Samstag, März 22

Vor einem Jahrzehnt schockierte ein Germanwings-Absturz mit 150 Todesopfern die Welt, ein erweiterter Suizid des Co-Piloten. Bis heute gibt es erst wenige wirksame Gegenmassnahmen.

Am 24. März 2015, vor genau zehn Jahren, war ein Airbus A320 der Lufthansa-Billigtochter Germanwings auf dem normalen Reiseflug von Barcelona nach Düsseldorf aus unerklärlichen Gründen plötzlich in den kontinuierlichen Sinkflug gegangen. Und das nur drei Minuten nach Erreichen der Reiseflughöhe vormittags um 10 Uhr 27.

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Für die Fluglotsen ergab das keinen Sinn, denn Flug 4U9525 hatte keinerlei Probleme gemeldet. Doch nach der letzten Routinekommunikation um 10 Uhr 30 und dem danach beginnenden Sinkflug meldete sich das Cockpit nicht mehr, die Maschine sank weiter. Bei schönstem Wetter mit dem regelmässig gewarteten Flugzeug einer renommierten Fluggesellschaft und gut ausgebildeten Piloten mitten in Europa.

Ohne dass irgendwer eingreifen konnte, schlug der mit 150 Menschen besetzte A320 um 10 Uhr 41 in einer Höhe von 1550 Metern auf einem Bergmassiv in den französischen Westalpen auf. Jedes Leben an Bord endete in diesem grauenhaften Moment abrupt. Der Schock der Nachricht verbreitete sich schnell, unter den 144 Passagieren waren auch 18 Schüler und begleitende Lehrer aus Nordrhein-Westfalen auf dem Rückweg von einem Austauschprogramm in Spanien.

Die Experten standen vor einem Rätsel

Dieser Absturz war für Experten äusserst rätselhaft, denn die Umstände verrieten zunächst nichts über die möglichen Ursachen. Die Ermittlungen in solchen Fällen dauern üblicherweise Monate oder Jahre und gelangen selbst dann oft zu keinem eindeutigen Ergebnis. Doch diesmal sollte es vollkommen anders kommen.

Um die Mittagszeit des zweiten Tages, kaum 50 Stunden nach dem Aufprall des Airbus in den Alpen, trat der französische Staatsanwalt Brice Robin vor die Weltpresse und verkündete: «Wir gehen davon aus, dass der Co-Pilot das Flugzeug absichtlich zerstören wollte.» Ausgiebig schilderte Robin, wie der Co-Pilot, dessen Namen Andreas Lubitz er nannte und buchstabierte, allein im Cockpit sass zu dem Zeitpunkt, als der Sinkflug begann. Wie Lubitz dem von der Toilette zurückkehrenden Kapitän absichtlich den Zugang zum Cockpit verweigerte und ganz offenbar sich und alle anderen Menschen an Bord umbringen wollte.

Kurz darauf trat in Frankfurt der sichtlich erschütterte Lufthansa-Chef Carsten Spohr vor die Journalisten und verkündete: «Es hat eine neue tragische Wendung gegeben. Wir müssen akzeptieren, dass das Flugzeug vermutlich durch den Co-Piloten absichtlich zum Absturz gebracht wurde.»

Die Nachricht, dass einer der Piloten die ihm anvertrauten Passagiere und Besatzungsmitglieder absichtlich in den Tod gerissen hatte, war für die Angehörigen der Opfer der zweite schwere Schock innerhalb von 48 Stunden. «Mir kam es in diesem Moment vor, als seien die Kinder ein zweites Mal gestorben», sagt ein trauernder Vater in einer neuen ARD-Dokumentation. Schnell stellte sich heraus, dass Andreas Lubitz eine lange Vorgeschichte von Depressionen hatte und als psychisch krank einzustufen war.

Für den Tag des Fluges war Lubitz sogar krankgeschrieben, hatte dies seinem Arbeitgeber aber verschwiegen. Er nahm Psychopharmaka, die er beim Fliegen gar nicht hätte einnehmen dürfen, ohne Rücksprache mit dem flugmedizinischen Dienst. Zudem hatte er in den Tagen vor dem Absturz intensiv im Internet nach Suizidmethoden gesucht, sich auch gezielt mit der Funktionsweise von Cockpit-Türen beschäftigt. Dass er mit einer solch langen Patientenakte, in die allerdings damals niemand vollen Einblick hatte, überhaupt weiter Verkehrsflugzeuge steuern durfte, war für die Öffentlichkeit völlig unverständlich.

