Freitag, Oktober 18

Italiens Regierungen pumpen seit Jahrzehnten viel Geld in den Mezzogiorno. Der wirtschaftliche Abstand zwischen Norden und Süden wächst trotzdem. Können milliardenschwere EU-Programme die Wende bringen?

Als Pier Paolo Pasolini 1964 seinen von der Kritik gefeierten Film «Das 1. Evangelium – Matthäus» vorstellte, waren viele Italiener schockiert. Denn der im süditalienischen Matera vor allem mit Laiendarstellern gedrehte Streifen zeigte auch die schreiende Armut der Menschen, die mit ihrem Vieh in feuchten Grotten lebten. Matera war ein Symbol für die Rückständigkeit Süditaliens.

Heute ist die Höhlenstadt ein Touristenmagnet, und sie war 2019 sogar europäische Kulturhauptstadt. In den verschachtelten Häusern und in den in den Tuffstein geschlagenen Grotten sind vielfach luxuriöse Hotels und Gäste-Appartements eingerichtet worden. Der Wohlstand ist sichtbar.

Im Süden arbeitet nicht einmal jeder Zweite

Die extreme Armut von damals gibt es zwar nicht mehr. Doch der wirtschaftliche Abstand zwischen Süd- und Norditalien wächst dennoch. Dies lässt sich anhand weniger Zahlen illustrieren: Der Mezzogiorno, also die Regionen Abruzzen, Apulien, Basilikata, Kampanien, Kalabrien, Molise, Sardinien und Sizilien, trug 2020 nur 22 Prozent zum Bruttoinlandprodukt (BIP) Italiens bei. 1995 waren es noch 24 Prozent gewesen. Das im Süden erwirtschaftete BIP pro Kopf ist nur halb so hoch wie im Norden.

Die Beschäftigungsquote bei den 15- bis 64-Jährigen lag 2021 im Norden bei 58,2 Prozent, im Süden bei nur 44,8 Prozent. Dort arbeitet nur ein Drittel der Frauen. Im Norden ist es fast die Hälfte. Und zwischen 2002 und 2021 wanderten 2,5 Millionen Süditaliener ab, vor allem jüngere und gut ausgebildete Arbeitskräfte. Mit rund 20 Millionen Menschen wohnt etwa ein Drittel der Bevölkerung im Mezzogiorno.

Auch die jüngste Pisa-Studie spiegelt die Kluft wider: Während die Schüler in Norditalien fast so gut abschnitten wie die «Europameister» in Estland, lagen diejenigen aus Süditalien deutlich unter dem Durchschnitt.

Dabei pumpen Rom und Brüssel seit Jahrzehnten viele Milliarden in den Süden. Davon zeugen Strassen und Brücken, die im Nichts enden, oder das einst grösste Industrieareal Süditaliens mit einem Stahl-, Chemie- und Zementwerk im Stadtteil Bagnoli in Neapel. Die Reste der 1992 geschlossenen Anlagen rosten vor sich hin.

Auch die 2011 geschlossene Fiat-Fabrik im sizilianischen Termini Imerese sucht eine Nachfolgenutzung. Das gigantische Stahlwerk von Taranto in Apulien wurde gerade unter staatliche Zwangsverwaltung gestellt.

Milliardensegen aus Brüssel

«Die Kluft zwischen Nord- und Süditalien ist seit der Einigung des Landes 1860 gewachsen – mit Ausnahme der Zeit zwischen 1950 und 1970», sagt die renommierte Ökonomin Lucrezia Reichlin, Professorin an der London Business School: «Viele Historiker sind der Auffassung, dass das Wirtschaftsmodell Italiens den Norden begünstigt hat, nicht den Süden, auch weil entsprechende Reformen gefehlt haben.»

Neuere Studien zeigten, dass die umfangreichen Transfers in den Süden in den ersten 25 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg dagegen ein Erfolg gewesen seien. In dieser Zeit sei die Konvergenz gewachsen: «Die Interventionen hatten auch nachhaltige Auswirkungen auf Produktivität und Beschäftigung», so Reichlin.

Auch wegen des zunehmenden Gewichts der lokalen Politik und der Korruption sowie durch die Zersplitterung von Entscheidungsprozessen sei die positive Entwicklung etwa 1970 beendet worden. In jüngster Zeit habe zusätzlich das Fehlen von Reformen dazu beigetragen, dass europäische Strukturhilfen nur magere Erfolge brachten.

Geld allein kann jedenfalls keine Lösung sein. Dennoch kann der Süden einen neuen Geldsegen erwarten. Mithilfe des europäischen Wiederaufbauprogramms Next Generation EU wird ein neuer Anlauf unternommen. 40 Prozent der 191,5 Milliarden Euro, die Italien als grösster Nutzniesser des Programms erhält, gehen in den Süden. Zusammen mit weiteren EU-Programmen sind es für Italien sogar 237 Milliarden Euro. «Eine Jahrhundertchance», sagt Fabio De Felice, Professor an der Università degli Studi in Neapel sowie Chef und Gründer des IT-Dienstleisters Protom. Er beklagt das «Fehlen einer klaren Vision, eines Projekts».

