Mittwoch, April 30

Noch bevor der Inhalt des Vertragswerks mit der EU bekannt ist, will der Bundesrat die Frage beantworten, ob dem Abkommen neben dem Volk auch die Stände zustimmen müssen. Ignazio Cassis gibt den Ausschlag. Er dürfte sich gegen das Ständemehr aussprechen.

Alfred Gantner, Mitgründer der Partners Group und Mitinitiant der Kompass-Initiative, hatte gestern Dienstag seinen grossen Auftritt. Noch bevor die 100 000 nötigen Unterschriften gesammelt sind, kündigte er an, unter welchen Bedingungen das Volksbegehren zurückgezogen wird: «Wenn Bundesrat und Parlament das doppelte Mehr anordnen und wenn Volk und Stände Ja sagen zur institutionellen Anbindung an die EU, dann ziehen wir unsere Initiative zurück und akzeptieren den Entscheid», erklärte Gantner.

Optimieren Sie Ihre Browsereinstellungen

NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.

Bitte passen Sie die Einstellungen an.

Die Initiative soll im Sommer eingereicht werden. Sie fordert zum einen eine «eigenständige Aussenwirtschaftspolitik», die die demokratischen Rechte des Volkes und die Eigenständigkeit der Kantone wahrt, und zum andern das doppelte Mehr bei relevanten völkerrechtlichen Verträgen.

Offenbar haben Gantner und seine Mitstreiter ein Gefühl für Timing. Denn wie mehrere unabhängige Quellen bestätigen, will der Bundesrat heute Mittwoch über die Frage entscheiden.

Der Bundesrat ist gespalten

Leicht wird ihm der Entscheid nicht fallen. Denn der Bundesrat ist in dieser Frage gespalten. Innenminister Beat Jans (SP) hat schon mehrfach klargemacht, dass aus rechtlicher Sicht einzig das fakultative Referendum mit einfachem Volksmehr infrage komme. Der neue Mitte-Bundesrat Martin Pfister äusserte sich vor seiner Wahl ähnlich.

Auch Elisabeth Baume-Schneider (SP) dürfte der Ansicht sein, dass die neuen Verträge lediglich dem fakultativen Referendum unterstehen sollen. Anders sehen dies die beiden SVP-Bundesräte Guy Parmelin und Albert Rösti. Als kritisch gilt auch FDP-Finanzministerin Karin Keller-Sutter. Den Ausschlag gibt also Aussenminister Ignazio Cassis. Er gilt als Befürworter des fakultativen Referendums. Erwartet wird, dass der Entscheid im Verhältnis 4:3 fällt – gegen ein doppeltes Mehr.

Rechtlich nicht nötig – aber wie sieht das politisch aus?

Und wieso diskutiert der Bundesrat überhaupt über eine solche Frage? Klar ist: Rein rechtlich gesehen unterstehen die neuen EU-Verträge nicht dem obligatorischen Referendum. Dieses kommt nur beim Beitritt zu supranationalen Gemeinschaften wie der EU oder Organisationen kollektiver Sicherheit wie der Nato zur Anwendung.

Daneben gibt es allerdings die Tradition eines ausserordentlichen «Referendums sui generis», das nicht in der Verfassung festgeschrieben ist. Das bedeutet, dass das Parlament Staatsverträge einem obligatorischen Referendum mit doppeltem Mehr unterstellen kann, wenn ihnen «Verfassungscharakter» zukommt.

Stände verhinderten Ja zum EWR-Beitritt

Diese Auffassung kam beispielsweise bei der Abstimmung über den EWR zum Tragen. Das Stimmvolk entschied sich am 6. Dezember 1992 mit einem Nein-Anteil von 50,3 Prozent knapp gegen die Vorlage. Eine deutliche Mehrheit der Kantone lehnte die Vorlage ebenfalls ab.

