Montag, Oktober 28

Der deutsche Verpackungsspezialist hat sich verkalkuliert, den Markt falsch eingeschätzt und seine Prognose anpassen müssen. Doch die Wachstumsstory ist mittelfristig intakt, und die Aktien sind zu stark abgestraft worden. Eine gute Gelegenheit zum Einstieg.

Es klingt ein wenig nach Science Fiction und Big Brother. Kranke Menschen können sich in den USA mithilfe des Deckels ihres Tablettenbehälters daran erinnern lassen, ihr Medikament rechtzeitig einzunehmen. Denn der intelligente Verschluss meldet über ein Mobilfunksignal an eine Cloud-basierte Softwareplattform, ob und wann der Behälter geöffnet wurde. Daraus kann der Apotheker dann einfach und schnell ableiten, ob die Medizin wie verordnet eingenommen wurde oder er daran per Textnachricht oder Anruf erinnern muss. GxCap nennt der deutsche Verpackungsspezialist Gerresheimer den Verschluss, den er über seine US-Tochter Centor exklusiv an Apotheken in den USA vertreibt. Dafür ist das MDax-Unternehmen eine Partnerschaft mit der Gesellschaft RxCap eingegangen und hat eine Minderheitsbeteiligung erworben.

Viel zum Konzernumsatz trägt der smarte Deckel zwar noch nicht bei, doch es sind solche intelligenten All-in-one-Lösungen, auf die der Verpackungsspezialist aus Düsseldorf verstärkt setzen will, um vom lukrativen Pharmakuchen künftig ein noch grösseres Stück abzubekommen.

Gerresheimer verkauft an Pharmaunternehmen Pens, Inhalatoren, Mikropumpen, Spritzen, Ampullen, Fläschchen und diverse Behälter für flüssige und feste Medikamente mit Verschluss- oder mit Sicherheitssystemen, aus Glas oder aus Plastik – im Prinzip alle erdenklichen Verpackungslösungen für Medikamente ausser die klassischen Blister für Tabletten.

Das Portfolio, aber auch die Anforderungen sind vielfältig. Die Verpackungen müssen mal steril sein, mal deutliche Minusgrade aushalten, mal dürfen sich die Komponenten eines Medikaments erst bei der Verabreichung mischen. Doch eines haben sie immer gemein: Ein Arzneimittel wird stets samt seiner Verpackung zugelassen, um die Sicherheit, die Wirksamkeit und den Schutz vor Fälschungen zu gewährleisten. Der stark regulierte Markt kommt Herstellern wie Gerresheimer zugute, gilt er doch als eine Art Eintrittsbarriere.

80% des Umsatzes generiert Gerresheimer im Pharma- und Healthcare-Bereich. Dazu kommen noch Verpackungen für die Kosmetikbranche (14% des Umsatzes) sowie für die Lebensmittel- und die Getränkeindustrie (6%). Was für Pharmaunternehmen Cent-Artikel sind, ist für Gerresheimer das grosse Geschäft – ohne die Risiken, die die Pharmaindustrie eingehen muss. Dafür aber mit der Chance, an einem stark wachsenden Markt zu partizipieren.

Wachstumswert trotz Prognoseanpassung

Die Aktien von Gerresheimer gelten als Wachstumswert und waren bis vor kurzem ein Liebling der Anleger – bis das Unternehmen Ende September seine Prognose für dieses und nächstes Jahr überraschend anpassen musste. Durch die Revision hat das Management um Vorstandschef Dietmar Siemssen Vertrauen verspielt. Der Wirtschaftsingenieur, dessen Vertrag noch bis Oktober 2026 läuft, kam Ende 2018 vom Autozulieferer Stabilus, den er erfolgreich auf Wachstum getrimmt hatte.

Statt mit einem Wachstum von 5 bis 10% rechnet Gerresheimer für das Geschäftsjahr 2024, das am 30. November endet, mit einem Plus von nur noch 3 bis 4%. Im nächsten Jahr soll der Erlös 7 bis 10% zulegen statt wie zuvor prognostiziert 10 bis 15%. Den bereinigten Ebitda im laufenden Geschäftsjahr taxieren die Düsseldorfer auf 415 bis 430 Mio. € (zuvor: 430 bis 450 Mio. €). Im nächsten Geschäftsjahr peilt Gerresheimer zudem eine Ebitda-Marge von rund 22% an statt mehr als 22%. «Hintergrund ist die deutlich langsamer als erwartet verlaufende Markterholung 2024 und das niedriger als erwartet ausfallende Marktwachstum 2025», liess das Unternehmen verlautbaren. Die Aktien fielen nach der Bekanntgabe um rund 20%.