«Andreas Lubitz durfte fliegen, weil er regelmässig sowohl medizinisch als auch auf seine Leistungsfähigkeit hin untersucht worden ist und alles bestanden hat – das ist die juristische Antwort», sagt heute Gerhard Fahnenbruck, deutscher Luftfahrtpsychologe und selbst Jahrzehnte bei Lufthansa als Airbus-Pilot tätig, gegenüber der NZZ. «Er ist unter anderem deshalb nicht aufgefallen, weil es die ärztliche Schweigepflicht gibt. Beides zusammen hat dazu geführt, dass das System Luftfahrt sein Problem nicht erkennen konnte.»

Hier bekommen Sie Hilfe

Wenn Sie selbst Suizidgedanken haben oder jemanden kennen, der Unterstützung benötigt, wenden Sie sich bitte an die Berater der Dargebotenen Hand. Sie können diese vertraulich und rund um die Uhr telefonisch unter der Nummer 143 erreichen. Spezielle Hilfe für Kinder und Jugendliche gibt es unter der Nummer 147.

Noch nie hatte die breite Öffentlichkeit einen so eindeutigen Fall von Piloten-Suizid im Dienst erlebt. Auch die Schnelligkeit der Interpretation überrascht: In der Vergangenheit war es noch nicht vorgekommen, dass kaum 48 Stunden nach dem Absturz suizidales Verhalten als Ursache identifiziert werden konnte. Schaut man aber genauer hin, zeigt sich, dass solche Fälle gar nicht so ungewöhnlich sind.

Es war nicht der erste Fall eines geplanten Absturzes

Zwischen 1982, dem ersten verbrieften Fall von Piloten-Suizid im Dienst in Japan, und 2022, dem vermutlich vorerst letzten Fall in China, gab es acht Abstürze von Verkehrsflugzeugen, die von führenden Unfalluntersuchungsbehörden wie der amerikanischen NTSB auf Selbstmord im Cockpit zurückgeführt werden.

Bei solchen suizidalen Abstürzen könnten insgesamt 943 Menschen ums Leben gekommen sein. Unter ihnen mutmasslich auch die 239 Insassen der 2014 verschwundenen Boeing 777 der Malaysia Airlines, nach deren bis heute verschollenem Wrack derzeit wieder eine Suche im südlichen Indischen Ozean läuft. Von dem Absturz des Flugs MH370 sagen alle seriösen Experten, die Ursache sei mit grösster Wahrscheinlichkeit ein sorgfältig geplanter Suizid des Piloten. In diese Kategorie dürfte auch der Crash einer Boeing 767 der Egypt Air auf dem Nordatlantik 1999 gehören, bei dem alle 217 Menschen an Bord starben.

Während die NTSB eindeutig den Suizid des damals allein im Cockpit befindlichen Piloten als Ursache annimmt, bestreiten die ägyptischen Behörden diese Erkenntnis rundweg. Auch in Malaysia, bei Flug MH370, oder in Indonesien, wo 1997 eine Boeing 737 von Silk Air abstürzte, verneinen die Verantwortlichen suizidale Absichten der Piloten genauso wie in China. Dort starben 2022 beim Absturz einer Boeing 737 von China Eastern alle 132 Insassen.

Die Fälle gleichen sich in ihrem Profil, die Abwägung der Fakten und Ermittlungsergebnisse deuten klar in Richtung Suizid. Und doch wehren sich die lokalen Behörden, die immer an den Untersuchungen beteiligt sind, vehement dagegen, dies einzuräumen. Das mag in arabisch oder muslimisch geprägten Ländern religiöse Hintergründe haben, in China politische: Was nicht sein darf, kann auch nicht sein.

Was hat sich in den zehn Jahren seit dem Germanwings-Absturz verbessert, um solchen Fällen vorzubeugen? Tatsache ist: noch zu wenig. In ganz Europa etwa muss jetzt bei den regelmässigen fliegerärztlichen Untersuchungen auch die psychische Gesundheit der Piloten geprüft werden. Dafür haben die Fliegerärzte, die üblicherweise keine Psychologen sind, nur eine lediglich mehrstündige Schulung erhalten und müssen Piloten zusätzlich einen Fragebogen zum Thema vorlegen.

Dieser enthält in Deutschland Aussagen wie «Es fällt mir in letzter Zeit schwer, meine Stimmung zu kontrollieren» oder «Es fällt mir schwer, von meiner aktuellen Arbeit und Aufgaben abzuschalten», bei denen der Proband Zustimmung oder Ablehnung angeben muss. Jeder Pilot weiss aber, dass er bei einer «falschen» Antwort sofort seine medizinische Tauglichkeitsbescheinigung und damit seine Karriere riskiert.

