der Name Otar Kakabadse auf; er verteidigte für den FC Luzern, ehe er sich nach Teneriffa verabschiedete. Oder jener von Gabriel Sigua. Der knapp 19-Jährige steht im FC Basel unter Vertrag. An der EM kam er noch nicht zum Einsatz. Aber auch er steht für die grösste Überraschung, die diese EM hervorgebracht hat.

Auch der SC Freiburg und der FC Zürich machten ihre Erfahrungen mit Georgiern

Dass sich Georgien bei seiner ersten Repräsentanz an einem grossen Fussballturnier für die Achtelfinals qualifiziert, war nicht zu erwarten gewesen. Kein anderer EM-Teilnehmer ist in der Weltrangliste so weit hinten klassiert; das Team aus dem Kaukasus liegt an 74. Stelle. Den Einzug in die K. o.-Runde sicherte es sich durch einen 2:0-Sieg gegen den früheren Europameister Portugal mit einem hadernden Cristiano Ronaldo.

Natürlich, die bereits als Gruppensieger feststehenden Portugiesen gingen nicht mehr mit der letzten Konsequenz ans Werk. Und die Georgier benötigten eine gehörige Portion Fortune. Doch sie überzeugten mit Widerstandskraft und Effizienz.

Einzelne starke Fussballer, die sich durch überdurchschnittliche technische Fertigkeiten auszeichnen, hatte Georgien schon immer. Ein paar von ihnen mischten um die Jahrtausendwende mit dem SC Freiburg die Bundesliga auf; die Rede war damals von den «Breisgau-Brasilianern». Und auf Klubebene hatte Dinamo Tbilissi unter sowjetischer Flagge 1981 den mittlerweile von der Uefa abgeschafften Cup der Cupsieger gewonnen. Ein Höhenflug der Nationalmannschaft ist allerdings neu. Sportliche Erfolge von solcher Dimension gab es für das Land bis jetzt vor allem durch seine Ringer, Gewichtheber und Judokas, wenn diese an Olympischen Spielen Medaillen abräumten.

Auch der FC Zürich machte seine Erfahrungen mit georgischen Spielern. Deren Füsse versprachen meistens Wunderdinge und Zauberkunst. Doch sie waren nicht immer einfach zu integrieren, was oft auf mangelhafte Deutschkenntnisse zurückzuführen war. Ihre Launen konnten unberechenbar sein und zum Ärgernis werden.

Recht erspriesslich für beide Seiten verlief die Zusammenarbeit mit Micheil Kawelaschwili, diesem stilsicher auftretenden Stürmer, der eine Vergangenheit bei Manchester City gehabt hatte. Als der FCZ im Jahr 2000 mit dem Trainer Gilbert Gress seinem zu Tränen gerührten Präsidenten Sven Hotz einen ersten Cup-Titel bescherte, war «Kawe» einer der erfolgreichen Schützen im Penaltyschiessen.

Auf der Strasse kam es zu Zusammenstössen mit der Polizei

Heute ist Kawelaschwili Spitzenpolitiker in Georgien – und er steht dabei für ein Thema, das bei allem Jubel über den EM-Coup auch die Fussballnationalmannschaft umtost. Im Land tobt vor den Parlamentswahlen im Herbst ein Machtkampf, der sich in völlig unterschiedliche Richtungen entwickeln kann.

Die Regierungspartei Georgischer Traum verfolgt einen antiwestlichen, konservativ-autoritären und russlandfreundlichen Kurs, der wie nach einer Annäherung an das Programm von Wladimir Putin aussieht. Gleichzeitig gibt es die Kräfte in Georgien, die weiter auf eine EU- und Nato-Einbindung drängen, wie es der vertriebene Staatspräsident Micheil Saakaschwili propagiert hatte. Anhänger dieser Idee gingen zu Zehntausenden auf die Strasse, um ihrer Gesinnung Ausdruck zu verleihen. Es kam zu Zusammenstössen mit der Polizei.

Manch eine bedeutende Figur aus dem Fussball steckt in diesem Zwist mittendrin. Mehrere frühere Granden treten aktiv als Vertreter der Regierungspartei auf, neben Kawelaschwili auch der ehemalige Bundesliga-Spieler Lewan Kobiaschwili, der zudem der Präsident des nationalen Fussballverbands ist, und Kacha Kaladse, einst Champions-League-Sieger mit der AC Milan, der als Bürgermeister der Hauptstadt Tbilissi amtet.

Unterdessen hat sich offenbart, dass nicht wenige Nationalspieler der aktuellen Generation eher dem prowestlichen Kurs zugewandt sind. Jaba Kankava, zwar nicht im EM-Aufgebot, aber mit hundert Länderspielen eine Grösse in Georgien, positionierte sich gar in den sozialen Netzwerken mit einem Schimpfwort gegen Russland.

Zumindest am späten Sonntagabend dürften diese Diskussionen für ein paar Stunden in den Hintergrund rücken. Dann werden die Georgier an der Fussball-EM in Köln ihren Achtelfinal bestreiten – und zwar als krasse Aussenseiter. Denn der Gegner Spanien stellte das souveränste Team der Gruppenphase. Und als die Mannschaften im vergangenen September in der EM-Qualifikation aufeinandertrafen, kassierten die Georgier eine saftige 1:7-Heimniederlage.

Zumindest mit dem fussballerischen Traum an dieser EM könnte es also für Georgien bald vorbei sein. Was mit dem politischen Traum ist, wird der Herbst zeigen müssen.

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