Freitag, November 1

Die Geschichte eines Schauspielers, der als unzerstörbar galt.

Gérard Depardieu steht in einer Reithalle in Nordkorea und sieht, wie eine Frau auf einem Pferd vorbeireitet. Er sagt zu seinem Begleiter: «Die Frauen lieben es zu reiten. Sie reiben ihre Klitoris am Sattelknauf. Sie kichern sehr viel. Sie sind grosse Schlampen.»

Als ein zehnjähriges Mädchen auf einem Pony vorbeikommt, ergänzt er: «Wenn das Pferd galoppiert, kommt sie.» Mit väterlicher Stimme ruft er dem Kind zu: «So ist’s gut, mein Mädchen, weiter so!» Depardieu wendet sich wieder an seinen Gesprächspartner und sagt: «Siehst du, wie sie sich reibt?» Dann lacht er.

Die Szene stammt aus einem Dokumentarfilm über den Schauspieler, der anlässlich eines Besuchs in Nordkorea 2018 gedreht wurde. Depardieu war dort als Ehrengast für das 70-Jahr-Jubiläum des abgeschotteten Landes eingeladen. Die ganze Zeit über spricht er von Sex.

Vor allem auf seine Dolmetscherin hat es der heute 75-Jährige abgesehen. Als er einen grossen Pavillon besucht, erklärt ihm die Übersetzerin, dass alles aus Holz gebaut sei. Depardieu antwortet: «Ja, ich habe es gesehen, das ist wie mein Schwanz. Ich habe einen Holzbalken in der Unterhose.»

Bei einem Gruppenfoto gibt Depardieu später dem Fotografen die Anweisung: «Los, mach das Bild, während ich ihren Arsch berühre. Ihre kleine Muschi, die gut, buschig und haarig sein muss. Sie riecht schon wie eine Stute.»

Abstossende Sprüche, Sexismus und das Ganze in einem Diktatorenstaat: Es ist eine ziemlich gute Zusammenfassung der vielen Skandale, die Gérard Depardieu während seiner jahrzehntelangen Karriere begleiteten. Doch weder seine Zuneigung zu Diktatoren noch seine Grenzüberschreitungen konnten ihm etwas anhaben. Sein Genie, sein Charaktergesicht und seine Art, Rollen einzunehmen, wurden stets höher gewichtet als sein Fehlverhalten.

Doch nun sieht sich die französische Filmikone Vorwürfen wegen Vergewaltigung, sexueller Nötigung und Belästigung ausgesetzt. Depardieu selbst bestreitet alles. Ein erster Prozess gegen ihn startete am Montag. Ein weiterer wird folgen. Bis zu einem Urteil gilt die Unschuldsvermutung.

Neu sind solche Anschuldigungen nicht. Es gibt sie bereits seit den 1970er Jahren. Doch etwas hat sich geändert.

Dieb, Gauner, Schulabbrecher

Gérard Xavier Marcel Depardieu wächst in Châteauroux auf, einer Kleinstadt im Zentrum Frankreichs mit rund 40 000 Einwohnern. Er ist das dritte von sechs Kindern, der Vater Karosseriespengler, die Mutter Hausfrau, beide angeblich Analphabeten.

Die Depardieus sind eine Arbeiterfamilie, sie leben in ärmlichen Verhältnissen. Gérard hat Mühe in der Schule, lesen und schreiben liegen ihm nicht. Lieber verbringt er seine Zeit auf der Strasse. Im Alter von zehn Jahren prostituiert er sich laut Autobiografie regelmässig für Männer. Er stiehlt, handelt mit geschmuggelten Zigaretten und Alkohol und verlässt die Schule mit 12.

Später klaut Gérard Autos, arbeitet als Leibwächter für Prostituierte. Doch dann entdeckt er die Schauspielerei. Bald steht er auf Theaterbühnen oder für Kurzfilme vor der Kamera. Und er fällt auf: Gérard Depardieu ist anders. Dieser massige Körper, diese grosse Nase, dieses ausladende Kinn. Sein Körper sprengt fast jedes Kameraformat.

Aber dann ist da diese Stimme, diese weiche, zarte, einfühlsame Art, die so gar nicht zu seiner groben Statur passt. Wie ein liebenswertes Monster.

Dieser Gegensatz macht Depardieu berühmt. Der grobschlächtige, zerbrechliche Liebling. Ein Bild, das die französische Öffentlichkeit nicht nur in seinen Rollen sieht, sondern auch dem Schauspieler selbst zuschreibt.

