Donnerstag, Februar 13

Ein veraltetes Format aus dem veralteten linearen Fernsehen startet in die 20. Staffel – und erhält erst noch doppelt so viel Sendezeit. Wie kann das sein?

Christine steht in einem gelben Bikini vor der Jury. Sie ist sechzehn Jahre alt. Die Anspannung ist Christine ins Gesicht geschrieben. Sie wird nun von der Jury hören, ob ihre Leistung gereicht hat. Ihr Ziel: Germany’s Next Topmodel 2013 zu werden.

Optimieren Sie Ihre Browsereinstellungen

NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.

Bitte passen Sie die Einstellungen an.

«Wir haben uns diese Woche über Fitness unterhalten und übers Essen», beginnt Heidi Klum. Christine nickt und lächelt. «Ich finde es sehr gut, dass du mehr Fitness machst», sagt Klum. «Und deswegen müssen wir schauen, wie du dich verbessert hast.» Christines zuvor schon angespanntes Lächeln weicht von ihrem Gesicht. Der Juror neben Klum schreitet auf die Teenagerin zu und schlingt ein Massband um ihre Hüfte. «Vorher 98 und jetzt?», fragt Heidi. «One hundred, einhundert», sagt der Juror stirnrunzelnd, als er das Massband wieder zusammenrollt.

«Einhundert?», sagt Heidi mit weit aufgerissenen Augen. Die sechzehnjährige Christine lächelt gequält, die Scham steht ihr ins Gesicht geschrieben. Heidi erklärt, sie habe sich eigentlich mit ihr freuen wollen. «Vorher war 98 eigentlich schon eine hohe Zahl», sagt sie ermahnend. «Deswegen bin ich geschockt, dass da jetzt 100 steht.»

Eine minderjährige Kandidatin, die vor den Augen der Jury und Millionen Zuschauer vermessen wird – es sind solche Szenen, die «Germany’s Next Topmodel» seit der ersten Folge vor 18 Jahren prägten.

Mit dem Massband wurde auch die Grösse der Kandidatinnen vermessen: 1,74 sei zu klein, 1,84 hingegen zu gross. Minderjährige Kandidatinnen mussten ihre Akne erklären, während die Kamera auf ihre Stirn zoomte, andere ihr Tattoo auf dem Rücken.

Die Sendung hat Millionen von jungen Frauen im deutschsprachigen Raum gelehrt: Schönheit liegt nicht im Auge des Betrachters, Schönheit hat Zahlen.

Doppelt so viel Sendezeit für kränkelnde Sendung

Am Donnerstag startet die 20. Staffel der Casting-Show. Die Kandidatinnen werden wieder für Fotoshootings posieren, auf dem Laufsteg walken, sich bei Challenges beweisen müssen. Alles wie immer also? Nein, denn etwas hat sich geändert.

Die Sendung heisst heute nicht mehr «Germany’s Next Topmodel», sondern «Germany*s Next Topmodel». Die einst schlanke Frauensilhouette im Logo wurde vor ein paar Jahren zunächst durch eine etwas fülligere Version ersetzt und musste nun einem grossen, weissen X im Schriftzug weichen. Bereits im Logo soll klar werden: Die Show ist nicht mehr die, die sie einmal war.

Zum zweiten Mal wird nicht nur eine Frau siegen, sondern auch ein Mann. Pro Woche sind nun sogar zwei Folgen zu sehen: eine für die Männer und eine für die Frauen.

Ein veraltetes Format aus dem veralteten linearen Fernsehen erhält nun doppelt so viel Sendezeit. Wie kann das sein?

Es ist nicht so, dass «GNTM» heute doppelt so gut funktionieren würde wie damals. Im Gegenteil: Im vergangenen Jahr haben im Schnitt nur noch 1,86 Millionen Zuschauer eingeschaltet – also etwa halb so viele wie zu den Spitzenzeiten von 2008 und 2009. Dennoch ist die Sendung anscheinend nicht totzukriegen. Das liegt vor allem an ihrer Schöpferin.

