Donnerstag, September 19

Acht Monate statt acht Tage: Butch Wilmore und Sunita Williams sind nicht die Ersten, die mehr Zeit als geplant im Weltraum verbringen. Ihr grösstes Problem: Dichtestress.

Was nur mag in den Köpfen von Butch Wilmore and Sunita Williams vorgegangen sein? Die beiden Nasa-Astronauten mussten vergangene Woche mit anschauen, wie das Starliner-Raumschiff von Boeing die Internationale Raumstation (ISS) verliess und einige Stunden später sicher in der Wüste von New Mexico landete – leider ohne sie.

Die Nasa hatte aufgrund technischer Mängel entschieden, dass eine bemannte Rückkehr zur Erde zu riskant sei. Statt der geplanten acht Tage werden die beiden Astronauten nun mindestens acht Monate auf der ISS verbringen und dann im Februar 2025 mit einem Raumschiff von SpaceX zur Erde zurückfliegen.

Der Nachschub mit Wasser und Nahrung ist gewährleistet

Allzu grosse Sorgen muss man sich um Wilmore und Williams, 61 und 58 Jahre alt, nicht machen. Die beiden sind erfahrene Astronauten, die bereits zweimal auf der ISS waren. Zudem sind sie nicht die Ersten, die auf der ISS festsitzen. Der amerikanische Astronaut Frank Rubio musste sogar 371 Tage auf der ISS ausharren, weil ein russisches Sojus-Raumschiff nach dem Einschlag eines Mikrometeoriten unbemannt zur Erde zurückgeschickt wurde. Noch länger im All war der russische Kosmonaut Waleri Poljakow. Er verbrachte in den 1990er Jahren mehr als 14 Monate auf der russischen Raumstation Mir.

Darben müssen die beiden Astronauten nicht. Ihre Versorgung mit Wasser, Nahrung und Sauerstoff ist sichergestellt. Zum einen gibt es auf der ISS einen Notvorrat für solche Situationen. Zum anderen dockte Anfang August ein amerikanisches Versorgungsraumschiff an die ISS an und brachte Wasser, Lebensmittel und frische Kleidung für die Besatzung. Eine Situation wie im Dezember 2004 wird sich also nicht wiederholen. Damals wurden ein amerikanischer und ein russischer Astronaut für mehrere Wochen auf Diät gesetzt, weil der Nachschub ausblieb.

Typischerweise dauert ein Aufenthalt auf der ISS ein halbes Jahr. Längere Aufenthalte sind vor allem körperlich belastend. So führt die Schwerelosigkeit zu einem Rückgang von Muskeln und Knochen, die Körpertemperatur steigt, und es lagert sich vermehrt Wasser im Gewebe an. Hinzu kommt die erhöhte Strahlenbelastung im All, die das Krebsrisiko erhöht und das Immunsystem schwächt. Manche dieser Symptome sind reversibel, andere bleiben. So hat man festgestellt, dass ein längerer Aufenthalt im Weltall die Sehfähigkeit beeinträchtigen kann.

Auch mentale und psychische Probleme sind dokumentiert. So klagen manche Astronauten über Stimmungsschwankungen, Antriebslosigkeit und Schlafstörungen. In seltenen Fällen können die fremde Umgebung und die Isolation von Freunden und Familienangehörigen auch zu Angstzuständen und Depressionen führen. 1985 musste eine Mission zur russischen Raumstation Saljut-7 sogar abgebrochen werden, weil einer der Kosmonauten über körperliche und psychische Beschwerden klagte. Das ist bis heute aber die Ausnahme geblieben.

Zum Teil liegt das daran, dass Astronauten einen harten Auswahlprozess durchlaufen. Dabei spielt der mentale Zustand einer Person eine ebenso wichtige Rolle wie die körperliche Gesundheit. Wer zu Depressionen neigt oder andere psychische Störungen hat, wird in kein Astronautenkorps aufgenommen. Und auch beim Training für einen Flug werden die Astronauten auf belastende Situationen vorbereitet.

Astronauten wissen, was sie erwartet

Butch Wilmore und Sunita Williams wussten also, worauf sie sich einliessen, als sie von der Nasa für den Flug des Starliner-Raumschiffs ausgewählt wurden. Sie mussten damit rechnen, dass dieser Testflug länger dauern könnte als acht Tage. Möglicherweise geniessen sie es sogar, länger auf der ISS zu bleiben. Für die meisten Astronauten wiegt die Faszination für den Weltraum alle Strapazen auf. Selbst Frank Rubio hat nach seinen 371 Tagen im All noch nicht genug. Er wolle auf jeden Fall zur ISS zurückkehren, bekannte der Astronaut in einem Interview mit dem «Time Magazine».