Der Durchbruch erfolgt 1974. Im Film «Les Valseuses» spielt Depardieu den Triebtäter Jean-Claude, der mit seinem Kumpel Frauen durch leere Gassen jagt, sie schlägt, bestiehlt und missbraucht.

GOING PLACES (1974) - Trailer

«Les Valseuses» – der Titel kann entweder als «Die Ausgebufften» oder als «Die Hoden» übersetzt werden – löste in Frankreich einen Skandal aus. Dies jedoch nicht wegen der Gewalt an Frauen, sondern wegen zu viel Nacktheit.

Depardieu selbst wollte die Rolle unbedingt. «Verdammt, der Charakter des Jean-Claude, das bin ich!», sagte er laut «Le Monde». «Diese beiden Männer, die gelangweilt sind, die Mädchen belästigen, die Autos stehlen und sich jede Nacht betrinken: Das ist mein Leben!» Auch später wiederholt er in Interviews seine Ähnlichkeit mit dem Protagonisten. Er behauptet sogar, selbst an Vergewaltigungen beteiligt gewesen zu sein.

Eines dieser Interviews wird ihn gut zehn Jahre später vermutlich seine Hollywood-Karriere kosten.

Der Aufstieg zum Unantastbaren

In Frankreich hingegen sorgen die Aussagen für wenig Echo. Vielmehr katapultiert ihn der Film an die Spitze des französischen Kinos.

Schon damals gibt es Meldungen über sexuelle Übergriffe. Am Set von «Police» (1985) soll Depardieu einem Crewmitglied an Brüste und Gesäss gefasst haben, in aller Öffentlichkeit. Die Co-Hauptdarstellerin des Films, die damals 19-jährige Sophie Marceau, spricht nach den Dreharbeiten von Machtspielchen und Gewalt am Set. Doch dafür interessieren sich die wenigsten.

In einem Interview von 2023 wird die mittlerweile berühmte Schauspielerin sagen, dass sie Depardieus Verhalten unerträglich fand. «Er hatte es nicht auf grosse Schauspielerinnen abgesehen, sondern eher auf einfache Assistentinnen.» Alle hätten das normal gefunden.

Die Episode zeigt: Depardieu hat sich bereits in den 1980er Jahren den Status eines Unantastbaren erarbeitet. Gégé, wie ihn die Franzosen liebevoll nennen, ist jetzt überall. Er spielt alles: Komödien, Tragödien, Autorenfilm oder Popcornkino. Und er konnte auch alles spielen: brutale Bösewichte, romantische Helden, historische Persönlichkeiten, komische Figuren.

Depardieu gewinnt Preise, keiner wird so oft für den César, den französischen Oscar, nominiert wie er: 17 Mal. Bald steht der Franzose auch mit internationalen Filmgrössen vor der Kamera. Mit Robert De Niro etwa, der über ihn sagt: «Ich bin noch nie einem so beeindruckenden Schauspieler begegnet.»

1990 gelingt Depardieu der internationale Durchbruch, und zwar mit «Cyrano de Bergerac», einem Historienepos über einen unsicheren, verliebten Mann mit grosser Nase. Der Film wird weltweit beklatscht, auch in den USA.

Im gleichen Jahr kommt der Hollywood-Film «Green Card» ins Kino, ein Streifen über einen Franzosen, der mit einer Amerikanerin eine Scheinehe eingeht, um den Aufenthaltsstatus in Amerika zu erhalten. Eine Liebesgeschichte, mit der sich Depardieu in die Herzen der USA spielen sollte.

Die Misstöne

Depardieu selbst erhält dafür einen Golden Globe – und gewinnt damit gegen illustre Namen wie Johnny Depp, Richard Gere oder Patrick Swayze.

Dann folgt die höchste Nomination seiner Karriere: für einen Oscar als bester Schauspieler in «Cyrano de Bergerac». Es könnte nicht besser laufen. Doch da sind wieder diese Misstöne. Am Set von «Green Card» kommt es zu sexistischen Bemerkungen gegenüber einer Frau.

Einige Wochen vor der Oscar-Verleihung 1991 publiziert das «Time»-Magazin einen Artikel über den französischen Schauspieler. Darin wird Depardieu von der Vergangenheit eingeholt. Es geht um Aussagen, die er in einem Interview aus dem Jahr 1978 gemacht hat. «Ich hatte viele Vergewaltigungen damals», wird er dort zitiert, als er über seine schwere Kindheit sprach. «Zu viele, um sie zu zählen.»

