Sonntag, November 24

Die indische Regierung hatte die Einfuhr des Romans aus Angst vor Protesten militanter Muslime kurz nach seinem Erscheinen im Oktober 1988 verboten. Nun hat ein Gericht das Verbot aufgehoben – weil es keinen Beleg dafür finden konnte.

Gilt ein Verbot auch dann, wenn es keinen Beleg für seine Existenz gibt? Dieser Frage musste sich vergangene Woche ein Gericht in Delhi stellen. In dem Fall ging es um Salman Rushdies Roman «Die satanischen Verse», dessen Einfuhr die indische Regierung im Oktober 1988 verboten hatte. Militante Muslime betrachteten das Buch des britisch-indischen Autors als blasphemisch, da er sich darin auf eine umstrittene Überlieferung aus dem Leben des Propheten Mohammed bezieht. Um Unruhen zu vermeiden, verbot Delhi kurzerhand den Import.

Obwohl die Kontroverse mit den Jahren abgeklungen war, blieb das Importverbot bestehen. Der Inder Sandipan Khan wollte sich damit nicht zufriedengeben. Im Jahr 2017 beantragte der 50-Jährige aus Kolkata unter Berufung auf das Recht auf Information, Einsicht in den Verbotsbescheid zu erhalten. Doch trotz ausführlicher Suche war das Schreiben nicht in den Unterlagen der Zollbehörde zu finden, die es am 5. Oktober 1988 ausgestellt hatte.

Obwohl Indien ein säkularer Staat ist, war es das erste Land gewesen, das das Werk wenige Tage nach der Publikation im September 1988 verboten hatte. Erst später zogen Pakistan, Bangladesh und andere mehrheitlich muslimische Länder nach. Die indische Regierung von Rajiv Gandhi fürchtete, dass das Buch zu gewaltsamen Protesten der indischen Muslime führen würde, nachdem es unmittelbar nach dem Erscheinen bei Viking Penguin eine heftige Kontroverse ausgelöst hatte.

Die wenigsten hatten das Buch gelesen

Die Empörung entzündete sich vor allem am Titel des Romans, der auf eine umstrittene Erzählung aus dem Leben Mohammeds anspielt, wonach der Religionsstifter des Islam kurzzeitig nicht zwischen dem Wort Gottes und den Einflüsterungen des Teufels unterscheiden konnte. Obwohl wohl die wenigsten Muslime das eher sperrige Buch gelesen hatten, gab es wütende Proteste. Ein halbes Jahr nach Erscheinen erliess dann der iranische Revolutionsführer Ayatollah Khomeiny im Februar 1989 seine berüchtigte Fatwa, die zur Ermordung Rushdies und seiner Verleger und Übersetzer aufrief.

Der Schriftsteller musste deshalb abtauchen und lebte über Jahrzehnte mit Polizeischutz. Mit den Jahren liess die Aufregung um das Werk zwar nach, so dass sich Rushdie wieder freier bewegen konnte. Bei einer Diskussion in den USA wurde der 75-Jährige aber im August 2022 auf offener Bühne niedergestochen, wobei sich der junge Angreifer auf die Fatwa Khomeinys berief. Rushdie überlebte das Attentat, verlor aber dauerhaft das Augenlicht auf dem rechten Auge.

Rushdie hatte sich nach der Veröffentlichung überrascht gezeigt über die heftigen Reaktionen. Das Verbot in Indien kritisierte er in einem wütenden Protestbrief an den damaligen Premierminister Gandhi als undemokratisch und beklagte, sein Buch werde «als politischer Fussball benutzt». In Indien blieben «Die satanischen Verse» dennoch verboten. Zwar betraf das Verbot eigentlich nur den Import und nicht den Verkauf oder den Druck des Buchs. Tatsächlich aber war der Roman über Jahrzehnte in den indischen Buchläden nicht erhältlich.

Wo es keinen Beleg gibt, gibt es auch kein Verbot

Khan reichte daher im Jahr 2019 Beschwerde beim Hohen Gericht in Delhi mit der Begründung ein, dass das Importverbot sein Recht auf Informationsfreiheit verletze. Fünf Jahre lang versuchten die Behörden, das Schreiben aufzufinden – vergeblich. Am Dienstag entschied schliesslich das Gericht in Delhi, dass es ohne physischen Beleg zu dem Schluss kommen müsse, dass das Verbot nicht existiere. Khan sei daher frei, mit dem Buch gemäss den geltenden Gesetzen zu verfahren.

Einige Rechtsexperten mahnten zwar, dass die Richter mit ihrem Urteil das Verbot nicht explizit aufgehoben hätten. Auch Khans Anwalt Uddyam Mukherjee sagte, dass es kein Urteil zur Meinungsfreiheit sei und sich die Richter nicht zur Verfassungsmässigkeit des Verbots geäussert hätten. Er schloss trotzdem aus dem Urteil, dass sein Mandant das Buch importieren dürfe, da das Verbot nicht länger bestehe. Es bleibt nun abzuwarten, ob die indischen Buchhändler es wagen werden, das Werk endlich ins Sortiment zu nehmen.

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