Werden Mäuse traumatisiert, verhalten sich ihre Nachkommen noch Generationen später gestört. Doch können Traumata auch beim Menschen vererbt werden? Eine Studie an syrischen Flüchtlingen liefert neue Hinweise.

Zehn schwangere Frauen durchleben 1982 in der syrischen Kleinstadt Hama einen Albtraum. Vier Wochen lang sind sie in der Stadt eingeschlossen. Sie bekommen mit, wie Nachbarn und Familienmitglieder verhaftet, gefoltert, getötet werden, fliehen aus einstürzenden Häusern, sehen Leichenberge in den Strassen. Mehr als zehntausend Menschen sterben beim Massaker von Hama.

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Wer ein solches Blutbad miterlebt, den wird das sein Leben lang begleiten. Aber hat es auch Folgen für das ungeborene Kind? Und überträgt sich das Trauma womöglich sogar auf nachfolgende Generationen?

«Epigenetische Signatur von Gewalt»

Um diesen Fragen nachzugehen, haben Wissenschafter die Familien der schwangeren syrischen Frauen untersucht. Die Frauen sind nach dem Massaker von Hama nach Jordanien geflohen und haben ihre Kinder dort zur Welt gebracht und aufgezogen. Heute haben sie Enkel, die fern von den gewaltvollen Erlebnissen ihrer Grossmütter aufgewachsen sind.

In DNA-Proben dieser Enkel haben die Forscher Spuren gefunden, die sich womöglich auf die extremen Gewalterlebnisse der Grossmütter zurückführen lassen. Bei den Spuren handelt es sich um sogenannte epigenetische Marker. Das sind Veränderungen am Erbgut, bei denen kleine chemische Moleküle an bestimmten Stellen an die DNA angefügt sind. Diese Moleküle verändern zwar nicht die Gene selbst, können sich aber auf deren Aktivität auswirken.

An vierzehn Stellen im Erbgut haben die Forscher bei den Enkeln der traumatisierten Grossmütter Veränderungen der epigenetischen Markierungen gefunden. In einer Vergleichsgruppe von Kindern in Jordanien, deren Mütter und Grossmütter keine vergleichbaren Traumata erlebt haben, gab es die gleichen Veränderungen nicht. Die Forscher sprechen von einer «generationenübergreifenden epigenetischen Signatur von Gewalt».

Ob die epigenetischen Marker, die die Enkel in sich tragen, eine Funktion und einen Einfluss auf ihre Gesundheit haben, ist aber noch unklar. Und noch etwas schränkt die Aussagekraft der Resultate ein: Die Anzahl der Versuchspersonen in der Studie ist sehr klein. Nur eine der zehn Grossmütter, neun Töchter und insgesamt achtzehn Enkelkinder haben Proben für die Studie abgegeben.

Kleine Stichproben sind typisch für Studien zur Traumavererbung am Menschen. Denn nur selten haben genügend Menschen so ähnliche Biografien, dass man den Effekt bestimmter Lebensereignisse an ihnen untersuchen kann. «Ich glaube, wir haben mit jeder einzelnen Familie gearbeitet, die für eine Teilnahme an der Studie infrage kam», schreibt die Hauptautorin der Studie Connie Mulligan in einer Medienmitteilung.

Isabelle Mansuy forscht an der ETH Zürich und der Universität Zürich zum Einfluss von Epigenetik auf das Gehirn und zur Vererbung von Traumata. «Solche Studien am Menschen sind wichtig, aber sehr schwierig», sagt sie. Denn es sei unmöglich, alle relevanten Faktoren im Leben der Versuchspersonen zu kontrollieren.

In ihren Augen liefert die Studie keinen Beweis dafür, dass traumatische Erlebnisse in Form von epigenetischen Veränderungen tatsächlich biologisch weitergegeben werden. Denn die Marker könnten ebenso gut durch ein verändertes Verhalten der Familien hervorgerufen worden sein. «Eine Familie, die ein solches Trauma erlebt hat, kann nie so leben wie eine, die davon verschont wurde», sagt Mansuy. Die epigenetischen Markierungen könnten also daher kommen, dass die traumatisierten Mütter anders mit ihren Kindern und Enkeln umgegangen sind als andere Frauen.

Mäuse spüren den Stress ihrer Vorfahren

Bei Studien am Menschen sind solche Einschränkungen unvermeidlich. Mansuy erforscht die epigenetische Weitergabe von Traumata und extremen Stresssituationen deswegen an Mäusen im Labor.

In ihren Versuchen ahmen Mansuy und ihr Team bei den Mäusen eine traumatische Kindheit nach, wie sie auch manche Menschen erleben. Dazu trennen sie die Labormäuse in den ersten zwei Wochen ihres Lebens immer wieder unvorhersehbar von ihrer Mutter. Zusätzlich setzen sie die Mutter unter Stress, indem sie sie für einige Minuten ins Wasser werfen oder in einer engen Röhre einsperren.