Zu Zeiten der Coronapandemie, als die Lieferketten gestört waren, haben viele Kunden von Gerresheimer ihre Lager prall gefüllt. Die Geschwindigkeit des Lagerabbaus im Anschluss hat der Verpackungshersteller schlichtweg überschätzt. Nachbestellungen blieben aus. Doch es gibt Lichtblicke. Erste Kunden würden die Orderlevels wieder hochfahren, heisst es in Düsseldorf hinter vorgehaltener Hand. Über Kunden spricht man nicht gern, sie gar beim Namen zu nennen, schliesst die Firmenpolitik aus.

Ein weiterer Grund für die Senkung der Prognose war Hurrikan «Helene», der das Werk für Injektionsfläschchen in Morganton im US-Bundesstaat North Carolina unter Wasser setzte und für mehrere Wochen ausser Betrieb. Ab November sollen dort erste Linien wieder in Produktion gehen, bis zum Jahresende will man wieder weitgehend zum Normalbetrieb übergehen. Wie hoch der Gesamtschaden sei, lasse sich noch nicht beziffern.

Hinzu kommt, dass die Nachfrage nach Glas für die Lebensmittelindustrie geringer ist als gedacht.

Fast alle Analysten sind überzeugt

Und dennoch sind von den achtzehn bei Bloomberg erfassten Analysten sechzehn bullish für Gerresheimer. Gerade einmal zwei stufen die Aktien auf «Halten» ein. Für ein «Sell» spricht sich dagegen niemand aus. Das mag auch daran liegen, dass Gerresheimer die Mittelfristprognose unverändert belassen hat. Der Umsatz sowie der bereinigte Gewinn je Titel sollen durchschnittlich mindestens 10% pro Jahr wachsen. Die bereinigte Gewinnmarge auf Stufe Ebitda bei 23 bis 25% liegen.

Vor allem liegt es aber am Aktienkurs: Gerresheimer gilt an der Börse als massiv unterbewertet. Den Abschlag gegenüber den Mitbewerbern beziffert Alexander Neuberger, Analyst des Bankhauses Metzler, auf 48 bis 55%. Da sich jedoch die Transparenz der Gewinnentwicklung mit der Prognoserevision verschlechtert habe, «kann die Reduzierung dieses Abschlags länger dauern als zuvor erwartet».

Mit anderen Worten: Wieder Vertrauen aufzubauen, kostet Zeit. Dafür sind die Valoren nun noch günstiger zu haben, als sie es ohnehin schon waren. Die Analysten von Stifel glauben, dass der jüngste Kursrutsch «aus langfristiger Perspektive einen attraktiven Einstiegspunkt für die Aktie darstellt». Die Analysten von UBS wiederum erhoffen sich mehr Klarheit nach der Übernahme des italienischen Wettbewerbers Bormioli und dem Kapitalmarkttag im Frühjahr nächsten Jahres. Sie trauen den Titeln dennoch ein Plus von 65% zu.

Gerresheimer betreibt 35 Produktionsstätten in sechzehn Ländern und baut ihre Kapazitäten weiter aus. Allein im Geschäftsjahr 2024 belaufen sich die Nettoinvestitionen auf 350 Mio. €. Der Vorlauf der Investitionen liege bei zwei bis vier Jahren. In den vergangenen vier Jahren hat das Unternehmen etwa im nordmazedonischen Skopje einen neuen Standort für Medizinprodukte und Spritzen aufgebaut. In Berlin und im US-Bundesstaat Ohio hat es Lager für Containment-Lösungen aus Kunststoff errichtet, um nur zwei Beispiele zu nennen. Die Ernte gilt es jetzt einzufahren.

Die Düsseldorfer haben für sich drei Geschäftsfelder definiert: Primary Packaging Glass und Plastics & Devices sowie Advanced Technologies. Letzteres geht noch auf das frühere Management zurück. Es liefe bei einem anderen Unternehmen wohl einfach unter Forschung & Entwicklung und wäre keine eigene Geschäftseinheit, meint ein Analyst. Was Gerresheimer vollkommen richtig mache: Sie stellt nicht nur Produkte zum Aufbewahren von Medikamenten her, sondern auch zur Verabreichung. Die Strategie verspricht mehr aus der Wertschöpfungskette herauszuholen.

