Samstag, Oktober 5

In mehr als jeder zehnten Familie fühlen sich Eltern von einem Jugendlichen körperlich bedroht. Fachleute wissen Rat. Doch dieser erreicht Eltern oft spät, wie das Beispiel von Julian zeigt.

Und wieder einmal fliegen die Fetzen. Der 16-jährige Julian will von seiner Mutter 100 Franken zum Ausgehen. Sie lehnt ab. Für sie als Alleinerziehende ist das Geld ohnehin knapp. Er brüllt, sie schreit zurück. Daraufhin greift er nach einer Schere und rammt sie neben der Mutter in die Wand. Julians Mutter flüchtet in ihr Schlafzimmer. Der Sohn verlässt die Wohnung.

Auf diese Weise enden Auseinandersetzungen zwischen Julian und seiner Mutter immer wieder. Doch diesmal gibt es ein Nachspiel. Die Nachbarn haben das Poltern gehört und rufen die Polizei. Diese kennt Julian bereits von Diebstählen und Gewaltdelikten.

Julian gibt es nicht. Doch anhand seiner fiktiven Geschichte illustrieren die Psychologen Barbara Aeby und Felix Euler die Geschichte eines typischen Jugendlichen, den die Polizei zu ihnen ans Zentrum für Kinder- und Jugendforensik an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich schickt.

Gewalt in der Familie ist ein Risikofaktor

Julians Verhalten hat einen Namen: «parent battering», was so viel wie Elternmisshandlung bedeutet. Dazu gehört verbale, aber auch physische Gewalt. Das ist gar nicht selten.

Zwischen 10 und 20 Prozent aller Familien seien betroffen, sagen die Psychologen. Und «parent battering» ziehe sich durch alle Gesellschaftsschichten. «In sozial schwächeren Familien kommt es häufiger vor, die schwersten Fälle findet man eher in der Mittelschicht», sagt Euler.

In die Zürcher Kinder- und Jugendforensik kommen nur straffällige Jugendliche. Mehr als die Hälfte von ihnen ist auch ihren Eltern gegenüber schon gewalttätig geworden. Die meisten davon sind männlich. «Das ist innerhalb der Jugendforensik wenig überraschend», sagt der Forschungsleiter Euler. Doch in weniger schweren Fällen seien auch Mädchen die Täterinnen.

Am Anfang, typisch für die meisten Jugendlichen, weist Julian gegenüber den Psychologen jede Schuld von sich. Dann beschuldigt er die Mutter, ihm ebenfalls Gewalt angetan zu haben. Um ein umfassendes Bild der Situation zu erhalten, sprechen Aeby und Euler deshalb mit den Menschen in seinem Umfeld.

Sie reden mit Julians Lehrern und der Jugendanwaltschaft, mit seiner Mutter und mit dem Vater, der seit der Scheidung von Julians Mutter wenig Kontakt zu ihm hat. Dabei erfahren die Psychologen: Julian hat schon von klein auf mit ansehen müssen, wie sein Vater die Mutter geschlagen hat.

Wer zu Hause psychische oder physische Gewalt sieht oder selber von den Eltern geschlagen wird, neigt später eher dazu, gegen seine Eltern gewalttätig zu werden. Laut Kinderschutz Schweiz schlagen 4,4 Prozent der Schweizer Eltern ihre Kinder immer noch regelmässig. Psychische Gewalt wie das Androhen von Liebesentzug kommt gar in jeder vierten Familie vor.

«Der Erziehungsstil ist auch im Jugendalter noch ein wichtiger Risikofaktor», sagt die Therapieleiterin Aeby. «Wer hart und nicht nachvollziehbar bestraft, frustriert seine Kinder.» Doch in der Pubertät werden die Jugendlichen physisch stärker und wissen um ihre Überlegenheit. Dies, zusammen mit der Erinnerung, wie sie selber früher geschlagen worden sind, kann ein gefährlicher Mix sein.

Räumliche Distanz hilft zu deeskalieren

Beim Sozialarbeiter Matthias Gysel vom Zürcher Elternnotruf landen die leichteren Fälle von Gewalt, die noch nicht polizeilich bekannt sind. Gysel arbeitet beim Elternnotruf. Dort können Eltern anonym um Rat fragen und bei Bedarf auch eine längerfristige Begleitung erhalten.

Beim Blick in die Statistik fällt Gysel auf, dass der Anlass für Gewaltausbrüche heute ein anderer ist als noch vor zehn Jahren. «Ein häufiger Auslöser ist, wenn Eltern den Jugendlichen ihre Smartphones abnehmen oder das WLAN abschalten.» Doch insgesamt gehen heute beim Elternnotruf ungefähr so viele Anrufe ein wie vor zehn Jahren. 329 waren es im Jahr 2023.

Wie schnell eine Interaktion zwischen Eltern und Jugendlichen eskalieren kann, sieht Gysel bereits bei der Beratung in seinem Büro. Er lässt dort Jugendliche und Eltern gezielt über die Reizthemen sprechen. So kann er die Auslöser verstehen und ihnen ein paar Strategien mitgeben, die deeskalieren können.

