Sonntag, November 24


Die neusten Entwicklungen

Weltweit sind rund 400 Millionen Menschen auf Lebensmittel aus der Ukraine angewiesen. Experten warnen vor neuen Hungersnöten. Wie schlimm ist die Nahrungsmittelkrise?

Die neusten Entwicklungen:

  • Polnische Transportunternehmer wollen ihre Blockade von Grenzübergängen zur Ukraine vorerst bis zum 1. März einstellen. Eine entsprechende Vereinbarung sei mit Vertretern der Branche unterzeichnet worden und betreffe die Grenzübergänge Dorohusk, Hrebenne und Korczowa, sagte Polens Infrastrukturminister Dariusz Klimczak am Dienstag (16. 1.) in Warschau. «Dies bedeutet nicht das Ende des Dialogs, im Gegenteil, wir werden intensive Gespräche führen, um die ausgehandelten Bestimmungen in die Tat umzusetzen.» Seit dem 6. November hatten polnische Transportunternehmer die drei Grenzübergänge zum Nachbarland blockiert. Damit protestierten sie gegen die billigere Konkurrenz aus der Ukraine, die sie für den Einbruch ihres Geschäfts verantwortlich machen.


Russland und die Ukraine spielen im internationalen Handel mit Lebensmitteln eine wichtige Rolle. Fast 30 Prozent der weltweiten Weizenexporte stammen üblicherweise aus der Schwarzmeerregion.

Der Anteil der Ukraine am weltweiten Handel mit Weizen betrug im Jahr 2020 laut der Uno-Organisation für Handel und Entwicklung 8 Prozent. Bei Mais waren es 13 Prozent, bei Sonnenblumenöl und Saatgut sogar 32 Prozent. Insgesamt ernähren diese Produkte laut dem Direktor des Welternährungsprogramms 400 Millionen Menschen.

Ukrainische Produkte ernähren Millionen von Menschen

Gesamte Exportmenge für das Jahr 2021

Der Krieg in der Ukraine erschwert den Export des dort produzierten Getreides. Russland blockierte über Monate die Häfen am Schwarzen Meer, über die die Ukraine 90 Prozent seines Getreides liefert. Mit der Einigung auf das Getreideabkommen Ende Juli 2022, das der Ukraine den Export über das Schwarzmeer wieder ermöglichte, hat sich die Situation zwar etwas entspannt. Dennoch hat der Krieg die Kosten für Grundnahrungsmittel und die Zahl derer, die fürchten müssen, nicht genug zu essen zu haben, in die Höhe getrieben.

Das Getreideabkommen hat der Ukraine nach einer monatelangen Blockade durch Russland ermöglicht, wieder Weizen, Mais und andere landwirtschaftliche Güter durch das Schwarze Meer und den Bosporus zu exportieren. Nach wochenlangen Verhandlungen hatten sich Russland und die Ukraine Ende Juli 2022 auf die Ausfuhr von Millionen Tonnen ukrainischen Getreides geeinigt.

Die beiden Länder unterzeichneten in Istanbul getrennt voneinander entsprechende Vereinbarungen unter Vermittlung der Uno und der Türkei. Die westlichen Staaten versprachen Russland im Gegenzug, keine Sanktionen gegen die Exporte russischer Agrarrohstoffe sowie von Düngern auszusprechen.

Der Vertrag wurde mehrfach verlängert, jedoch meist in letzter Minute. Russland nutzt das Abkommen als Druckmittel und hat bereits mehrere Male damit gedroht, den Deal zu beenden. Ende Oktober 2022 setzte Russland etwa das Abkommen während weniger Tage aus und behauptete, russische Schiffe seien in einer Bucht der Krim mit Luft- und Wasserdrohnen attackiert worden.

Die Verhandlungen sind seither komplizierter geworden, unter anderem weil sich die Beziehung zwischen Russland und dem Vermittler Türkei abgekühlt hat. Am 17. 7. hat Russland das Abkommen auslaufen lassen.

Die Ukraine konnte dank dem Deal über die drei Häfen Agrargüter ausführen und Exporterlöse erzielen. Laut der Uno exportierte die Ukraine seit August 2022 32,7 Millionen Tonnen Agrarrohstoffe in 45 Länder. Damit konnten die vor allem mit Mais überfüllten Speicher geleert und die Produktion fortgesetzt werden. Vor dem Krieg belieferte die Ukraine vor allem Asien und Nordafrika mit Weizen. Seit Kriegsbeginn ist die EU zum grössten Abnehmer von ukrainischem Weizen geworden.

Zudem half das Abkommen dabei, die durch den Krieg stark angestiegenen Agrarpreise wieder zu dämpfen. Laut der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) sind die Agrarpreise seit März 2022 um 23 Prozent gesunken. Ein weiterer Faktor für den Preisrückgang sind derzeit aber gute Ernten in Indien, der EU und in der Region am Schwarzen Meer.

