Mindestens 20 000 Kinder und Jugendliche wurden aus der Ukraine nach Russland oder in besetzte Gebiete verschleppt. Die Eltern wissen meist nicht, wo sie sind. Mithilfe von DNA-Daten ist auch noch nach Jahrzehnten eine Zusammenführung möglich.

«Es war der 8. November 2022: Ein paar Männer in Uniformen kamen in unsere Schule und forderten uns auf, ihnen sofort zu folgen», so erzählt es der 15-jährige Wiktor aus Cherson. Niemand habe mitgehen wollen, doch die Lehrer hätten den Kindern gut zugeredet. Er konnte seine Mutter nicht verständigen, verbrachte mehrere Monate in von Russen kontrollierten Camps für ukrainische Kinder. Wochenlang wusste seine Mutter nicht, wo er sich aufhalten musste.

Optimieren Sie Ihre Browsereinstellungen

NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.

Bitte passen Sie die Einstellungen an.

Wiktors Geschichte wurde von einer deutschen Journalistin aufgeschrieben und zusammen mit denen anderer Kinder und Jugendlicher im Buch «Gestohlene Leben» veröffentlicht.

Russen misshandeln gestohlene Kinder

Das Leben in den Camps diente der Umerziehung: Der Tag startete mit dem Absingen der russischen Hymne. Niemand durfte ukrainisch sprechen. Zwischen Sporteinheiten wurde russische Geschichte unterrichtet. Den Kindern wurde eingetrichtert, dass ihre Eltern sie nicht mehr haben wollten oder tot seien.

Wer nicht spurte und zum Beispiel wie Wiktor nicht die russische Hymne singen wollte, wurde zur Strafe in Isolationshaft in den Keller eingesperrt. Wiktor musste dort in Dunkelheit und nur mit Unterwäsche bekleidet tagelang ausharren. Zwangsjacke oder Abtransport nach Russland seien ihm angedroht worden, so beschreibt er es im Buch. Manche Kinder seien aus den Kellern nicht in ihre Schlafräume zurückgekehrt, keiner wisse, wohin sie gebracht worden seien.

Wiktor hatte Glück, im Mai 2023 gelang es der Organisation «Save Ukraine», ihn aus dem Lager zu holen und zu seiner Mutter zurückzubringen.

Deportation gilt als Kriegsverbrechen

Doch Tausende andere ukrainische Kinder, vom Kleinkind bis zum Teenager, wurden nach Russland gebracht, viele von russischen Familien adoptiert. Ihnen könnte eine DNA-Probe helfen.

Forscher des Yale Humanitarian Research Lab gehen nach Auswertung zahlreicher Quellen von knapp 20 000 entführten ukrainischen Kindern aus. Russische Behörden hingegen sagen, sie hätten mehr als 700 000 Kinder aus der Ukraine «vor dem Krieg gerettet». Hilfsorganisationen halten diese Zahl allerdings für Propaganda.

Dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und der russischen Beauftragten für die Rechte des Kindes wird die unrechtmässige Deportation von Kindern aus den besetzten Gebieten der Ukraine nach Russland vorgeworfen. Im März 2023 hat daher der Internationale Strafgerichtshof Haftbefehle gegen beide erlassen.

Aus einem ukrainischen Kind wird ein russisches gemacht

Ukrainische Kinder können in Russland in einem vereinfachten Verfahren adoptiert werden. Dabei dürfen die Behörden Namen und Geburtsort des Kindes ändern. Vor allem kleinere Kinder können sich nach einer gewissen Zeit kaum noch oder gar nicht mehr an ihre biologischen Eltern und ihr früheres Zuhause erinnern. Sie sind damit für ihre Familien verloren.

Doch das wollen Sara Huston, Genetikerin an der Feinberg School of Medicine in Chicago, sowie die Kinderärztin Elizabeth Barnert von der University of California in Los Angeles nicht hinnehmen. Sie bauen derzeit eine DNA-Datenbank für aus der Ukraine verschwundene Kinder auf. Beide haben Erfahrungen damit. So hat Barnert seit 2005 in El Salvador eine DNA-Datenbank für verschwundene Kinder etabliert.

Basierend auf ihren Erfahrungen gründete sie zusammen mit Huston 2022 das Projekt DNA Bridge. Wissenschafter und Ethiker erarbeiten hierfür juristisch und ethisch fundierte und an die jeweiligen Konfliktregionen angepasste Regelwerke und Verträge, um mithilfe von DNA-Proben auseinandergerissene Familien wieder zusammenzuführen.

Wo DNA-Proben gesammelt werden

«Der erste Teil des Prozesses ist zwar nicht besonders aufwendig, aber trotzdem voller Fallstricke», erzählt Huston im Gespräch. Eltern, die ihre Kinder vermissen, können derzeit zur ukrainischen Polizei gehen und einen Abstrich von der Mundschleimhaut machen lassen. Im Labor werden dann einige Abschnitte des Erbguts entschlüsselt und in einer Datenbank gespeichert.

