Donnerstag, Oktober 3

Die Opposition in dem südkaukasischen Land ist zuversichtlich, den moskaufreundlichen Machthaber Iwanischwili an der Urne besiegen zu können. Doch es gibt auch skeptischere Stimmen. Der Kampf um die Ausrichtung Georgiens dürfte sich bald zuspitzen.

Zur Mittagszeit ist in Tbilissi mit den üblichen Verkehrsmitteln kein Durchkommen. Wer es eilig hat, greift sich auch hier einen E-Roller und kurvt auf dem abgetrennten Radweg unter den Platanen des Rustaweli-Boulevards an Autokolonnen und den Schaufenstern bekannter westlicher Modelabels vorbei. Zur Nutzung des Rollers verwendet man die gleiche App wie in Zürich oder Berlin, und spätestens hier wird dem Besucher bewusst: Man ist in Europa. Es könnte Südfrankreich oder Spanien sein, wären da nicht die geheimnisvollen Schriftzeichen und die unzugängliche Sprache.

Spuren der Massenproteste

Georgien ist ein Land am Scheideweg. Im Mai fanden auf dem Rustaweli proeuropäische Massenproteste mit etwa 300 000 Teilnehmern statt, nachdem die Regierung das sogenannte Auslandagenten-Gesetz durch das Parlament geboxt hatte. «Russisches Gesetz» nennen es die Georgier, weil es, ähnlich wie in Russland, die Arbeit von Nichtregierungsorganisationen mit ausländischen Finanzquellen erschweren oder verunmöglichen wird. Organisationen, die mehr als 20 Prozent ihrer Mittel aus dem Ausland beziehen, werden sich registrieren und Angaben über ihre inländischen Kooperationspartner machen müssen. Kritiker sehen darin ein Instrument, mit dem zivilgesellschaftliche Arbeit verhindert werden kann.

Die Folgen der Proteste sind noch überall sichtbar. Europafahnen hängen in unzähligen Fenstern und von Balkonen. Die Fassaden sind übersät mit Graffiti, die Solidarität mit der Ukraine bezeugen. Derzeit herrscht in Georgien Ruhe, allerdings ist dies wohl eine Ruhe vor dem Sturm. Überall ist «das Gesetz» Thema, viele Institutionen sind unsicher, ob sie unter die Registrierungspflicht fallen, und fürchten die drohenden drakonischen Geldbussen. Die Parlamentswahlen im Oktober werden als Referendum über die Orientierung des Lands gesehen, als Entscheidung zwischen Europa und Russland, zwischen Demokratie und Autokratie. Das oft inflationär verwendete Wort Schicksalswahl ist hier angebracht.

Die Europa-Liebe der Georgier ist alles andere als die opportunistische Anlehnung eines armen, postsowjetischen Staates an den westlichen Wirtschaftsblock. Georgien, mit eigener Sprache und Schrift, mit einer hundert Jahre älteren Tradition des Christentums als in Mitteleuropa, ist ein europäisches Land. Es war immer geistig nach Europa orientiert, auch im 19. Jahrhundert, als man in Tbilissi von italienischen Architekten ein Opernhaus bauen liess, Pariser Mode trug und vornehme Familien ihre Kinder zum Studium nach Deutschland schickten. Über 85 Prozent der Bevölkerung wünschen sich den Beitritt zur EU und sind zugleich gekränkt darüber, wie wenig die Liebe erwidert wird.

Undurchsichtige Regierungspartei

Der Beitritt zur EU ist als Ziel in der Verfassung festgelegt, und seit 2023 ist Georgien offizieller Beitrittskandidat. Umso ratloser macht prowestliche Georgier der Kurswechsel der Regierung. Der Milliardär Bidsina Iwanischwili, der sein Vermögen mit windigen Geschäften im Russland der neunziger Jahre gemacht hat, ist die graue Eminenz der Regierungspartei Georgischer Traum. Er thront in einer riesigen Villa hoch über der Hauptstadt Tbilissi und zieht von dort mit seinem Reichtum die Fäden, tauscht Regierungsmitglieder nach Gutdünken aus und bestimmt die Geschicke der Politik.

Die regierungsnahen Medien verbreiten die Mär von der westlichen Zersetzung traditioneller Werte. Ohne offiziell die Orientierung nach Europa aufzugeben, laviert die Regierung zwischen den Fronten, kokettiert mit den Haltungen eines Viktor Orban, Robert Fico oder Donald Trump und zieht langsam die Daumenschrauben an. Ende April 2024 hat sich Iwanischwili in einer seltenen öffentlichen Rede geäussert und dabei verstörende antiwestliche Formulierungen benutzt. Den Westen verunglimpfte er als «globale Kriegspartei». Von «liberalem Faschismus» sprechen die Mitglieder seiner Regierung regelmässig.

Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass grosse Teile der urbanen, westlich orientierten Bevölkerung das Agenten-Gesetz als Mittel für eine autokratische Entwicklung sehen und argwöhnen, Iwanischwili habe aufgrund des mafiösen Milieus, in dem er gross wurde, gute Gründe für eine Hinwendung zu Russland.