Das beste Rezept gegen den Weltraum-Blues ist regelmässige Arbeit. Davon gibt es auf der ISS mehr als genug. Nicht nur müssen die zahlreichen Experimente betreut werden. Auf der alternden Raumstation, deren Aufbau bereits 1998 begann, fallen stets Reparaturarbeiten an. Nicht alle sind angenehm. So mussten Williams und Wilmore eine defekte Pumpe in der Anlage austauschen, die aus dem Urin der Astronauten Trinkwasser macht.

Der Tagesablauf der beiden Astronauten ist streng getaktet. Teilweise ist auf die Minute genau festgelegt, wann gegessen, gearbeitet und geschlafen wird. Ganz oben auf der To-do-Liste steht körperliche Betätigung. Zwei Stunden Training täglich auf einem Laufband, einem Ergometer oder an Kraftgeräten sind Pflicht. Das soll den Muskel- und Knochenschwund aufhalten. Ausserdem stärkt Bewegung den Geist.

Neben allen Pflichten bleibt genug Zeit für persönliche Kontakte. Die Astronauten tauschen sich regelmässig per Videocall mit Familie und Freunden aus. Alle zwei Wochen steht ein Gespräch mit einer Psychologin oder einem Psychologen auf dem Programm.

Zu wenig Platz zum Schlafen

Die grösste Entbehrung für Wilmore und Williams ist vermutlich nicht die Isolation, sondern der Dichtestress. Normalerweise besteht die Besatzung der ISS aus 7 Astronauten. Momentan sind es mit Wilmore und Williams 12. Das bringt logistische Probleme mit sich. Denn auf der ISS gibt es nur 6 reguläre Schlafplätze.

Die anderen Astronauten müssen sich eine freie Wand suchen, an der sie ihren Schlafsack fixieren können. So übernachtete Wilmore in den letzten Wochen im japanischen Labormodul Kibo, Williams musste sich mit einem provisorischen Schlafplatz im europäischen Columbus-Modul begnügen.

Daran wird sich in den nächsten Wochen kaum etwas ändern. 3 Kosmonauten werden die ISS zwar am 24. September mit einem russischen Raumschiffe verlassen. Doch noch am gleichen Tag dockt die Crew-9-Dragon von SpaceX mit 2 neuen Astronauten an der ISS an. Damit wächst die Besatzung wieder auf 11 an. Auch das hat es allerdings schon in der Vergangenheit gegeben. Im Jahr 2009 befanden sich sogar 13 Personen gleichzeitig auf der ISS.

Kritischer als die beengenden Verhältnisse ist, dass es für Wilmore und Williams bis zum Eintreffen der Crew-9-Dragon am 24. September keinen sicheren Hafen mehr gibt, in den sie sich bei einem Notfall zurückziehen können. Die beiden haben eine solche Situation bereits miterlebt. Am 26. Juni zerbrach ein russischer Satellit in zahlreiche Bruchstücke. Einige davon kamen der ISS bedenklich nahe. Die Nasa forderte ihre Astronauten daraufhin auf, vorübergehend Schutz in ihren Raumschiffen zu suchen. Damals war das Starliner-Raumschiff noch an die ISS angedockt.

Sollten die Astronauten in den kommenden Wochen erneut gezwungen sein, die ISS zu verlassen, müssen Wilmore und Williams mit zwei provisorischen Plätzen vorliebnehmen, die notfallmässig auf der Crew-8-Dragon eingerichtet wurden. Die Sache hat allerdings einen Haken. Boeing und SpaceX verwenden Weltraumanzüge, die nicht kompatibel sind. In einem Notfall müssten die beiden Astronauten also ohne Schutzanzug zur Erde zurückfliegen. Da die Kabine der Crew-8-Dragon unter Druck steht, ist das prinzipiell möglich. Es sollte nur kein Leck auftreten. Das wäre ohne Anzug tödlich.

Erst die Crew-9-Dragon wird Weltraumanzüge von SpaceX zur ISS bringen. Danach können die beiden Astronauten relativ entspannt auf das Ende ihrer Mission warten.

Folgen Sie der Wissenschaftsredaktion der NZZ auf X.

Ein Artikel aus der «»

Exit mobile version