Die Lebensmittelpreise sind wieder gesunken

Entwicklung der realen FAO-Preisindizes für Lebensmittelrohstoffe, in Punkten

Index für pflanzliche Öle

1

Ausbruch der Corona-Pandemie.

2

Beginn der Grossinvasion der Ukraine.

3

Abschluss des Getreideabkommens.

Seit April 2023 ist jedoch der Export über das Schwarzmeer stark zurückgegangen. Kiew wirft Russland vor, seit einiger Zeit Frachter zu blockieren, die auf dem Weg zum Hafen Juschne sind. Die Uno stützt diesen Bericht. Laut Angaben der Vereinten Nationen hat zudem das Tempo bei den Inspektionen abgenommen.

Die Getreideausfuhr über das Schwarze Meer ist in den letzten Monaten stark zurückgegangen

Schiffsabfahrten pro Monat

Die Zeit der letzten Blockade hat gezeigt: Alternative Exportrouten wie über die Donau oder per Eisenbahn und Lastwagen werden zwar vermehrt genutzt, sie können aber den Export per Schiff nicht ersetzen. Die Kapazität der Eisenbahnlogistik ist begrenzt, die Ausfuhr über die Strasse ist wegen hoher Benzinpreise und schleppender Abwicklungen an der Grenze unattraktiv. Der Transport über Land ist zudem ungleich teurer.

Die Agrarausfuhren der Ukraine werden auch ohne Abkommen nicht versiegen. Im Mai 2023 waren laut dem ukrainischen Landwirtschaftsministerium nur noch 30 Prozent der Landwirtschaftsgüter über das Schwarze Meer ausgeführt worden. Die EU will ihre sogenannten «Solidaritätskorridore» – alternative Exportrouten über Land, die sie für die Ukraine errichtet hat – weiter ausbauen.

Das sorgt bei den Nachbarstaaten der Ukraine auch für Unmut: Das ukrainische Getreide, das nun häufiger auf ihren Märkten landet, ist günstig, weil die EU-Länder seit Anfang Krieg die Zölle auf ukrainische Importe aufgehoben haben. In den Nachbarstaaten wurde deswegen der Vorwurf der Marktverzerrung laut. Mehrere Länder haben zeitweise den Import von ukrainischen Getreideprodukten verboten. Die EU musste regulierend eingreifen.

Von Mai bis Mitte September 2023 galten in Bulgarien, Polen, Ungarn, Rumänien und in der Slowakei Einschränkungen für Getreideimporte aus der Ukraine.

Russland ist trotz dem Krieg zum grössten Weizenexporteur der Welt aufgestiegen. Direkte westliche Sanktionen gegen Getreidelieferungen aus Russland gibt es derzeit nicht. Vielmehr hatte Moskau bereits vor einiger Zeit eine Exportsteuer für Weizen und Quoten eingeführt, um den Preis im Inland besser zu kontrollieren. Zeitweise galt sogar ein Exportverbot in die Länder der Eurasischen Wirtschaftsunion (Kasachstan, Armenien, Kirgistan und Weissrussland).

Entgegen der Erwartungen hat Russland im Juli und September 2022 die Weizenexportsteuer jedoch reduziert. Denn der russische Weizen hat es auf dem Markt auch ohne direkte Sanktionen schwer. Dies, obwohl die Uno und manche westliche Regierungen zum Handel mit russischem Getreide auffordern, damit es zu keinen Engpässen vor allem in ärmeren Ländern kommt.

Für westliche Agrargüterhändler und Banken bedeuten Geschäfte mit Russland Reputationsrisiken. Offenbar besteht die Sorge, dass Lieferungen russischer Lebensmittel nach Afrika als Unterstützung für den Krieg in der Ukraine wahrgenommen würden. Westliche Finanzinstitute haben sich weitgehend aus dem Geschäft zurückgezogen, und die meisten russischen Banken unterliegen Sanktionen der USA oder der EU. Die Lücken beim Getreidehandel füllen aber vermehrt russische Anbieter.

Russland und die Ukraine sind bei landwirtschaftlichen Produkten wichtige Exporteure

Anteil an den weltweiten Exporten in verschiedenen Produktkategorien, in Prozent, 2020

In Südostasien zählen Vietnam, Indonesien und die Philippinen zu den grössten Importeuren von russischem und ukrainischem Weizen. Da Weizen dort aber nur einen geringen Teil des Kalorienbedarfs deckt, können die Ausfälle etwa mit Reis gut ersetzt werden. Anders sieht es in Afrika und im Nahen Osten aus. Dort wird ein Grossteil des täglichen Nahrungsbedarfs mit Brot gedeckt. Gleichzeitig beziehen die Länder der Region einen Grossteil ihrer Weizenimporte aus Russland und der Ukraine.