Gegenüber dem «Time»-Magazin bestätigt Depardieu die Äusserung. Auf die Frage, ob er an den Vergewaltigungen beteiligt gewesen sei, bejaht er – und fügt an: «Aber es war absolut normal unter diesen Umständen.»

Die Bestürzung in den USA ist gross. Depardieu versucht sich zu rechtfertigen, sagt, das sei eine Fehlübersetzung, und droht mit einer Klage gegen das Magazin. Doch die «Time»-Redaktion besteht auf der Richtigkeit der Aussagen.

Der Zorn Frankreichs

Und so kommt Depardieus Hollywood-Karriere, die so hoffnungsvoll begonnen hat, zum Erliegen. Der Oscar als bester Hauptdarsteller geht 1991 an Jeremy Irons. Frankreich reagiert empört. Regierungsvertreter äussern sich, sprechen von einer abscheulichen Denunziation. Man wolle das Land um einen Oscar bringen. Gégé, der Nationalheld, ein Opfer des amerikanischen Puritanismus.

In den 1990er Jahren häufen sich derweil die Alkoholexzesse, doch auch sie schaden seinem Ruf nicht. Das sei eben Gérard, heisst es dann. Der sei halt so. Ein Original.

Später wird Depardieu sagen, dass er täglich bis zu 14 Flaschen alkoholische Getränke am Tag konsumiere – Wein, Bier, Pastis, Champagner, Wodka und Whiskey. Trotz einer Lebertransplantation und vier Bypässen.

Das beeinträchtigt auch die Dreharbeiten. Depardieu erscheint unpünktlich am Set und ist oft so betrunken, dass die Crew seinen Text als Spickzettel an Möbeln oder auf der Stirn des Spielpartners anbringen muss.

Dennoch feiert er weiterhin grosse Erfolge – allen voran als Obelix. Viermal spielt er die Rolle des Galliers zwischen 1999 und 2012. Laut «Le Monde» verdient Depardieu damit Einnahmen in Millionenhöhe. Sein Vermögen wird auf über 200 Millionen Dollar geschätzt.

Das Geld investiert er in Weingüter, Restaurants oder Ländereien. Und dieses Geld führt schliesslich dazu, dass er sich gegen sein eigenes Land wendet. 2012 kündigt Depardieu an, Frankreich verlassen zu wollen – weil ihm die Steuern zu hoch sind.

Nun zeigt sich eine weitere problematische Seite an ihm: seine Nähe zu Diktatoren. Schon lange pflegte Depardieu einen freundschaftlichen Umgang mit Autokraten – allen voran mit Fidel Castro.

2012 nutzt Wladimir Putin Depardieus Abkehr von Frankreich. Er offeriert ihm öffentlichkeitswirksam die russische Staatsbürgerschaft – und der Schauspieler nimmt dankend an. Im Januar 2013 sieht man die beiden zusammen in Sotschi, ein grosser, korpulenter Mann umarmt einen kleinen, dünnen Mann.

Von nun an häufen sich die Fotos von Depardieu mit Autokraten. Er trifft sich mit dem tschetschenischen Machthaber Ramsan Kadyrow, der ihm eine Wohnung in Grosny schenkt. Er besucht den Diktator Alexander Lukaschenko in Weissrussland und beackert mit ihm medienwirksam ein Feld ausserhalb von Minsk.

Nicht mehr #MeToo-tauglich

Und 2018 reist Depardieu nach Nordkorea, wo er unter anderem einen Reitstall besucht und abstossende Bemerkungen macht. Von diesen erfährt die französische Öffentlichkeit allerdings erst fünf Jahre später – dann also, als das Bild des Nationalhelden bereits Risse bekommen hat.

2018 zeigte ihn die damals 22-jährige Schauspielerin Charlotte Arnould wegen Vergewaltigung an. Der Fall rüttelte auf. Im Zuge der #MeToo-Bewegung meldeten sich immer mehr Frauen, am Ende sind es über zwanzig, die Vorwürfe gegen den Schauspieler erheben.

Mit Folgen: Produzenten wenden sich von Gérard Depardieu ab, Filmprojekte werden abgesagt. Es scheint, als wolle zumindest ein Teil der Franzosen seinen Sexismus und seine Nähe zu Diktatoren nicht mehr länger tolerieren.

Und so erstaunt es nicht, dass Ende Oktober alle gespannt nach Paris schauten, auf den ersten Prozess. Doch Depardieu erschien nicht. Er sei erkrankt, liess er ausrichten. Die Verhandlung wurde auf März verschoben.

Das Interesse dürfte dann nicht weniger gross sein.

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