Montag, November 25

Selten hatte ein Referendumskomitee schwächere Argumente als jenes, das nun gegen die einheitliche Finanzierung ambulanter und stationärer Leistungen kämpft. Ein Nein am 24. November wäre ein Debakel.

Gewinner und Verlierer: Politische Reformen bringen häufig beides hervor. Wer zu den Verlierern zählt oder sich für sie einsetzt, hat in der direkten Demokratie die Chance, die Pläne zu durchkreuzen – und das Referendum zu ergreifen.

Insofern ist es legitim, dass die Gewerkschaften versuchen, die grosse Gesundheitsreform am 24. November zum Absturz zu bringen. Doch das Problem ist, dass ihre Argumente fadenscheinig und teilweise absurd sind. Dies vor allem, weil die angeblichen Verlierer in diesem Fall gar keine sind: die Prämienzahler, die in der Pflege Beschäftigten, die Senioren.

Die einheitliche Finanzierung ambulanter und stationärer Leistungen (Efas) korrigiert endlich eine historische Fehlentwicklung. Bei Operationen mit Spitalübernachtung begleicht bis jetzt der Kanton etwas mehr als die Hälfte der Rechnung, bei rein ambulanten Behandlungen zahlt nur die Krankenkasse. Diese hat also ein Interesse daran, dass ihre Kunden eher ins Spital gehen – auch wenn der Eingriff dort deutlich teurer ist.

Günstiger und weniger personalintensiv

Dies bremst die Verlagerung in den ambulanten Bereich, die nicht nur finanziell sinnvoll ist. Es ist auch für die Patienten angenehmer, wenn sie nach einer Operation gleich wieder nach Hause können. Und weil ambulante Behandlungen weniger Personal brauchen und die Nachtschichten wegfallen, hilft die Reform auch gegen den Fachkräftemangel in der Pflege und bei den Ärzten.

Dank Efas beteiligen sich Krankenkassen (rund 73 Prozent) und Kantone (rund 27 Prozent) an den Kosten der beiden Bereiche. Die Gesundheitsbranche steht in seltener Einmütigkeit hinter der Reform: Die Ärzte sind ebenso dafür wie die Spitäler, die Pflegeheime oder die Krankenkassen. Und selbst in der SP werben jene, die eine Ahnung von Gesundheitspolitik haben, grösstenteils für den Systemwechsel.

Was hat es also mit den Argumenten der Gewerkschaften auf sich? Sie behaupten, die Prämien, die viele Haushaltsbudgets schon heute stark belasten, würden noch weiter steigen. Und stützen sich dabei unter anderem auf eine Studie des Krankenkassenverbandes Santésuisse ab. Der Grund für die vermeintliche Prämienexplosion liegt im Einbezug der Langzeitpflege in die Reform.

Die Kantone hatten stets auf diese Bedingung gepocht und gedroht, die einheitliche Finanzierung sonst zu bekämpfen. Die Kassen waren dagegen. Dies, weil das Paket dadurch noch grösser und komplexer wird. Vor allem aber auch, weil sie bei der Langzeitpflege bisher in einer günstigen Situation waren: Ihre täglichen Beiträge an die Heimkosten sind seit Jahren fixiert, die Kostensteigerungen gingen deshalb vor allem zulasten der Kantone.

Umstrittenes Schreckensszenario

Mit Efas ändert sich das: Nun müssen sich die Versicherer an den höheren Ausgaben beteiligen, die sich durch die Alterung der Gesellschaft ergeben. Laut Santésuisse könnte sich diese zusätzliche Belastung für die Prämienzahler bis 2040 auf happige 10 Milliarden Franken belaufen – und würde damit die positiven Effekte der Reform zunichtemachen.

Allerdings ist dieses Schreckensszenario umstritten. Die Efas-Befürworter weisen zu Recht darauf hin, dass die Ausgaben für Behandlungen in Praxen und Spitalambulatorien viermal höher sind als jene für die Langzeitpflege – und dass damit ein Anstieg bei der Pflege nicht so stark ins Gewicht fallen dürfte.

Es ist plausibler, dass die Reform den Anstieg der Krankenkassenprämien bremst. Dies nicht nur, weil sie die günstigeren ambulanten Behandlungen fördert. Sondern auch, weil der ambulante Bereich viel schneller zulegt als der stationäre. Der Verteilschlüssel zwischen Kantonen und Kassen beruht auf Zahlen, die fünf bis acht Jahre alt sind. Bis Efas im Jahr 2028 eingeführt wird, wächst der Anteil der ambulanten Behandlungen weiter.

Das bedeutet, dass die Entwicklung zugunsten der Prämienzahler verläuft, der Effekt könnte laut Schätzungen bis zu zwei Milliarden Franken jährlich ausmachen. Die Verlierer wären die Steuerzahler. Eigentlich ist das ein Traum für die Linken, weil vor allem die Reichen und die Unternehmen Steuern bezahlen, anders als bei der Grundversicherung mit ihrer Kopfprämie.

