Donnerstag, September 19

Die Brüder Zürcher verstehen sich auf kaputte Familien. Doch «Der Spatz im Kamin» ruft nach frischer Luft.

In seinem brillanten Buch «Träume von Räumen» hat Georges Perec jene unbestimmbaren Distanzen ausgelotet, die sich zwischen Architekturen und Gefühlen öffnen. «Der Raum ist ein Zweifel», heisst es da. «Ich muss ihn unaufhörlich abstecken, ihn bezeichnen; er gehört niemals mir, er wird mir nie gegeben, ich muss ihn erobern.» Die Brüder Zürcher verfolgen derlei Gedanken in ihrem inzwischen dritten Langfilm geradezu obsessiv.

Nach «Das merkwürdige Kätzchen» und «Das Mädchen und die Spinne» wagt sich «Der Spatz im Kamin» mit Ausnahme des obligatorischen Tieres im Titel aber doch in neue Gefilde. Denn die Träume drohen diesmal die Räume aufzulösen. Statt bei der gewohnt geradezu klaustrophobisch in Innenräumen angeordneten Studie zwischenmenschlicher Regungen in einer ziemlich kaputten Familie zu verweilen, kippt der Film nach und nach in eine quasisurreale Subjektivität. Das war in den vorherigen Filmen bereits angelegt, hier wird es auf die Spitze getrieben. Aus Georges Perec wird dann Dario Argento, aus Subtilität werden metaphorische Holzhämmer.

Schöner wohnen im Seeland

Die Handlung entfesselt sich rund um oder besser in einer Frau namens Karen, die merkwürdig passiv durch ihren eigenen Haushalt auf einem ländlichen Bilderbuchanwesen im bernischen Rapperswil wandelt. Stellenweise unfähig zur Liebe findet sie sich in zahlreichen gehässigen Dialogen mit ihren zwei Kindern und ihrem Partner. Das löst der Film fast immer gleich auf: Zwei Menschen unterhalten sich in halbnahen Einstellungen in verschiedenen Zimmern des Hauses. Irgendwann folgt ein Schnitt, und man sieht, dass noch eine andere Person im Raum war, die alles mitgehört hat. Schliesslich gehen alle auseinander, und die Kamera hält noch einige Sekunden auf das sprachlose Gesicht einer der Personen.

Vage Emotionen, dazu somnambule Filmmusik klassischer Natur, jene Sorte, die einen einlullt mit Melodien, die mehr versprechen, als es zu sehen gibt. Die Wände hatten jedenfalls selten so penetrante Ohren wie hier. Niemand sagt, was eigentlich ist, und trotzdem hören alle mit und verstehen mehr und mehr von dem, was unausgesprochen bleibt. In sich endlos wiederholenden Schleifen zelebriert der Film das Ätzende am menschlichen Miteinander.

Da wird geerbtes Geschirr willentlich zu Scherben geschlagen, eine Katze in der laufenden Waschmaschine ermordet, werden Bösartigkeiten ausgetauscht, während blutende Kinder in den Korridoren stehen und ihren Eltern zuhören, wenn sie streiten oder schlecht über sie reden. Familienmitglieder kommen zu Besuch, und weitere Krater offenbaren sich, die ein harmonisches Zusammenleben verunmöglichen. Seltsam ist, dass es immer weitergeht, dass nicht alle übereinander herfallen.

Man mag es auf die Traumlogik schieben, vielleicht aber liegt es auch daran, dass sich zwischendurch ein wenig Wärme zeigt. Die hängt zum einen an einer sich langsam entblätternden Geschichte rund um den Selbstmord des Grossvaters, dem das Haus gehörte, und zum anderen an den Darstellern, allen voran Maren Eggert als Karen, die ständig das Unausgesprochene hervorholt, das Verschwiegene zeigt.

Getier, Blut, Feuer

Eggert, sicherlich eine der faszinierendsten deutschen Darstellerinnen der letzten zwanzig Jahre, zeigt die schwer zu greifenden Wirkweisen eines Traumas in einer Mischung aus Verletzlichkeit und Aggression. In ihr allein hinterfragt der Film seinen eigenen Fokus auf die Räume des Hauses, denn ihr Verhalten deutet auf die fliessenden Grenzen zwischen innen und aussen, sie ist das Fenster oder Scharnier, das der Film händeringend sucht. Ohne dieses Haus wäre Karen nicht, wie sie ist, oder ist es andersherum?

Man fragt sich, warum der Regisseur Ramon Zürcher so viel Inszenierungskraft aufbringt, um den eigentlichen Kern seines Films zu verdecken. Es scheint, als würde der eigene Stil hier wichtiger als die Figuren. Ein bisschen wie am Reissbrett folgt der Film (Produktion Silvan Zürcher) so bestimmten Motiven wie auftauchendem Getier, Blut, Feuer und immer stärker hervortretenden Traumlogiken.

Vom titelgebenden Spatz über Blicke durchs Fenster bis zu abbrennenden Gebäuden wird alles zur möglichen Metapher. Die Gefahr: Wenn der Film seinen emotionalen Kipppunkt erreicht und die unerträglichen Verhaltensweisen eine humane Grundierung erfahren, sind einem die Figuren eigentlich egal. Dann kann man den Filmemachern applaudieren, dass sie ihr Konzept erfolgreich durchexerziert haben, mehr nicht. «Burning Down the House» heisst ein berühmter Song der Talking Heads, und vielleicht stehen die Flammen am Ende des Films auch für die Sehnsucht der Zürchers nach etwas Neuem, ein bisschen frischer Luft.

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