Der Süden hat etwas zu bieten

Dabei sind im Süden durchaus Kompetenzen vorhanden, an die man andocken kann. Im Salento, ganz unten am Stiefelabsatz, ist eine hochwertige Luxus-Schuh- und -Taschen-Industrie entstanden, die für Christian Louboutin, Gucci, Valentino, Louis Vuitton oder Dior produziert. Der LVMH-Chef Bernard Arnault hat dort investiert.

Um Neapel gibt es ein IT-Cluster. Apple bildet am Vesuv zusammen mit der neapolitanischen Universität Federico II jährlich Hunderte von Software-Entwicklern aus. Deloitte hat eine Digital Academy gegründet. Auch die Luft- und Raumfahrtindustrie der Hafenstadt ist sehr leistungsfähig.

Und nirgendwo anders in Italien werden Sonnen- und Windenergie so intensiv genutzt wie im Süden. Der italienische Energieversorger Enel hat im April 2023 im sizilianischen Catania die grösste Anlage Europas zum Bau von Solarzellen und Solarpaneelen eröffnet.

Dennoch ist Reichlin nicht sehr optimistisch. Im europäischen Wiederaufbauprogramm würden nur «existierende Projekte zusammengeführt, aber es gab keine allgemeinen Überlegungen über Prioritäten und wie vorzugehen ist. Es fehlte die Zeit, und es gab seit dem Start des Programms drei Regierungen.» Sie wolle nicht zu pessimistisch sein. Die Investitionen würden sicher das Wachstum ankurbeln. Aber eine dauerhaft positive Entwicklung in Gang zu setzen, bleibe schwierig.

Auch Reichlins Kollege Tito Boeri von der Bocconi-Universität in Mailand hält wenig von dem milliardenschweren Geldsegen. Es sei plötzlich viel zu viel Geld da. «Die Verwaltungen im Süden sind nicht in der Lage, es vernünftig auszugeben», fürchtet er. Boeri ist Autor des Buches «Europäisches Wiederaufbauprogramm – das grosse Saufgelage». Der Titel spricht Bände.

Korruption wegen fehlender Ausschreibungen

Dass auf Betreiben des Vize-Regierungschefs Matteo Salvini bei Projekten, die weniger als 5,3 Millionen Euro kosten, auf Ausschreibungen ganz verzichtet wird, hält Boeri für falsch. Freihändige Vergaben überforderter Verwaltungen und fehlende Kontrollen öffneten kriminellen Organisationen wie Camorra oder Mafia Tür und Tor.

Ivo Allegro, Chef des international tätigen Finanzberaters Iniziativa, ist der Auffassung, es müssten zuerst einmal die mit dem Erhalt des Geldes verbundenen Reformversprechen umgesetzt werden: von einer Justiz- über eine Verwaltungsreform bis hin zur Öffnung von Märkten. Italien liefert nicht und setzt versprochene Reformen teilweise seit Jahrzehnten nicht um.

Salvini trommelt derweil lieber medienwirksam für den Bau einer Brücke zwischen Sizilien und dem Festland. Die geschätzten Kosten belaufen sich auf 13,5 Milliarden Euro. Es handelt sich um ein Prestigeprojekt. Denn im Süden selbst ist die Infrastruktur oft miserabel. Für die 60 Kilometer von Bari nach Matera fährt man mit dem Zug mindestens zwei Stunden. Die schnellste Zugverbindung für die 350 Kilometer lange innersizilianische Strecke zwischen Syrakus und Trapani dauert elf Stunden und neun Minuten – vier Mal muss man umsteigen.

Für die Ökonomin Reichlin ist es entscheidend, in die Qualität der öffentlichen Verwaltung zu investieren, in Pilotprojekte mit starken externen Effekten und eine zentralisierten Verwaltung. Langfristig sollte man sich um die Schulen und die Ausbildung im Allgemeinen kümmern. Kurzfristig sollte der Fokus auf die Bekämpfung der hohen Zahl von Schul- und Universitätsabbrechern gelegt werden.

Ein Mittel dazu: ein oder zwei Pole der Spitzenforschung, zum Beispiel in Neapel. Dies sei besser, als alle Universitäten mit Geld zu überhäufen. Alte Industrieanlagen zu sanieren und neu auszurichten, gehört auch dazu. Hierbei gilt es auch die Wirkungen auf die Umwelt zu beachten.

Italiens Schulden nehmen weiter zu

Seit Anfang Jahr ist ganz Süditalien eine steuerbegünstigte Sonderwirtschaftszone. Vereinfachte Verfahren, einheitliche Ansprechpartner und niedrigere Steuern sollen Investitionen fördern. Ist das der richtige Weg? Reichlin zweifelt daran. Sie plädiert für ausgewählte Sonderwirtschaftszonen. Es gebe zu viele davon, was zu einem wahllosen Geldverteilungsmechanismus geführt habe.

Tito Boeris Fazit macht auch nicht viel Hoffnung. Das viele Geld aus Europa wecke Begehrlichkeiten: «Am Ende wird Italien noch mehr Schulden haben, seine strukturellen Probleme aber nicht gelöst haben», so seine Warnung.

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