Montag, November 25

Mithilfe des schwerbewaffneten Hizbullah haben es die einst armen Schiiten in Libanon zu Macht und Einfluss gebracht. Nun drohen sie alles zu verlieren.

Rail kann es kaum erwarten, in den Kampf zu ziehen. «Wir werden die Feinde aus unserem Land jagen», sagt er. Noch hat es der 40-jährige Schiit, der gemeinsam mit seiner Familie aus einem kleinen Dorf in Südlibanon nach Beirut geflohen ist, aber nicht an die Front geschafft. Stattdessen sitzt er an der Corniche, der Uferpromenade der libanesischen Hauptstadt, vor einem improvisierten Zelt auf einem Plastikstuhl und raucht Wasserpfeife.

Ab und zu kommen andere Männer vorbei und grüssen ihn. Sie sind wie er und Hunderttausende weitere aus den umkämpften Gebieten Libanons geflohen. Sie stammen aus Städten wie Tyros oder Nabatiye. Oder von weiter südlich, aus Dörfern nahe der Grenze, wo sich Israels Armee und der Hizbullah heftige Kämpfe liefern. Dort sind ganze Landstriche zu Todeszonen geworden. «Ich weiss nicht, was aus meinem Haus geworden ist», sagt Rail. «Aber das spielt jetzt keine Rolle. Das Wichtigste ist, dass wir siegen.»

Noch scheint ein Sieg aber nicht in Sicht. Stattdessen durchleben Libanons Schiiten – die zahlenmässig grösste der 18 Religionsgemeinschaften des Landes – ein kollektives Trauma. Fast alle von ihnen sind auf der Flucht, leben in Schulen, bei Verwandten, in Hotelzimmern oder wie Ali auf der Strasse. Ihre Dörfer und Städte sind leergefegt und verwandeln sich unter dem israelischen Bombardement in Ruinenlandschaften. Viele Menschen fürchten, nie mehr zurückkehren zu können.

Die Schiiten sind zu Bittstellern geworden

Dabei waren die Schiiten bis vor kurzem die eigentlichen Herren in der strikt konfessionell ausgerichteten Politik Libanons. Der schiitische Hizbullah dominierte mithilfe seiner Waffen, seiner disziplinierten Kader und seines engen Bündnisses mit Iran das Land nahezu uneingeschränkt. Nichts ging ohne das Einverständnis der Truppe. Ihr Chef Hassan Nasrallah konnte Zeit seines Lebens allein mit der Ankündigung einer Rede Libanon zum Stillstand bringen.

Jetzt ist Nasrallah tot, und der Hizbullah ist nach den Hammerschlägen der Israeli – die Anfang September die gesamte Führungsriege töteten – schwer in Bedrängnis geraten. Die einst selbstbewussten Schiiten sind zu Bittstellern geworden. Ausgebombt und mittellos sind viele von ihnen in den als sicher geltenden Gegenden der übrigen Religionsgemeinschaften gestrandet. Dort werden sie zwar mit offenen Armen empfangen. Je länger der Krieg andauert, desto mehr schlägt ihnen jedoch Misstrauen und Wut entgegen.

Das liegt nicht nur daran, dass viele Christen oder Sunniten fürchten, unter den Flüchtlingen könnten sich Hizbullah-Kader verstecken. Manche verzeihen den Schiiten nicht, dass der Hizbullah den Krieg gegen Israel im letzten Oktober in kompletter Eigenregie begonnen hat. Bis vor kurzem hätten die schiitischen Politiker sie wie Laufburschen behandelt, klagt ein christlicher Politberater in Beirut: «Jetzt, da sie alles an die Wand gefahren haben, reden sie plötzlich von Solidarität.»