Ein grosser Treiber ist dabei die Abnehmspritze. Das blutzuckersenkende Medikament in der Spritze, die auch ein Autoinjektor sein kann, zügelt den Appetit und lässt so die Pfunde purzeln. Eigentlich ist der Rezeptor-Agonist GLP-1 (Glucagon-like Peptide 1) für Diabetes-Patienten gedacht, wirkt aber eben auch Wunder bei Adipositas. Der Markt für GLP-1 ist riesig, neuere Schätzungen gehen von einem jährlichen Volumen von 90 Mrd. $ aus, Tendenz steigend.

Ziel bei Abnehmspritzen: 30% Marktanteil

«Wir wachsen derzeit besonders stark mit Lösungen für grossmolekulare Biopharmazeutika wie GLP-1. Hier zahlt sich die erfolgreiche Transformation im Rahmen unserer Unternehmensstrategie formula g mit der verstärkten Ausrichtung auf diese wachstums- und margenstarken Märkte aus», so Unternehmenschef Siemssen.

Allein auf Basis der abgeschlossenen Verträge rechnet Gerresheimer mittelfristig mit 350 Mio. € Umsatzvolumen durch GLP-1, bei deutlich höherer Marge als bei simpleren Produkten. 30% Marktanteil an GLP-1-Spritzen und -Injektoren strebt der deutsche Verpackungsspezialist an. Der Anteil der Verpackung und der Injektionsgeräte an den Gesamtkosten der GLP-1-Mittel liegt bei etwa 4%.

Die Analysten von Berenberg schätzen das Margenpotenzial in den Segmenten, in denen Gerresheimer langfristig wachsen will, auf 30 bis 40%. «Wachstum können sie, mit der Profitabilität hapert es noch», sagt ein Analyst. Er hält Gerresheimer zugute, dass das China-Exposure gering ist. Gemäss Bloomberg erzielt Gerresheimer 2024 eine Ebitda-Marge von 19,9%. Wettbewerber wie Becton Dickinson (23,5%), Stevanato (25,7%), Schott Pharma (27,9%) und West Pharmaceutical (28,3%) kommen auf höhere Werte. Begründen lässt sich dies auch mit dem Produktportfolio von Gerresheimer, das deutlich breiter ist als das der Konkurrenz.

Günstiger Zukauf in Italien

Mit der Übernahme von Bormioli mit Sitz im italienischen Parma wächst Gerresheimer nun weiter: «Das letzte grosse verfügbare Asset im Markt», kommentiert ein Analyst. Der Kaufpreis sei darüber hinaus attraktiv. Ihm liege «ein ermittelter Unternehmenswert von rund 800 Mio. € zugrunde», heisst es bei Gerresheimer dazu. Das entspricht einem bereinigten Ebitda-Multiple von rund 10. Noch ist der Deal nicht in trockenen Tüchern, aber die Überschneidungen sind gering.

Während Gerresheimer ihre Stärken vor allem bei pharmazeutischem Glas des Typs 3 hat, das am häufigsten hergestellt und etwa für Tablettenbehälter, aber auch für Lebensmittel und Getränke verwendet wird, konzentriert sich Bormioli insbesondere auf die Qualitätsstufe Typ 1. Der auch als neutral bekannte Typ 1 ist ein Borosilikatglas mit guter chemischer Beständigkeit. Es wird zum Beispiel für vorfüllbare Spritzen oder für Ampullen verwendet.

Am Markt wird schon länger darüber spekuliert, dass Gerresheimer ihr energie- und kapitalintensives Glasgeschäft und im Speziellen nun die Formglassparte Moulded Glass samt Bormioli abspalten oder verkaufen könnte. Wettbewerber wie West Pharmaceutical arbeiten hauptsächlich mit Kunststoff oder mit Röhrenglas (Tubular Glass). Für Gerresheimer wäre dies allerdings ein Bruch mit der Tradition. Man scheint in der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt ein wenig stolz zu sein auf das breite Sortiment.

Wenn man den Düsseldorfern Glauben schenkt, wird der Einstieg des Investors Ricky Sandler daran auch nichts ändern. Der Chef des Hedge Fund Eminence Capital hat den günstigen Kurs genutzt und sich 5,43% an Gerresheimer gesichert. Sandler sei bereits im Sommer mit dem MDax-Unternehmen in Kontakt getreten. Die Düsseldorfer beteuern, er habe keine aktivistischen Absichten. Für die Aktienkursentwicklung wäre es allerdings vermutlich eher förderlich. Wer einen längeren Atem hat, der nutzt wie Sandler den günstigen Kurs bei Gerresheimer jetzt ebenfalls zum Einstieg.

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