Das Königreich schliesst im Norden seine Grenzen zu Spanien. Die Migrationsrouten verschieben sich zunehmend in den Süden. Dort stecken Migranten zwischen den Fronten fest – das kommt dem König entgegen. Eine Reportage.

Zwischen Ait Amira und der Hoffnung auf ein besseres Leben liegen 400 Kilometer und unzählige Gewächshäuser. Rund um die südmarokkanische Kleinstadt wachsen Tomaten, Gurken und Peperoni für den europäischen Markt. Geerntet wird das Gemüse von Migranten, die kaum etwas verdienen und nicht aus Ait Amira wegkönnen. Sie stehen im Zentrum marokkanischer Aussenpolitik – als Druckmittel gegenüber der EU. Und sie werden immer mehr.

An diesem Februartag steht die Hitze in den Gewächshäusern. Draussen ist es 26 Grad warm, so heiss wie praktisch nie im Februar, auch in Marokko nicht. Trotz der Hitze arbeiten die Migranten auf den Feldern, in einem der Gewächshäuser sortieren drei Männer Tomaten, einer spritzt Pestizide, ein paar andere ernten.

Den Überblick über das Geschehen hat Gaston Armand aus Kamerun. Er bewegt sich im Gewächshaus, als gehöre es ihm. Seine natürliche Autorität hat ihm unter den Migranten im Gewächshaus den Spitznamen «le corporal» eingebracht. Armand ist so etwas wie ein Vorarbeiter: Er prüft die Qualität der Tomaten, teilt Aufgaben zu und zahlt einmal pro Woche die Löhne aus. Er ist verantwortlich für etwa zehn Arbeiter auf dem Feld, einige stammen wie Armand aus Kamerun, andere aus Côte d’Ivoire, einer kommt aus Burundi.

Viele der Männer sind vor ihrer Perspektivlosigkeit geflohen, vor der Armut und der Arbeitslosigkeit, manche vor dem Krieg. Die meisten haben ihre Heimat schon vor Jahren verlassen. Fragt man Armand, wie er nach Marokko gekommen sei, sagt er knapp: «Zu Fuss.» Armand durchquerte Niger, Nigeria, Libyen, Tunesien und Algerien. Auf den langen Märschen durch die Wüste drohen Entführungen, Folter, Hunger und Durst. Er zuckt mit den Schultern. «Die Route halt.»

Marokko erhält von der EU viel Geld

Für viele soll Marokko das Sprungbrett nach Europa sein. Versuche, aus den anderen Ländern entlang der Mittelmeerküste nach Europa zu gelangen, scheitern häufig: In Libyen an Menschenhändlern, in Tunesien an der Küstenwache, in Algerien an der Polizei. Deswegen bleibt vielen nur noch der Weg über Marokko. Im Norden trennen das Königreich wenige Kilometer Meer vom europäischen Festland, mit den spanischen Enklaven Ceuta und Melilla teilt Marokko sogar Landgrenzen. Die Fluchtroute über Nordmarokko war deshalb lange Zeit einfacher und weniger gefährlich als andere.

Doch auch dieser Weg nach Europa wird zunehmend schwierig. Es gibt zwar kein offizielles Flüchtlingsabkommen, die Europäische Union aber zahlte Marokko zwischen 2014 und 2020 rund 345 Millionen Euro, damit das Königreich die Grenzen nach Spanien dichtmacht. Im EU-Budget bis 2027 sind weitere 500 Millionen Euro dafür vorgesehen. Die Gelder zeigen Wirkung: Laut dem marokkanischen Militär wurden allein 2023 etwa 87 000 Migranten in Marokko zurückgehalten, die Tendenz ist steigend.

Marokko will im Zuge laufender Verhandlungen über Migrationsabkommen präventiv beweisen, dass es die Grenzen unter Kontrolle hat. Dieser demonstrative Kooperationswille folgt Marokkos politischem Kalkül: Rabat nutzt die Migrationspolitik, um internationale Unterstützung für seinen Anspruch auf die rohstoffreiche Westsahara zu gewinnen – und so sein wichtigstes aussenpolitisches Ziel zu erreichen.