Immer wieder kommt es zu Spannungen. In der Küstenstadt Sidon südlich von Beirut sind Hunderte schiitische Flüchtlinge aus Südlibanon in einer Schule untergekommen. Diese wird von einer sunnitischen Stiftung betrieben. Eine Geflüchtete, die ihren Namen nicht nennen will, klagt, dass die Schiiten die Einzigen seien, die sich Israel entgegenstellten. «Wir werden diskriminiert», ruft sie, ehe ein Mitarbeiter der Stiftung dazwischengeht. «Als du um Nasrallah getrauert hast, haben wir das respektiert», fährt der Mann sie an. «Jetzt respektiere gefälligst du uns.»

Ein unaufhaltsamer Aufstieg

Dass die Stiftung ausgerechnet den Namen des mutmasslich vom Hizbullah ermordeten ehemaligen Ministerpräsidenten Rafik Hariri trägt, befeuert die Wut des sunnitischen Helfers zusätzlich. Die schiitischen Politiker versuchen derweil, ihre zwischen Wut, Trauer und Angst schwankende Gemeinschaft zu schützen. Weil der Hizbullah aufgrund der israelischen Angriffe in den Untergrund gegangen ist, fällt diese Rolle der anderen grossen Schiiten-Partei zu: der Amal-Bewegung und ihrem Chef, dem Parlamentspräsidenten Nabih Berri.

In Berris Residenz im Westen von Beirut geben sich derzeit die Abgesandten westlicher Staaten die Klinke in die Hand. Der 86-Jährige ist mit dem Hizbullah verbündet und soll Druck auf die Truppe ausüben. Wie viel Einfluss der greise Impresario der libanesischen Politik hat, ist allerdings ungewiss. Die dringlichste Aufgabe bestehe erst einmal darin, den Krieg zu beenden, sagt sein Berater Ali Hamdan. «Israels Armee besetzt unser Land, Hunderttausende sind auf der Flucht. Das ist nicht nur ein Krieg gegen die Schiiten, sondern gegen Libanon.»

Hamdan, der in einem dunklen Besprechungszimmer voller Polstermöbel sitzt, hat lange Jahre in der libanesischen Politik verbracht. Er war schon in den Achtzigerjahren dabei, als der Aufstieg der Schiiten begann. In den Jahrzehnten davor galten die Angehörigen dieser Minderheit, die sich in der Frühzeit des Islams von der Mehrheit der Sunniten abgespalten hatte, als die Ärmsten der Armen in Libanon. Viele fristeten ein tristes Dasein als Bauern oder Arbeiter auf den Feldern Südlibanons und in den Slums von Beirut.

Doch als sich im Bürgerkrieg der siebziger und achtziger Jahre die dominierenden Christen und Sunniten gegenseitig zerfleischten, schlug die Stunde der Schiiten. Ihre Kampforganisationen – erst die säkulare Amal, später der islamistische, vom revolutionären Iran unterstützte Hizbullah – rollten das Feld sozusagen von hinten auf. Nach dem Ende des Krieges 1990 durfte der Hizbullah als einzige Miliz seine Waffen behalten. Zudem schaffte er es im Jahr 2000, die Israeli aus Südlibanon zu vertreiben.

«Viele fürchten, alles zu verlieren»

Mit Disziplin und Brutalität weitete die Truppe ihre Macht immer weiter aus. Jüngst hatte sie den schwachen und bankrotten libanesischen Staat nahezu völlig unterworfen. Doch die Bevölkerung, die der Hizbullah zu vertreten vorgibt, ist nicht homogen. Viele Schiiten lehnen seine proiranische Ideologie ab. Andere stiegen in die Mittel- oder Oberschicht auf, machten Geld im Ausland und schickten ihre Kinder auf gute Schulen. Dahiye, die südliche Vorstadt von Beirut, ist daher kein strammes Hizbullah-Militärlager, sondern eine durchmischte Gegend.

