Samstag, Oktober 5

Iran ist geschwächt. Für Israel scheint es deshalb verlockend, das Atomwaffenprogramm des Erzfeinds ein für alle Mal zu zerstören. Doch im schlimmsten Fall beschleunigt dies den Weg zur Bombe nur noch.

Der iranische Grossangriff auf Israel am 1. Oktober ist dank erfolgreichen Abwehraktionen einigermassen glimpflich verlaufen. In der westlichen Öffentlichkeit ist die Neigung deshalb gross, den Vorfall nicht weiter zu dramatisieren. Doch Israel sieht dies anders, mit gutem Grund. Das Regime in Teheran hat den jüdischen Staat in präzedenzloser Weise angegriffen. Die Angriffswelle vom Dienstag – unter anderem eine Vergeltung für die Tötung des Hamas-Chefs Ismail Haniya in Teheran Ende Juli – übertraf selbst die kombinierte iranische Raketen- und Drohnenattacke vom 13. April.

Iran hat diesmal offenbar mehr als 180 ballistische Raketen eingesetzt. Es handelt sich damit um die grösste Attacke mit ballistischen Mittelstreckenraketen der Militärgeschichte. Selbst Russland hat im Ukraine-Krieg noch nie einen derart geballten Luftangriff ausgeführt.

Solche Waffen sind wegen ihrer Geschwindigkeit und Sprengkraft extrem gefährlich. Da Teheran nach amerikanischen Erkenntnissen mehr als 3000 ballistische Raketen verschiedener Reichweiten besitzt, war der Angriff zugleich ein Signal, dass Iran in noch grösserer Zahl zuschlagen und damit Abwehrsysteme wie den Iron Dome überwältigen könnte. Nicht zuletzt demonstrierte das Ayatollah-Regime, dass es über Trägersysteme verfügt, die theoretisch auch Atomsprengköpfe innert Minuten bis nach Israel schleudern könnten.

Zurückschlagen – aber wie?

Die israelische Regierung steht deshalb vor der schwierigen Frage, wie sie reagieren soll. Ministerpräsident Benjamin Netanyahu kündigte umgehend Vergeltung an und drohte, Iran werde für seinen «grossen Fehler» büssen. Anders als nach dem iranischen Militärschlag vom April signalisierten diesmal auch die USA, dass Teheran eine Strafe verdient habe. Präsident Joe Biden warnte jedoch vor einer unverhältnismässigen Reaktion. Ein relativ zurückhaltender Gegenschlag könnte darin bestehen, iranische Stützpunkte oder Rüstungsbetriebe anzugreifen. Drastischere Optionen wären, die iranische Führung direkt anzugreifen oder die wirtschaftliche Achillessehne des Landes zu treffen – seine Verladestationen für den Export von Erdöl.

Sicherheitspolitische «Falken» möchten noch viel weiter gehen: Der frühere Ministerpräsident Naftali Bennett forderte die Zerstörung des iranischen Atomprogramms. Israel habe die beste Gelegenheit seit Jahrzehnten, dadurch eine neue Ordnung im Mittleren Osten zu erreichen. Auch das «Wall Street Journal», das zu den Meinungsführern der amerikanischen Konservativen zählt, kommentierte in diese Richtung. Die Legitimation für einen Schlag gegen Irans Atomprogramm sei mehr denn je gegeben. «Wenn nicht jetzt, wann sonst?», fragte die Zeitung.

Die Forderung nach einem Militärschlag gegen iranische Atomanlagen taucht seit mehr als zwei Jahrzehnten auf. Israel und seine Schutzmacht USA verwarfen diese Option stets wegen der hohen Risiken, der Hoffnung auf eine diplomatische Lösung und der Überlegung, dass man noch zuwarten könne. Nun dürfte es sich um die letzte Gelegenheit handeln, Irans Atomwaffenprogramm zurückzuwerfen. Das Land hat nach Einschätzung der amerikanischen Geheimdienste zwar noch nicht die endgültige Entscheidung zum Bau einer testbaren Atombombe gefällt. Aber mehreren Uno-Resolutionen und langjährigen Sanktionen zum Trotz hat es die technischen Voraussetzungen dafür geschaffen.

Seit 2022 reichert Iran Uran auf einen Grad von 60 Prozent an und ist damit nur einen kleinen Schritt von der Herstellung waffenfähigen Urans entfernt. Nach Erkenntnissen der Internationalen Atomenergieagentur reichen seine Vorräte an hoch angereichertem Uran inzwischen, um nukleares Spaltmaterial für vier Atombomben zu gewinnen. Das Material für eine erste Bombe wäre innerhalb von nur etwa einer Woche herstellbar. Der Bau eines Atomsprengkopfs würde zwar weitere Zeit in Anspruch nehmen. Aber Experten gehen davon aus, dass Iran über das Know-how verfügt und deshalb als «nuklearer Schwellenstaat» zu betrachten ist.