Melilla: Mit Schlagstöcken gegen Migranten

Dabei nutzt König Mohammed VI. die Migranten mitunter ganz direkt als Druckmittel. 2022 etwa öffnete der König mehrmals die Grenzen, weil Spanien sich weigerte, marokkanischen Forderungen zur Westsahara nachzugeben. Unter dem Druck des Grenzübertritts von Tausenden von Migranten gab Spanien schliesslich nach. Marokko schloss die Grenzen im Norden gewaltsam, mindestens 23 Menschen starben.

Die Bilder aus Melilla gingen um die Welt. Videos zeigen Grenzbeamte, die Migranten mit Schlagstöcken verprügeln. «Mir haben sie einfach die Füsse gebrochen, am helllichten Tag», sagt Armand. Manche erlagen noch am Zaun ihren Verletzungen.

Seither versuchen immer weniger von ihnen, die Landgrenzen nach Spanien zu überqueren. «Der Norden ist zu», sagt Gaston Armand. Vergangenen Oktober unterzeichnete die deutsche Innenministerin Nancy Faeser in Marokko eine Absichtserklärung für ein Migrationsabkommen. Vorangegangen waren dem Staatsbesuch deutsche Zugeständnisse in der Westsahara-Frage. Marokko verstärkte im Gegenzug die Schutzmassnahmen an der Nordgrenze.

Die deutschen Gespräche gelten als exemplarisch für Verhandlungen zwischen der EU und Marokko. Dabei wird auch die Union um Zugeständnisse kaum herumkommen: Will Europa Migranten an der Überfahrt über das Mittelmeer hindern, ist es auf die Mitarbeit nordafrikanischer Staaten angewiesen.

Diese Kooperation birgt aber Tücken: Ein Abkommen mit Tunesien scheiterte vergangenes Jahr, mit dem bürgerkriegsgeplagten Libyen ist kaum eine verlässliche Partnerschaft möglich. Algerien betrachtet Migration als innenpolitisches Thema, Verhandlungen mit der EU sähe es als europäische Einmischung in die eigene Politik. Auf der Suche nach dringend benötigten Erfolgen haben also auch die europäischen Politiker nur noch eine Chance: Marokko.

Die europäische Migrationspolitik hat auch zur Folge, dass sich die Migrationsrouten innerhalb Marokkos verschieben. In den Monaten nach den dramatischen Ereignissen bei Melilla wurden Tausende von Migranten vom marokkanischen Militär in den Süden des Landes abgeschoben – und landeten so in Gewächshäusern wie jenen um Ait Amira.

Angestellt werden sie von wohlhabenden Marokkanern, denen die Felder gehören. In Armands Fall ist das ein Bauer Mitte fünfzig mit kleinem Bierbauch, der nicht namentlich genannt werden möchte. Armand wirkt gelassen, als der Bauer im Gewächshaus eintrifft. Das Verhältnis zum Chef scheint gut zu sein – was wohl eher eine Ausnahme ist. NGO berichten von Misshandlungen in den Gewächshäusern, von nicht bezahlten Löhnen und willkürlichen Kündigungen. Wehren können sich die Migranten dagegen kaum, weil sie illegal im Land sind.

Die Schlepper verlangen bis zu 3500 Euro

Besonders deutlich wird der Unterschied zwischen Migranten und Marokkanern auf dem Weg durch Ait Amira. Armands Arbeitsweg führt entlang der Hauptstrasse, die von Restaurants und Läden gesäumt ist. Dann geht es über einen Markt, wo sich kaputte Haushaltsgegenstände auf Leintüchern stapeln. Vor den Geldautomaten stehen die Leute zu Dutzenden an. In Ait Amira wohnen viel mehr Menschen, als eigentlich Platz haben.