«Gleichzeitig ist das Viertel aber immer noch konservativ, und Andersdenkende wagen es oft nicht, ihre Meinung zu sagen», sagt eine Frau, die dort gross geworden ist, am Telefon. Die 34-Jährige, die ihren Namen nicht nennen will, entstammt einer typischen schiitischen Aufsteigerfamilie. Ihr Vater brachte es durch Geschick und harte Arbeit zu einem Vermögen. Sie selbst ist liberal, geht gerne feiern und kann mit der auf ewigen Kampf ausgerichteten autoritären Politik des Hizbullah nichts anfangen.

Trotzdem musste auch sie fliehen. Im Gegensatz zu ihren mittellosen Glaubensgenossen kam sie im Zweithaus ihrer Familie unter – in den christlich dominierten Bergen. Der Krieg breche ihr das Herz, sagt sie. Ihre Gemeinschaft sei nicht zuletzt wegen der Politik des Hizbullah zum Spielball fremder Mächte geworden. «Die derzeitige Lage ist gefährlich. Viele Schiiten fürchten, alles zu verlieren und wieder ganz unten zu landen. Das könnte im schlimmsten Fall für Unruhen sorgen.»

Sie hofft, dass der Krieg so schnell wie möglich endet. Darüber entscheidet auf libanesischer Seite jedoch allein der Hizbullah. In welchem Zustand sich die Miliz befindet, weiss niemand. Zwar scheinen ihre Kämpfer den Israeli in Südlibanon Verluste beizubringen und schiessen vermehrt auch präzise Raketen über die Grenze. Doch die Führungsebene ist bis auf den angeblich nach Teheran geflohenen neuen Chef Naim Kassem komplett ausradiert worden. Viele vermuten, die Truppe werde inzwischen von Iran aus ferngesteuert.

«Wir wollen unsere Kinder nicht sterben sehen»

In ihren Stammlanden ist sie aber immer noch mächtig. Am Stadtrand von Baalbek, der Hauptstadt der schwer bombardierten Bekaa-Ebene, empfängt Shafik Shadi, der Chef der lokalen Bürgermeistervereinigung, am 24. Oktober in einem blitzblanken Büro. «Ohne den Hizbullah hätten wir hier nicht einmal Strom», sagt der Funktionär, der selbst der Miliz angehört. Die Lebensmittelrationen für die Bedürftigen würden ebenfalls vom Hizbullah stammen. «Unsere Hilfswerke funktionieren noch. Daran haben die israelischen Angriffe nichts geändert.»

Der Verlust von Hassan Nasrallah sei zwar ein Schock gewesen, so Shadi. «Aber am Ende mussten wir damit rechnen, dass unsere Führer zu Märtyrern werden. Unsere Bewegung ist nicht von ihnen abhängig.» Baalbek – jene Stadt, in der der Hizbullah 1982 gegründet wurde – wirkt schon beim Besuch vor einer Woche wie leergefegt. Auch hier hat der Krieg grosse Schäden angerichtet. In der gemischtreligiösen Stadt, die für ihre römischen Tempelanlagen bekannt ist, sind zerstörte Gebäude und von Staub verhüllte Trümmerfelder zu sehen.

Vor allem die Schiiten hätten ihre Wohngebiete verlassen, sagt der Bürgermeister, der in der Lobby eines leeren Hotels zu einem kurzen Gespräch erscheint. Draussen auf der Strasse schwören derweil ein paar Männer, nicht aufgeben zu wollen. Aber auch in Baalbek haben manche genug vom ewigen Kampf. «Wir haben Kinder», sagt der Nachbar eines zerbombten Hauses in einem unbeobachteten Moment. «Wir wollen sie nicht sterben sehen.»

Inzwischen ist Baalbek endgültig zur Geisterstadt geworden. Am 30. Oktober hat Israel die Bewohner der Stadt zur Evakuierung aufgerufen und kurz darauf mit der Bombardierung angeblicher Hizbullah-Ziele begonnen. Dabei wurden nach Angaben des libanesischen Gesundheitsministeriums 19 Menschen getötet.

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