Umso absurder ist der Widerstand der Gewerkschaften. Und selbst wenn der unwahrscheinliche Fall eintrifft, dass Efas die Prämien wegen der Langzeitpflege nach oben treibt, könnte die Politik Gegensteuer geben und den Kostenteiler zulasten der Kantone anpassen. Diese würden sich dagegen wohl wehren, hätten aber bei einer Explosion der Prämien schlechte Karten.

Pflegende lassen sich nicht vereinnahmen

Dann gibt es da noch die zweite Gruppe, die laut den Gewerkschaften unter Efas leiden würde: die Pflegenden. Weil die Krankenkassen künftig bei den Tarifen für die Pflegeheime mitredeten, entstehe ein «Profitdruck», behaupten die Efas-Gegner. Sprich: Die bösen Versicherer mit ihrem Kosten-Röhrenblick würden durchsetzen, dass die Pflegenden nur noch Dumpinglöhne bekämen und in schlechter ausgestatteten Teams arbeiten müssten.

Doch nicht einmal die vermeintlichen Verlierer sehen das so: Der Verband der Pflegefachkräfte entschied im Januar, das Referendum nicht zu unterstützen. Die Pflegenden wissen, dass die Kassen auch künftig nicht einfach die Tarife für die Pflegeheime und die Spitex diktieren könnten, sondern diese mit den Heim- und Spitex-Organisationen aushandeln müssten. Es ist zudem im Gesetz festgehalten, dass die Tarife kostendeckend sein müssen.

Die Stimmbevölkerung hat mit dem Ja zur Pflegeinitiative klargemacht, dass sie die Bedingungen in der Pflege verbessern möchte, entsprechende Projekte hat das Parlament aufgegleist. Wegen der Alterung der Gesellschaft wird der Bedarf nach Pflegenden in den kommenden Jahrzehnten weiter zunehmen. Niemand hat ein Interesse, sie mit miesen Arbeitskonditionen aus dem Beruf zu drängen.

Auch für Senioren positiv

Nachdem die Gewerkschaften hatten realisieren müssen, dass sich die Pflegenden nicht für ein Nein zu Efas einspannen lassen, versuchten sie, die älteren Menschen zu instrumentalisieren: Diese würden ebenfalls zu Opfern eines Spardrucks in den Heimen. Stichhaltig ist auch das nicht. Die alt Bundesrätin und heutige Pro-Senectute-Präsidentin Eveline Widmer-Schlumpf betont in einem Interview mit dem «Tages-Anzeiger», dass die Seniorinnen und Senioren ebenfalls von Efas profitieren würden.

Denn die Reform stärkt die Spitex. Und die auf Autonomie bedachten Babyboomer legen Wert darauf, möglichst lange im eigenen Haus oder in der eigenen Wohnung leben zu können. Wer dennoch ins Heim muss, wird auch künftig – entgegen den Behauptungen der Gewerkschaften – nur einen gedeckelten Beitrag an die Pflegekosten bezahlen müssen.

Gar verschwörungstheoretische Züge hat die Behauptung des Nein-Komitees, die Krankenkassen würden dank Efas «mehr Macht» bekommen. Es ist aber schleierhaft, wie das passieren soll, nur weil die Versicherer im stationären Bereich einen höheren Anteil finanzieren (und dafür im ambulanten Bereich einen kleineren).

Die sehr auf ihren Einfluss bedachten Gesundheitsdirektoren würden kaum einer Reform zustimmen, die ihren Handlungsspielraum einschränkt. Die Kantone sitzen vielmehr neu bei der Aushandlung der ambulanten Tarife mit am Tisch. Auch hier: Die Gewerkschaften halluzinieren. Sie haben sich offensichtlich verrannt.

Im Zweifel dagegen

Und doch ist nicht ausgeschlossen, dass sie diesen Kampf gewinnen und dass Efas dasselbe Schicksal erleidet wie die letzte grössere Reform des Gesundheitssystems: 2012 wurde die Managed-Care-Vorlage mit einer Dreiviertelmehrheit abgelehnt. Efas ist kompliziert, und die Schweizerinnen und Schweizer neigen dazu, Reformen, die sie nicht restlos verstehen, zu misstrauen. Deshalb versuchen die Gewerkschaften die Stimmbürger weiter zu verunsichern.

Umso wichtiger ist, dass es nicht zu einer unheiligen Allianz gekommen ist. Der SVP-Fraktionschef Thomas Aeschi und der Rest des Parteipräsidiums wollten mit den Gewerkschaften gemeinsame Sache machen. Doch die Delegierten sprachen sich klar für ein Ja aus – auch weil Christoph Blocher, der sich eine positive Wirkung auf die Prämien erhofft, seine Parteikollegen zur Räson gerufen hatte.

Die einheitliche Finanzierung ist kein Allheilmittel: Sie löst nicht sämtliche Probleme unseres Gesundheitswesens. Aber sie ist ein wichtiger Schritt bei der Weiterentwicklung des Systems. Und sie wird deutlich mehr Gewinner hervorbringen als grosse Verlierer – falls es solche überhaupt gibt.

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