Die Diskussion um das Ständemehr ist mittlerweile zur Gretchenfrage geworden: Befürworter des Vertragswerks mit der EU pochen in der Regel darauf, dass ein einfaches Volksmehr genügt. Gegner des Abkommens sehen es umgekehrt: Sie fordern, dass es für die Zustimmung zu einem Abkommen, das so tief in das politische und rechtliche Räderwerk der Schweiz eingreift, das Ja von Volk und Kantonen braucht.

Bei Experten ist die Frage umstritten. Jans’ Bundesamt für Justiz entschied im vergangenen Jahr unerwartet klar, dass ein doppeltes Mehr unzulässig sei. Es gebe keine Verfassungsgrundlage dafür, ein Ständemehr zu verlangen. Rechtlich gesehen müsse der Bundesrat das Vertragswerk dem fakultativen Referendum unterstellen. In der Abstimmung genüge das Volksmehr.

Die Hürde bei einem doppelten Mehr ist höher

Diese Auffassung teilen nicht alle: Der Staatsrechtler Paul Richli sagte kürzlich, das Stimmrecht des Volks werde auf gravierende Weise beschränkt. Die Argumentation des Bundesamts für Justiz überzeuge nicht. Gegenteilig äussert sich Astrid Epiney, Professorin für Europa- und Völkerrecht sowie öffentliches Recht an der Universität Freiburg. Ihrer Auffassung nach ist eine rechtliche Grundlage für die Zulässigkeit eines Staatsvertragsreferendums sui generis «nicht zu erkennen».

Sicher ist: Wird das doppelte Mehr verlangt, ist die Hürde für das Abkommen höher. Nimmt man frühere Europa-Abstimmungen als Basis, benötigen die neuen Verträge ein Volksmehr von 55 Prozent oder mehr, um das Ständemehr zu erreichen.

Und wie sehen es die Kantone selbst? Die Konferenz der Kantonsregierungen (KdK) hat sich in der Vergangenheit stets positiv zu den Verträgen geäussert. Ein Nein zum doppelten Mehr wäre keine Überraschung. Damit die KdK offiziell im Namen der Kantone sprechen darf, müssen ihrer Stellungnahme mindestens 18 Kantone zustimmen.

Präsidenten von Mitte und FDP für Ständemehr

Umstritten ist die Frage des Ständemehrs bei den Parteien. SP, Grüne und GLP sind der Ansicht, dass ein Volksmehr genüge. Die SVP spricht sich klar für ein doppeltes Mehr aus, die FDP und die Mitte sind gespalten. Der Noch-Mitte-Präsident Gerhard Pfister gilt als Verfechter des Ständemehrs. Als die Aussenpolitische Kommission des Nationalrates kürzlich beschloss, dem Bundesrat zu empfehlen, das Abkommen mit der EU nicht dem obligatorischen Referendum zu unterstellen, stimmte er aus staatspolitischen Überlegungen dagegen.

Deutlich geäussert hat sich der FDP-Präsident Thierry Burkart. Im vergangenen Sommer sagte er: «Wenn das Verhandlungs­ergebnis überwiegend im Interesse der Schweiz liegen sollte, kann man es selbstbewusst vor Volk und Ständen vertreten.» Offiziell will sich die Partei von Aussenminister Cassis aber erst im Oktober äussern.

Offen bleibt die Frage, weshalb der Bundesrat den Entscheid über das Ständemehr fällen will, bevor er das Vertragspaket offiziell verabschiedet hat und bevor dessen Inhalt der Öffentlichkeit bekannt wird. Das soll erst im Juni der Fall sein.

Die wahrscheinlichste Antwort ist: Angesichts der Ablehnung und der Skepsis bei den bürgerlichen Parteien will er ein Zeichen setzen: für das Vertragswerk.

Abschliessend entscheidet das Parlament, welches Referendum nun gilt. Mit der Volksabstimmung, mit oder ohne Ständemehr, ist frühestens 2028 zu rechnen.

Exit mobile version