«Seit Lubitz kannst du dich auf gar keinen Fall mehr outen, das hat sich verschlimmert», beschreibt es ein langjähriger Kapitän gegenüber der NZZ, der nicht namentlich genannt werden will. Ein anderer, Claus Cordes, ehemaliger Lufthansa-A380-Pilot, sagt: «Der Schummelei ist Tür und Tor geöffnet. Diese Form der Tests ist völlig ungeeignet, um irgendwem mit psychischen Problemen auf die Schliche zu kommen.»

Aber es gibt trotzdem spürbare Verbesserungen in den letzten Jahren, die Betroffenen aus dem Cockpit mehr Offenheit, Möglichkeiten und Auswege bieten. Seit 2019 ist zum Beispiel der sogenannte Peer-Support für alle kommerziellen Flugbetriebe in Europa Vorschrift. Das sind Organisationen von Piloten für Piloten, die Hilfsangebote machen, ohne dass sie einer Meldepflicht für Problemfälle unterliegen wie Ärzte – in Deutschland die Stiftung Mayday.

«Die Zahl der Piloten, die sich hilfesuchend melden, weil es gerade Schwierigkeiten gibt, hat sich vervielfacht», berichtet Gerhard Fahnenbruck, der auch Vorstand bei der Stiftung Mayday ist. «Früher haben wir fast nur Kollegen und Kolleginnen nach schweren Vorfällen wie Feuer an Bord, Fahrwerksschaden oder auch nach dem Tod eines Passagiers betreut. Spätestens seit Corona hat sich die Zahl derer vervielfacht, die sich auch mit persönlichen Problemen melden. Das waren früher nur fünf Prozent unserer Fälle, während es heute die Mehrzahl ist», so Fahnenbruck.

Für psychisch belastete Piloten gibt es mehr Unterstützung

Mayday betreut heute etwa 900 Menschen pro Jahr aus der Luftfahrt. «Das senkt die Wahrscheinlichkeit erheblich, dass sich der Fall Lubitz wiederholt», weiss der Luftfahrtpsychologe. «Die Kollegen können sagen, was mit ihnen los ist, und werden frühzeitig unterstützt, bevor ihre Situation zu einem so grossen Problem wird.»

Was noch fehlt, ist ein legaler, sicherer Raum für Betroffene, sich zu öffnen und trotzdem weiter fliegen zu können wie in Australien. «Dort erteilt die Behörde Piloten die flugmedizinische Tauglichkeit so lange, wie sie leistungsfähig sind und sich in der Obhut und im geschützten Raum eines professionellen Peer-Support-Programms befinden», erklärt Gerhard Fahnenbruck.

Derzeit sind weltweit entsprechende Regelungen in Vorbereitung, doch bis zur Enttabuisierung psychischer Probleme im Cockpit in grösserem Stil könne es noch einige Jahre dauern, schätzt Fahnenbruck. Er erklärt: «Wenn man mit jemandem über das Thema spricht, sinkt die Wahrscheinlichkeit eines tatsächlichen Suizids um 90 Prozent.»

Die Wahrscheinlichkeit einer Wiederholung einer solchen Wahnsinnstat zumindest bei europäischen Airlines wird in der Branche jedenfalls als sehr gering eingeschätzt. «Bei grossen Gesellschaften wie Lufthansa mit Tausenden von Piloten fliegen sicher zehn herum, die ähnliche Probleme haben wie damals Lubitz», sagt ein langjähriger Verkehrspilot. «Aber tatsächlich auf einem Passagierflug Suizid zu begehen wie er, das war ein Black-Swan-Event, ist also extrem unwahrscheinlich.»

Der Luftfahrtpsychologe Gerhard Fahnenbruck pflichtet bei: «Es gibt keine Garantie, dass sich ein Fall wie jener von Lubitz, der noch ohne Hilfsangebote von aussen in einer Spirale gefangen war, nicht wiederholt. Aber die Wahrscheinlichkeit ist in den letzten zehn Jahren deutlich gesunken.»

Fernseh-Dokumentationen zum Germanwings-Absturz

Zum zehnten Jahrestag ist der ARD-TV-Vierteiler «Der Germanwings-Absturz» verfügbar in der Mediathek.

Die drei Folgen der Dokumentation «Germanwings – Was geschah an Bord von Flug 9525» können auf Sky und im Streamingdienst WOW abgerufen werden.

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