Die Heidi-Klum-Show

«GNTM» hat sich über die Jahre mehr denn je zur Heidi-Klum-Show gewandelt. Das zeigt sich schon bei der Jury: Statt drei oder vier Stammjuroren wie zu Beginn, ist Klum seit einiger Zeit die einzige fixe Jurorin. Ergänzend holt sie sich stattdessen für jede Sendung eine prominente Figur aus der Mode- und Entertainmentwelt, vom Supermodel Naomi Campbell bis hin zum «Bergretter»-Schauspieler Sebastian Ströbel.

Unter den Fotografen für die Shootings sind enge Freunde von Klum, wobei sie für ein Shooting auch schon selbst zur Kamera griff. Den Titelsong der jeweiligen Staffel vergab Klum in der Vergangenheit mehrfach an die Band ihres Mannes, Tom Kaulitz von Tokio Hotel, oder sie sang ihn gleich selbst ein.

Lilian Suter ist Medienpsychologin an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Sie sagt: «Heidi Klum ist eine Marketingmaschine.» Wie aber schafft sie es, ein Publikum für ein Format im linearen Fernsehen zu begeistern, das sich nicht einmal an die erste Staffel erinnern kann?

Ruhm gegen Follower: eine Win-win-Situation

«Heidi Klum weiss genau, was auf Social Media funktioniert», sagt Suter. Und genau das ist ein Schlüssel: «‹Germany’s Next Topmodel› darf man nicht nur als Fernsehsendung betrachten. Es ist ein crossmediales Phänomen.» Lilian Suter erklärt: «Das Format erreicht seine Zielgruppe auf Social Media und erhält dort offenbar so viel Aufmerksamkeit, dass junge Menschen die Sendung auch tatsächlich schauen.»

Das einstige Supermodel Heidi Klum, 51, erreicht alleine auf Instagram mehr als 12 Millionen Follower. Casting-Aufrufe platziert sie auf ihrem Profil, und mögliche Kandidaten werden zunächst nach ihrer Social-Media-Präsenz gescannt.

Immer wieder sucht Heidi Klum Kandidatinnen aus, die bereits vor ihrer Teilnahme als Influencerinnen tätig waren. Zu ihnen zählten Romina Palm (eine Million Follower) oder Enisa Bukvic (760 000 Follower).

«Es verwundert daher auch nicht, dass die Gewinnerinnen in der Regel keine Topmodels, sondern Influencerinnen werden», sagt Suter. Tatsächlich hat Stefanie Giesinger (Siegerin Staffel 9) heute eine Gefolgschaft von fünf Millionen auf Instagram, Lena Gercke (Siegerin Staffel 1) mehr als drei Millionen. Auch ehemalige Kandidatinnen haben das Sprungbrett genutzt; Anna Maria Damm (Staffel 8) beispielsweise hat gut zwei Millionen Follower.

«Das befruchtet sich gegenseitig», sagt die Medienpsychologin Lilian Suter. «Die Kandidatinnen dürfen sich eine grössere Reichweite erhoffen, und die Sendung wird umgekehrt direkt bei ihrer Zielgruppe beworben.» Ein digitales Perpetuum mobile also.

«GNTM» wurde so divers wie nur möglich

Die Welt hat sich verändert und «GNTM» auch. Jahrelang wurden die unrealistischen Schönheitsideale angeprangert, die Heidi Klum mit ihrer Show zelebrierte. Klum reagierte, indem sie die Regeln irgendwann zu lockern begann – wenn auch erst, als die Sendung immer weniger Zuschauer erreichte.

In der 13. Staffel nahmen erstmals «Curvy-Models», also kurvigere Frauen, teil (wobei sich darüber streiten lässt, ob sie diesen Titel verdienten), in der 15. Staffel zählte ein «Petite-Model» (also kleiner als 167 cm) zu den Kandidatinnen. In der 16. Staffel gewann erstmals eine Transfrau die Show, und in der 17. Staffel war unter den Finalistinnen ein Mutter-Tochter-Gespann. In jenem Jahr nämlich nahm Heidi Klum erstmals «Best Agers», also Frauen über 50 Jahre, «mit auf die Reise».