Der amerikanische Politologe Matthew Kroenig, ein Republikaner, dringt seit mehr als einem Jahrzehnt auf ein militärisches Vorgehen gegen Iran. Er sieht heute eine bessere Ausgangslage denn je. Die wichtigsten Gegenargumente der Skeptiker sind laut Kroenig entkräftet: Eine diplomatische Lösung des Atomstreits wirkt unerreichbar, nachdem Biden zu Beginn seiner Amtszeit vergeblich die Fühler nach Teheran ausgestreckt hat.

Iran und seine Verbündeten sind geschwächt – mit der Folge, dass das Ayatollah-Regime in einem Krieg mit Israel seine Hilfstruppen von Hamas und Hizbullah nicht mehr wirksam einsetzen könnte. Zudem kann die Regierung Netanyahu nach der unverhältnismässigen iranischen Aggression vom Dienstag nun eher mit internationalem Verständnis für einen Gegenschlag rechnen, als wenn Israel aus heiterem Himmel angriffe.

Biden ist dagegen

Netanyahu lässt sich nicht in die Karten blicken. In seine Entscheidung werden verschiedenste Gesichtspunkte einfliessen, militärische wie auch politische. Ein Faktor, der gegen eine totale Eskalation spricht, ist der Umstand, dass der Bündnispartner USA auf die Bremse tritt. Biden sprach sich diese Woche öffentlich gegen einen Angriff auf iranische Atomanlagen aus. Das dürfte seiner persönlichen Überzeugung entsprechen, aber es passt auch zum Kalkül der Demokraten, die vor der Präsidentenwahl am 5. November eine Beruhigung im Nahen Osten anstreben. Eine gemeinsame amerikanisch-israelische Operation – aus Sicht militärischer Planer die beste Variante – ist daher nicht zu erwarten.

Israel kann auch allein zuschlagen, aber es ginge damit ein erhöhtes Risiko des Scheiterns ein. Irans Atomanlagen sind im Lande verstreut und militärisch gut geschützt. Von zentraler Bedeutung wäre, die beiden Anreicherungsanlagen in Fordo und Natanz vernichtend zu treffen. Doch erstere befindet sich tief im Innern eines Berges, letztere mehrere Meter unter dem Erdboden und unter einer dicken Betondecke.

Israels Luftwaffe verfügt über bunkerbrechende Bomben wie die amerikanischen BLU-109 mit 900 Kilogramm schweren Gefechtsköpfen. Sie sind darauf ausgelegt, massive Befestigungen zu durchschlagen – sogar 1 Meter 80 dicke Eisenbetonwände. Die USA haben Israel nach der Hamas-Terrorattacke vor einem Jahr 100 bunkerbrechende Bomben dieses Typs geliefert. Den verheerenden Effekt solcher Waffen hat Israel zuletzt beim Angriff auf den Führungsbunker des Hizbullah-Chefs Nasrallah vor einer Woche demonstriert.

Aber eine Reihe von Militärexperten geht davon aus, dass diese Bomben im Fall von Fordo und Natanz nicht ausreichen werden. Laut Forschern des britischen Think-Tanks Rusi wäre die weltweit grösste verfügbare konventionelle Präzisionsbombe nötig, der sogenannte Massive Ordnance Penetrator (GBU-57). Die USA haben diese Waffe 2011 in Dienst gestellt, aber den Israeli nie geliefert. Israel hätte nicht einmal die nötigen Flugzeuge dafür, da ein Einsatz nur mit amerikanischen B-2-Bombern möglich ist.

Weitere Hürden bestehen darin, dass Israels Luftwaffe laut Berechnungen des amerikanischen Think-Tanks CSIS bei einem Grossangriff mit mindestens 90 Kampfflugzeugen – einem Viertel ihrer Flotte – zuschlagen müsste. Eine Schwäche der Luftwaffe ist ihr veralteter Bestand an Betankungsflugzeugen, die Kampfbomber im Flug mit neuem Treibstoff befüllen können. Ohne Schützenhilfe der USA ist dies ein erheblicher Nachteil bei einer Langstreckenoperation im iranischen Luftraum.

Ein enormes Dilemma

Zahlreiche Ungewissheiten bleiben jedoch. Beispielsweise hat Israels Militär mit Sicherheit viel mehr Kenntnisse über Irans Urananreicherungsanlagen, als öffentlich bekannt ist – auch über deren Schwachstellen wie Lüftungsschächte, Eingänge und Energiezufuhr. Es lässt sich deshalb nicht ausschliessen, dass Israels Führung das Risiko einer solchen Operation für vertretbar hält.

So oder so steht die Regierung Netanyahu vor einem enormen Dilemma: Zum einen muss sie berücksichtigen, dass ein symbolischer Gegenschlag, wie ihn Biden wünscht, nichts an der strategischen Gesamtlage ändern würde. Das Damoklesschwert einer künftigen iranischen Atombombe hinge weiter über Israel und der ganzen Region. Zum andern weiss Israel, dass ein gescheiterter oder nur teilweise erfolgreicher Militärschlag gegen die Atomanlagen höchstwahrscheinlich einen kontraproduktiven Effekt hätte: Iran hätte dann allen Grund, den letzten Schritt auf dem Weg zur Atomwaffe zu machen – und seine Macht vor aller Welt mit einem Nukleartest zu beweisen.

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