Je näher Armand seinem Zimmer kommt, desto kahler werden die Häuser. Die Wände sind nicht mehr bunt, sondern aus grauem Beton; ab und zu fehlen Fenster. Er geht an einem staubigen Platz vorbei, auf dem Jugendliche Fussball spielen, ohne Tor. Im Haus, in dem Armand ein Zimmer mietet, wäscht eine Frau aus Côte d’Ivoire in einem Plastikzuber auf dem Boden ihr Geschirr. Hier ist Ait Amira die Stadt der Migranten.

Und man kennt sich. Armand erzählt von einer Freundin, die neben der Feldarbeit ein kleines Kind grosszieht. Viele Migranten in Ait Amira sind erst Anfang 20. Manche sagen, dass sie nach einem Jahr wieder weg sein würden. Die Älteren nicken dann müde. Sie wissen, dass es länger dauern wird. Weil die Grenzkontrollen an der Küste immer engmaschiger werden, verlangen Schlepper inzwischen bis zu 3500 Euro pro Überfahrt. Bei knappen fünf Euro Lohn pro Tag sparen die Migranten dafür mindestens sechs Jahre.

«Die Politik braucht die Jungs hier»

Zurück führt aber auch kein Weg. Die Herkunftsländer wollen die Migranten nicht zurücknehmen, weil sie auf deren Geld aus dem Ausland angewiesen sind. Duldet Marokko die Migranten, statt sie auszuweisen, sitzt das Land in den Verhandlungen am längeren Hebel – nicht nur gegenüber Europa, sondern auch gegenüber Subsahara-Afrika. «Die Politik braucht die Jungs hier, und zwar genau so, ohne legalen Aufenthaltsstatus und ohne Perspektive», sagt der Bauer auf dem Tomatenfeld.

Wer als Migrant in Ait Amira wohnt, will weg. «Das ist kein Leben in Marokko», sagt Armand. Sein Chef nickt. Das ewige Provisorium ist politisch gewollt: «Würden die Jungs hier integriert statt nur toleriert, könnte der König niemanden mehr mit ihnen erpressen.» Ihre Verzweiflung ist sein Kapital.

Sie treibt sie zur riskanten Überfahrt aus Südmarokko an, die in Ait Amira beginnt. An der marokkanischen Westküste steigen die Migranten in Gummiboote, um über den Atlantik auf die Kanarischen Inseln zu gelangen. Die Überfahrt kann bis zu 50 Stunden dauern – wenn sie gelingt. Wegen der Strömungen zwischen der marokkanischen Küste und den Inseln treiben viele der Boote ab und kentern. Laut der NGO Caminando Fronteras starben bei der Überfahrt auf die Kanarischen Inseln entlang der westafrikanischen Küste vergangenes Jahr über 6000 Menschen. Die Route gehört damit zu den gefährlichsten Migrationsrouten der Welt.

Trotzdem sind die Migranten in Ait Amira bereit, das Risiko auf sich zu nehmen – in Armands Fall bereits zum sechzehnten Mal, wie er sagt. Er weiss von den Verhandlungen, die gerade zwischen Marokko und Europa laufen. Er weiss, dass die Zeit auch für ihn knapp wird. Werden die Abkommen einmal umgesetzt und die Grenzkontrollen verstärkt, wird es noch schwieriger, von Ait Amira nach Europa zu gelangen.

Das deutsch-marokkanische Migrationsabkommen steht kurz vor dem Abschluss, eines mit der EU könnte folgen. Auch die Europäer dürften sich den marokkanischen Forderungen beugen und beispielsweise den marokkanischen Autonomieplan für die Westsahara anerkennen. Spätestens wenn das geschieht, wird der Weg aus den Gewächshäusern in Ait Amira versperrt sein. Dann werden sich die Routen wieder verschieben – und ein neues Ait Amira entsteht.

Andrea Marti ist freischaffende Journalistin und berichtet regelmässig aus Marokko.

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