Egal welche Anforderungen der Zeitgeist an die umstrittene Sendung stellte, Heidi hatte immer eine Lösung bereit. In der letzten Staffel beseitigte sie schliesslich die letzte Ungerechtigkeit: den Ausschluss der Männer.

«Du musst dein Inneres mehr projecten»

Die 19. Staffel verdeutlichte mehr als je zuvor: Schön kann heute alles und jede sein – solange man die Persönlichkeit dazu hat. Bei der ersten Laufstegshow mit Designer Jean-Paul Gaultier standen Männer und Frauen, klein und gross, kräftig gebaut und schlaksig, gemeinsam auf der Bühne.

Gaultier sagte gleich zu Beginn: Er möge das Klischee eines Topmodels nicht, er suche «Persönlichkeit und Individualität». Sogleich schwärmte er über einen Kandidaten mit Tätowierungen bis zum Handrücken: «Ich liebe seinen Style, seine Haare und seine Tattoos!» Statt Wandelbarkeit und Konformität scheinen heute Ausdrucksstärke und Extravaganz gefragt.

Der Kandidat Maximilian trägt Vokuhila und zieht gerne Röcke über Hosen an. «I know it’s a little bit weird, but for me es ist fashion», sagt er mit deutschem Akzent. Er ist Barista, Model und Influencer. Xenia, eine «Curvy»-Kandidatin, möchte Germany’s Next Topmodel werden, um andere Mädchen zu inspirieren, «es auch schaffen zu können».

Die meisten Anwärterinnen und Anwärter sind zwischen 20 und 25 Jahre alt. Minderjährige sind – anders als früher – heute nicht mehr zugelassen.

Und auch die Kritik fällt heute deutlich sanfter aus: «Mir fehlt das Feuer», sagt Heidi. Oder: «Du bist wunderschön. Aber du musst dein Inneres mehr projecten.» Jean Paul Gauthier sagt zu einem anderen Kandidaten: «Mir fehlt die Wucht beim Walk.» Und: «Im Moment funkelst du noch nicht so sehr, wie dein Kleid es tut.»

Warum funktioniert diese Sendung noch immer?

Was sich über all die Jahre nicht verändert hat: Die Protagonisten sind etwa gleich alt wie die Zuschauer. «Das schafft Identifikation», sagt die Medienpsychologin Suter. Und genau in diesem Punkt liegt auch die häufigste Kritik an der Sendung: Sie fördere ein unrealistisches Schönheitsideal.

Tatsächlich hat eine Studie des Internationalen Zentralinstituts für das Jugend- und Bildungsfernsehen (IZI) 2015 gezeigt, dass die Sendung einen direkten Einfluss auf Essstörungen von jungen Frauen hatte. Zwei Drittel der befragten Frauen, die an einer Essstörung erkrankt waren, bestätigten das.

Die Medienpsychologin sagt aber auch: «Es gibt Studien, die zeigen: Die meisten Jugendliche können das durchaus differenzieren und vergleichen sich nicht zwangsläufig mit den gezeigten Kandidatinnen.» Ausserdem liegen die meisten Studien zu «Germany’s Next Topmodel» schon einige Jahre zurück. Lilian Suter: «Es ist zweifelhaft, ob sie auf die heutige Sendung angewendet werden können.»

Heidi Klum äusserte sich über all die Jahre kaum zur Kritik, sie handelte. Und sie wäre nicht Heidi Klum, wenn sie nicht schon die weitere Zukunft der Sendung im Blick hätte. Zu Beginn von «Germany’s Next Topmodel» war sie frischgebackene Mutter, heute fungiert bereits Klums älteste Tochter Leni als Gastjurorin in der Sendung. Sie selbst ist ein erfolgreiches Model – und 1,63 Meter klein.

Exit mobile version