Diese unsichere Kindheit hat im Erwachsenenalter deutlich messbare Folgen für die Mäuse. Sie zeigen Anzeichen von Depressionen, setzen sich eher Risiken aus als die Mäuse in der Kontrollgruppe und haben einen veränderten Stoffwechsel. Diese Symptome konnten die Forscher noch in der fünften Generation beobachten, also bei Mäusen, bei denen lediglich die Ururgrosseltern vom Kindheitstrauma betroffen waren.

Um auszuschliessen, dass die traumatisierten Mäuse sich schlicht nicht gut um ihren Nachwuchs kümmern, machten die Wissenschafter einen weiteren Versuch. Bei diesem wurden die Nachkommen der traumatisierten Mäuse von Mäusen grossgezogen, die ganz normal aufgewachsen waren. Die Symptome in den Nachkommen blieben trotzdem bestehen. Das verdeutlicht, dass es zumindest bei Mäusen einen biologischen Faktor geben muss, durch den der frühkindliche Stress an die Nachkommen weitergegeben wurde. «Das wird man so am Menschen nie zeigen können», sagt Mansuy.

In Studien an Versuchstieren haben die Forscher auch mögliche biochemische Mechanismen gefunden, die die Weitergabe der Traumaeffekte an die nachfolgende Generation erklären könnten. So hat eine Studie gezeigt, dass RNA-Fragmente in den Spermien traumatisierter Mäuse dafür verantwortlich sein könnten, den Effekt an die nächste Generation weiterzutragen. Wenn man bestimmte RNA-Fragmente von traumatisierten Mäusen in die Embryonen von untraumatisierten Mäusen spritzt, entwickeln diese im Erwachsenenalter die typischen Traumasymptome.

Beim Menschen ist die Forschung umstritten

Aber lassen sich die Ergebnisse an Mäusen tatsächlich auf den Menschen übertragen? Unter Forschern ist die transgenerationale Traumavererbung beim Menschen noch ein Streitthema. Die Diskussion dreht sich vor allem um zwei Fragen: Können epigenetische Veränderungen wirklich vererbt werden? Und welchen Effekt haben «vererbte Traumata» überhaupt?

Untersuchungen von erblichen Traumaeffekten beim Menschen haben sich bisher vor allem auf eine bestimmte Klasse von chemischen Markern an der DNA konzentriert, die Methylierungen. Diese können einen Einfluss darauf haben, wie stark Gene zum Einsatz kommen. Durch solche epigenetischen Veränderungen kann der Körper auf Ereignisse reagieren, die im Laufe des Lebens auftreten. Doch es ist umstritten, ob diese Methylierungen an die nächste Generation weitergegeben werden. Denn während der Befruchtung wird der allergrösste Teil der Methylierungen von der DNA entfernt. Der Embryo sollte also eigentlich als unbeschriebenes Blatt ins Leben starten.

Wie eine mögliche Weitergabe von Traumata stattfinden würde, ist ebenfalls unklar. Bei einer Studie fand man beispielsweise bei Holocaustüberlebenden eine Häufung von Methylierungen an einem bestimmten Gen – bei ihren Kindern hingegen fand man auffällig wenige der chemischen Marker am gleichen Gen. Und bei den syrischen Familien haben die Forscher zwar für jede Generation eine typische epigenetische Signatur gefunden, aber die markierten Stellen im Erbgut stimmten zwischen Grosseltern, Eltern und Enkeln nicht überein. Wenn Traumata also über Methylierungen weitergegeben werden, muss es sich um einen komplexeren Mechanismus als die Vererbung des gleichen Musters handeln.

Auch bei den Folgen von vererbten Traumata zeigen die bisherigen Studien ein durchmischtes Bild. Während eine Studie bei Söhnen von ehemaligen Kriegsgefangenen ein um 10 Prozent erhöhtes Sterberisiko feststellte, bescheinigten mehrere Studien den Nachkommen von Holocaustüberlebenden eine ebenso gute Gesundheit wie ihren Mitmenschen. Einzelne Studien fanden sogar positive Effekte: Die Enkel von Menschen, die im deutschen Steckrübenwinter 1916 hungerten, hätten weniger psychische Erkrankungen als eine Vergleichsgruppe, stellte eine Studie in Deutschland fest.

Ein traumatisches Erlebnis ist also keinesfalls gleich ein Fluch, der eine Familie über Generationen hinweg zu Leid verdammt. Das betonen auch die Autoren der Studie zu den syrischen Flüchtlingsfamilien. Trotz der erlebten Gewalt führten diese ein erfülltes, produktives Leben.

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