Doch die Russen haben sich mit ihrer zweihundertjährigen, bis 1991 dauernden Herrschaft über Georgien einen nachhaltig schlechten Ruf erarbeitet. Seit dem Krieg von 2008 sind 20 Prozent des Territoriums – die Regionen Abchasien und Südossetien – faktisch von Russland besetzt. Binnenflüchtlinge berichten von russischen Greueltaten, die an Bestialität kaum zu überbieten sind. Nachdem die zur Sowjetzeit geltende Pflicht zum Erlernen der russischen Sprache abgeschafft worden ist, spricht heute nur noch die alte Generation Russisch. Im Zentrum für Erwachsenenbildung von Achalziche, einer Kleinstadt nahe der türkischen Grenze, haben die Sprachkurse für Englisch seit Jahren ungebrochen höchste Popularität. An zweiter Stelle folgt mit Abstand Türkisch und an dritter Deutsch.

Russisch will niemand lernen. Das ist auch insofern bemerkenswert, als hier eine grosse armenische Minderheit lebt, der traditionell eine enge Beziehung zu Russland nachgesagt wird. So weht heute auch in der tiefen Provinz vor der etwas heruntergekommenen staatlichen Grundschule neben der Fahne Georgiens stolz das Banner der EU im Wind. An den Vorbehalten gegenüber Russland ändern auch die zeitweise 150 000 russischen Kriegsflüchtlinge, meist mobil arbeitende moderne IT-Nomaden, nichts.

Liberale Parteien mit unerschütterlichem Optimismus

Im Treibhaus der politischen Gefühle gärt es, und vor den Wahlen am 26. Oktober dürfte sich die Lage wieder zuspitzen. Die Frage ist, ob Iwanischwilis Partei Georgischer Traum dann an der Macht bleibt oder von einer Oppositionskoalition abgelöst wird. Die georgische Parteienlandschaft ist äusserst bunt. Die grösste Oppositionspartei, jene des früheren Präsidenten Saakaschwili, und sechs kleinere liberale Parteien lassen sich dem prowestlichen Spektrum zuordnen.

Inhaltlich reichen die Liberalen von Anhängern eines pragmatisch marktwirtschaftlichen, gesellschaftlich moderat konservativen Kurses über solche, die eine Trennung von Kirche und Staat fordern und sich für LGBT-Menschen einsetzen, bis zu provozierenden Libertären, die Drogen und Prostitution freigeben wollen. Die Hoffnung der georgischen Opposition liegt in einer «polnischen Lösung», einem Zusammenschluss der Oppositionsparteien zu einem Wahlbündnis. So soll mit vereinten Kräften die Regierungspartei besiegt werden. Die der Opposition zuneigende Staatspräsidentin Salome Surabischwili propagiert ein politisches Reformprogramm für die Zeit nach einem allfälligen Wahlsieg. Priorität haben darin die Abschaffung des Agenten-Gesetzes und die Abarbeitung aller Punkte, die einem EU-Beitritt im Wege stehen.

Hinter diesen Zielen versammelt sich die gesamte Opposition, auch wenn es keine gemeinsame Wahlliste gibt. Zurzeit formieren sich vier unterschiedliche Listenverbindungen, in denen sich inhaltlich zum Teil recht verschiedene Parteien zusammengefunden haben. Nach der Wahl werde man sich zu einer Koalition zusammenfinden, so wird beteuert. Eine gemeinsame Führungsfigur hat sich bisher nicht herauskristallisiert. Im Vordergrund steht die Notwendigkeit, keine einzelne Stimme zu verlieren und keine Partei an der Fünfprozenthürde scheitern zu lassen. Der Optimismus ist ungebrochen, zumal der Georgische Traum in Umfragen angeblich nur auf 30 Prozent kommt.

Auf gepackten Koffern

Weniger optimistisch sind manche Akteure der Zivilgesellschaft. Sie bestätigen zwar die grundsätzliche politische Strategie im Hinblick auf die Wahlen, doch die schleichende Zunahme des autoritären Einflusses wird genau beobachtet. Nicht nur die undurchsichtige Regierungspartei und kryptische Verlautbarungen aus Moskau machen hier Sorgen, auch China übt einen Einfluss in der Region aus. Mit dem Bau des Tiefseehafens Anaklia am Schwarzen Meer und dem Ausbau der Eisenbahnlinie nach Zentralasien ist die geostrategisch vorgehende ostasiatische Grossmacht zunehmend präsent.

Noch gibt es investigative Journalisten und Akteure der Zivilgesellschaft, die sich in dem autoritären Klima trotz handfesten Drohungen nicht einschüchtern lassen. Doch Aufklärung von Skandalen braucht Öffentlichkeit und unterstützende politische Machtwerkzeuge. Fallen diese weg, laufen die Dinge ins Leere. Das tragische Schicksal von Nawalny in Russland steht als Zeichen an der Wand. Die zögerliche westliche Unterstützung der Ukraine tut das Ihre dazu. Appeasementpolitik gegenüber Russland und der georgischen Regierung, so betonen zivilgesellschaftliche Akteure in Tbilissi immer wieder, wäre das Falscheste, was Europa tun könne.

Ein Teil der jungen Intelligenzia sitzt gefühlsmässig auf gepackten Koffern. Alle haben Verwandte oder Freunde in Westeuropa. Vor allem in Italien und Griechenland wächst die georgische Diaspora beständig. Wenn die Schicksalswahl schiefgeht, so der Eindruck, sind viele schnell weg. Ihren freien westlichen Lebensstil werden sie sich nicht nehmen lassen.

Ludwig T. Heuss ist Vorsitzender des Kuratoriums der liberalen Friedrich-Naumann-Stiftung und Chefarzt am Spital Zollikerberg.

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