«Zuerst müssen wir räumliche Distanz schaffen. Für den Fall, dass es dem Jugendlichen zu viel wird, vereinbaren wir als Möglichkeit Codewörter. Er und die Eltern sagen dann das Wort und ziehen sich zurück, ohne zu reagieren», sagt Gysel.

Allzu häufig würden Eltern genau das Gegenteil machen. Beispielsweise steht der Vater im Türrahmen und hindert ein wütendes Kind am Verlassen des Raumes. Das sei falsch.

Erzieherische Konsequenzen wohldosiert einsetzen

Gysel unterstützt die Eltern auch darin, ihre eigenen Emotionen zu kontrollieren. «Wenn sie etwas aufregt, sollen sie innehalten und zehn Sekunden durchatmen. Dann erst dürfen sie etwas erwidern.»

In bedrohlicheren Fällen empfiehlt Gysel den Eltern, Unbeteiligte darüber zu informieren, dass der Streit zu Hause eskaliere und sie sich nicht mehr sicher fühlten – und das dem Jugendlichen auch zu sagen. Dafür kommen Nachbarn, Verwandte und notfalls die Polizei infrage. Auch hier handeln Eltern instinktiv meist anders und ziehen sich immer mehr zurück.

Langfristig hilft Gysel den Eltern, erzieherische Konsequenzen wohldosiert und möglichst positiv einzusetzen. «Bei einem Fehlverhalten sollten Eltern eine Wiedergutmachung für die Familie einfordern. Ein Beispiel: ‹Du bist dreimal zu spät nach Hause gekommen, jetzt kannst du dafür am Sonntag für die Familie kochen.›» Wichtig sei aber auch, so Gysel, dass Eltern den Kindern vermitteln: Ich bin für dich da, auch wenn du Probleme hast.

Die Beziehung zu den Eltern wiederherstellen

Auch die Therapeuten der Zürcher Kinder- und Jugendforensik beziehen die Eltern in ihre Arbeit mit dem Jugendlichen ein. Als Antwort auf die akute Gewalt hilft häufig nur die räumliche Distanz, um die Spannung aus dem Dauerstreit zu Hause zu nehmen.

Der fiktive Julian etwa könnte zu seiner erwachsenen Schwester ziehen. «Auf diese Weise kann sich die Mutter erst einmal nur auf die Beziehung zu Julian konzentrieren und würde von erzieherischen Aufgaben entlastet», sagt der Forschungsleiter Felix Euler.

In einem Fall wie dem von Julian wäre wichtig, dass der Vater das Therapieziel – das Wiederherstellen einer funktionierenden Mutter-Kind-Beziehung – nicht sabotiert. Auch wenn er im Leben des Jungen nicht besonders präsent sei, sei wichtig, dass auch der Vater sage: «Das ist die Grenze. Ich toleriere keine Gewalt mehr gegen deine Mutter.»

Nach der rund achtwöchigen Abklärung trifft sich die Therapieleiterin Aeby zweimal im Monat mit dem Patienten. Das Ziel der Therapie wäre, dass Julian wieder zu Hause einzieht und ein Verhältnis zu seiner Mutter entsteht, das von gegenseitigem Respekt geprägt ist.

Integraler Bestandteil der Therapie ist das Anhören und Anerkennen von Julians Frust, der zu den Wutausbrüchen führte. Dann beginnen die Psychologen damit, Julian Techniken zur Kontrolle seiner Emotionen zu zeigen und seine Tage neu zu strukturieren.

Erschwerend kommt häufig dazu, dass Jugendliche unter Entwicklungsstörungen leiden: Aufmerksamkeitsstörung, Störung des Sozialverhaltens, Schwierigkeiten beim Spracherwerb und daraus resultierendes häufiges Fehlen in der Schule zum Beispiel.

Kinder mit solchen Vorbelastungen werden zwar nicht automatisch gewalttätig. Doch solche psychosozialen Risikofaktoren sind häufig bei Kindern und Jugendlichen, die später ihren Eltern gegenüber gewalttätig werden. Das zeigt beispielsweise eine Untersuchung eines Forschungsinstituts aus Niedersachsen bei rund sechstausend Jugendlichen.

Der Anfang sei meist holprig, sagt Barbara Aeby. Es gebe Rückfälle. Doch verlaufe die Behandlung von Julian ganz typisch, so habe er die Therapie nach zwei Jahren abgeschlossen. Er sei wieder zu seiner Mutter zurückgezogen, und die Situation zu Hause sei wieder erträglicher geworden.

Die verstrichene Zeit helfe meist auch, sagt Aeby. Jemand wie Julian sei dann 18 Jahre alt und nicht mehr so impulsiv wie mit 16. Vielleicht flamme altes Verhalten manchmal wieder auf. Doch zur Eskalation komme es nicht mehr. Auch weil Julian wisse, dass er im Notfall seinen Therapeuten anrufen könne.

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