Die Ukraine exportiert Weizen in die ganze Welt

Die Ukraine exportiert Weizen in die ganze Welt

Je nach Nation kämen 50 oder sogar bis zu 90 Prozent der Importe aus der Schwarzmeerregion, erklärt John Baffes, Landwirtschaftsökonom bei der Weltbank. Das habe einen einfachen Grund: die geografische Lage. Ägypten, der weltweit grösste Weizenimporteur, bezieht mehr als 80 Prozent seines Bedarfs aus Russland und der Ukraine. In Libyen machen Lieferungen aus der Ukraine 43 Prozent der Weizenimporte aus, in Jemen 23 Prozent.

Die ärmsten Länder der Region treffen Ausfälle bei den Lieferungen besonders hart. Denn auch der Weizen, den das Welternährungsprogramm der Uno (WFP) in von Hunger bedrohten Ländern verteilt, stammt zur Hälfte aus der Ukraine. Seit der Aufhebung der Export-Blockade im August 2022 haben über 725 000 Tonnen Weizen die ukrainischen Häfen in Richtung Äthiopien, Jemen, Afghanistan, Sudan, Somalia, Kenya und Djibouti verlassen. Laut WFP laufen weltweit 258 Millionen Menschen Gefahr zu verhungern.

Russland und die Ukraine liefern einen grossen Teil der Nahrungsmittel für das Welternährungsprogramm

Die 10 wichtigsten Herkunftsländer für das Welternährungsprogramm im Jahr 2020, Nahrungsmittel in Tonnen

(in Tausend)

Nicht nur die fehlenden Getreideexporte drohen den Hunger auf der Welt zu verstärken. Weitere Faktoren tragen zu einer Verschärfung der Situation bei.

Hitze und Dürre

Schon vor der russischen Invasion in der Ukraine hatte das Welternährungsprogramm davor gewarnt, dass 2022 ein schwieriges Jahr werden würde. China, der weltweit grösste Weizenproduzent, erklärte, dass die Ernte 2022 die schlechteste aller Zeiten sein könnte, nachdem Regenfälle die Aussaat im vergangenen Jahr verzögert hatten. In diesem Jahr scheint die Ernte gut zu sein.

Düngemittel

Für die Ernährung der Weltbevölkerung sind Düngemittel unerlässlich. Nährstoffe wie Stickstoff, Phosphor und Kalium spielen eine wesentliche Rolle für die Steigerung landwirtschaftlicher Erträge. Bei allen drei Düngerarten ist Russland einer der führenden Exporteure.

Zusammen mit Weissrussland war das Land 2019 für rund 40 Prozent der weltweiten Kaliexporte verantwortlich. Die russischen Kalisalzhersteller unterliegen im Gegensatz zum weissrussischen Produzenten Belaruskali zwar keinen direkten Beschränkungen, die vom Westen verhängten Sanktionen gegen das russische Bankensystem erschweren jedoch den Handel.

Russland und Weissrussland zählen zu den grössten Kaliproduzenten

Weltmarktanteil der grössten Anbieter von Kali, 2020, in Prozent

Auch der Stickstoff, der für die Herstellung von Harnstoffdünger nötig ist, kommt zu grossen Teilen aus Russland, weil dort günstiges Erdgas verfügbar ist. Zugleich sind vor allem europäische Düngerhersteller auf Erdgas aus Russland angewiesen. Die steigenden Erdgaspreise verteuern die Produktion von Dünger ausserhalb Russlands in erheblichem Masse.

Exportbeschränkungen

Hinzu kommt, dass wegen der angespannten Lage und der Preissteigerungen einige Länder Exportbeschränkungen verhängt haben, um die eigene Versorgung sicherzustellen. Neben Russland haben auch Ägypten, Kasachstan, Indien, Kosovo und Serbien die Ausfuhr von Weizen verboten. Insgesamt unterliegen laut dem International Food Policy Research Institute derzeit rund 10 Prozent der gehandelten Kalorien Lieferbeschränkungen. Sollten weitere solche Massnahmen folgen, dürfte das die Lage in den Importländern zusätzlich verschärfen.

Trotz schlechter Vorzeichen: Die weltweite Weizenproduktion ist im Handelsjahr 2022/23 um 1,7 Millionen Tonnen auf 790 Millionen Tonnen angestiegen. Und auch für das nächste Jahr erwartet die amerikanische Landwirtschaftsbehörde (USDA) zwar eine kleine, aber dennoch eine Produktionssteigerung beim Weizen. Andere Weizenproduzenten haben bereits begonnen, den Verlust des ukrainischen Weizens auszugleichen.

Doch die Preise für Weizen bleiben hoch, auch wegen der gestiegenen Energie- und Düngerkosten. Angesichts der steigenden Zahl der hungernden Menschen auf der Welt hat das WFP zu mehr finanziellen Mitteln für die von Armut betroffenen Regionen aufgerufen.

Nun geht es darum, das Angebot an Energie, Dünger und lokalen Lebensmitteln zu erhöhen, vor allem beim Saatgut und in Afrika. Am wichtigsten bleibt aber der Abbau von Einfuhr- und Ausfuhrschranken.

Daten: Florian Seliger. Gestaltung, Infografik: Anja Lemcke.

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