«Aber zum einen ist die Polizei in der Ukraine derzeit überlastet mit Suchanfragen über vermisste und gefallene Soldaten oder auch Zivilisten», berichtet Huston über ihre Erfahrungen. Mit DNA-Proben werden in der Ukraine auch Gefallene von Schlachtfeldern oder aus Ortschaften identifiziert. Zum anderen hätten die Menschen Angst, dass bei einem russischen Sieg Behörden und damit auch Datenbanken in die Hände der Besetzer fielen. Und dass dann die Daten gelöscht oder manipuliert würden.

Huston und Barnert haben daher die International Commission on Missing Persons, kurz ICMP, aus Den Haag mit ins Boot geholt. «Wir unterstützen die Probensammlung vor Ort, die Analysen könnten entweder via ICMP-Labor oder in einem spezialisierten Labor in der Ukraine durchgeführt werden», erklärt Andreas Kleiser von der ICMP im Gespräch. Man könne auch eine gesicherte Datenbank zur Verfügung stellen. In jedem Fall bedarf dies der Einwilligung der Spender. Die ICMP hat entsprechende Einwilligungserklärungen mit der ukrainischen Polizei erarbeitet, die auch von Familien akzeptiert werden.

Zudem ist es für Eltern oder Verwandte möglich, sich auf der ICMP-Website anzumelden. Dann wird versucht, ein Team für die Probennahme zur Familie zu schicken. Einige haben das Angebot angenommen, zudem wurden DNA-Proben ausserhalb der Ukraine von geflüchteten Familien gesammelt.

Ab Sommer sollen nun grössere Teams von Nichtregierungsorganisationen, die bei den Menschen in der Ukraine Vertrauen geniessen, durch die Dörfer fahren und den Menschen die Möglichkeit geben, ihre DNA-Proben vor Ort abzugeben. «Es ist oftmals schwer, Vertrauen bei Menschen in einem von Krieg zerstörten Land zu gewinnen, gerade wenn es um DNA-Proben und damit sehr persönliche Informationen geht», berichtet Barnert. «Das habe ich auch in El Salvador immer wieder erlebt.»

Zudem finden es nicht alle betroffenen Familien sinnvoll, an einem Projekt teilzunehmen, das erst in einigen Jahren oder gar Jahrzehnten einen Erfolg erzielen kann. Denn eine DNA-Probe bringt das verschwundene Kind in der Regel nicht sofort zurück. Oft dauert es Jahre, bis ein Jugendlicher oder Erwachsener herausfindet, dass irgendetwas mit seiner Adoption nicht stimmt. Erst dann wird er oder sie anfangen nachzubohren. Viele entführte Kinder können erst als Erwachsene selbstbestimmt ihre DNA-Probe abgeben.

Wer kann via DNA gefunden werden?

Abschnitte ihres Erbguts werden dann ebenso entschlüsselt wie das ihrer Verwandten und mit den Einträgen in der Datenbank verglichen. Eine Elternschaft gilt als juristisch erwiesen, wenn es eine über 99-prozentige Übereinstimmung der DNA-Daten gibt. Aber auch Grosseltern, Geschwister oder Tanten und Onkel können via DNA-Abgleich identifiziert werden.

«Der Anspruch des Kindes, seine biologischen Verwandten oder gar seine Eltern wiederzufinden, ist auch nach 20 Jahren gültig, er verjährt nicht», betont der Jurist Kleiser. «Und es ist für Erwachsene, die als Kinder entführt wurden, sehr wichtig, dass sie um ihre Herkunft wissen und immerhin biologische Verwandte kennenlernen können, selbst wenn die Eltern bereits tot sind», ergänzt die Kinderärztin Barnert.

Sie hat in El Salvador solche Familienzusammenführungen begleitet. Das seien sehr emotionale, für keinen der Beteiligten einfache Momente. Jede Seite habe tausend Fragen, Ängste, auch Vorwürfe. Ging es dir gut, woran erinnerst du dich? Wie wurde ich entführt, habt ihr intensiv genug nach mir gesucht?

Nicht alle Kinder suchten den Kontakt zu ihrer leiblichen Familie, sagt Barnert. Manche seien mit ihrem Leben und der Adoptivfamilie glücklich und wollten einfach nur wissen, wo sie herkämen. In anderen Fällen dauere es Jahre, bis ein Kind nach der Entdeckung seiner Herkunft bereit sei, Verwandte zu treffen. Und ein Treffen bedeute nicht automatisch, dass eine Person wieder bei ihrer biologischen Familie wohnen wolle.

Jede Zusammenführung müsse daher wenn möglich von Psychologinnen oder Seelsorgern begleitet werden. «Jede glückliche Familie motiviert mich, weiter an DNA Bridge zu arbeiten», betont die Kinderärztin. Dabei zittert ihre Stimme leicht.

Ein Artikel aus der «»

Exit mobile version