Sonntag, Oktober 6

Bei manchen Frauen verläuft die Geburt traumatisch, häufig wegen der Menschen, die ihnen helfen sollten. Wie es dazu kommen kann und was Betroffenen hilft.

Sogar die Hebamme hatte sich abgewandt. Die Geburt des Kindes zog sich schon über drei Tage hin, als der Facharzt den sogenannten Kristeller-Handgriff anwandte. Der Mediziner drückte der gebärenden Frau mit dem Ellenbogen auf den Bauch, während er mit der anderen Hand in ihrer Scheide war. Die Hebamme sagte nachher, es tue ihr leid, sie habe es nicht mit ansehen können. Die werdende Mutter erinnert sich: «Ich schrie und weinte. Es fühlte sich an wie eine Vergewaltigung.»

Es ist eigentlich ein magischer Moment, wenn ein Kind zur Welt kommt. Für viele Frauen wird die Geburt aber zur belastenden Erinnerung, für manche sogar Quell eines Traumas. Nicht wegen der Wehen, nicht wegen der vielen Stunden Schmerzen, nicht wegen möglicher Komplikationen. Sondern wegen der Menschen, die ihnen dort eigentlich helfen sollten.

Der Schweizer Verein Gewaltfreie Geburtshilfe hat anonyme Berichte von Frauen auf seiner Website veröffentlicht, auch den obigen. Es handelt sich nur um eine von vielen belastenden Erinnerungen.

Die Bandbreite der Erfahrungen, die die Frauen in Kreisssälen gemacht haben, ist gross. Eine Frau erhielt in steigender Dosis Medikamente über einen Tropf, ohne dass Rücksprache mit ihr gehalten wurde. Eine Gebärende vermutete Presswehen und wurde von der Hebamme ausgelacht: «So schnell geht das nicht, erzählen Sie keinen Schwachsinn» – nur um schliesslich doch bestätigt zu bekommen, dass sie es richtig verspürt hat. Eine Frauenärztin habe ohne Ankündigung mit der ganzen Hand in die Gebärmutter gegriffen. Und noch eine andere Frau erlebte, dass ihr Dammriss genäht wurde, obwohl die Betäubung nicht wirkte. Einzelfälle sind das nicht.

Umfrage in der Schweiz: Frauen fühlen sich eingeschüchtert

In einer Umfrage der Berner Fachhochschule aus dem Jahr 2020 gaben 6000 Frauen Auskunft über ihr Geburtserlebnis. Eine von vier Müttern berichtete von negativen Erfahrungen: Sie seien durch Hebamme, Ärztin oder Pflegekraft beleidigt worden, man habe ihre Bewegungsfreiheit eingeschränkt, an ihnen Behandlungen durchgeführt, die sie nicht gewollt hätten, sie hätten sich eingeschüchtert und unter Druck gesetzt gefühlt. Jeder fünften Befragten waren es zu viele vaginale Untersuchungen während der Geburt.

«Eine Geburt ist eine gewaltige Sache an sich, aber die natürlichen Abläufe empfinden Frauen üblicherweise nicht als gewaltvoll – sondern die Personen um sie herum und deren Handlungen», sagt Rainhild Schäfers. Sie ist Professorin für Hebammenwissenschaft an der Universität Münster. Gewalt und Grenzüberschreitung in der Geburtshilfe habe es schon immer gegeben, das sei nicht neu. Aber heute erführen Frauen mehr Aufmerksamkeit für ihre Bedürfnisse. Sprich: Frauen lassen nicht mehr alles mit sich machen und schweigen seltener darüber.

Die WHO hat 2018 eine Schrift herausgegeben, in der 56 Empfehlungen für eine gute Geburt aufgelistet sind. Der erste Punkt: ein respektvoller Umgang mit den Müttern. Ihre Würde und Privatsphäre sowie die Freiheit von Verletzung und Fehlbehandlung sollen während der Geburt gesichert werden. Selbstverständlich, würde man meinen. Immer wieder Mangelware, das ist die Realität.

Negative Geburtserlebnisse haben langfristige Folgen

Dabei empfinden Frauen nicht unbedingt die Massnahmen als problematisch, die das medizinische Personal anwendet, um die Gesundheit von Frau und Kind zu schützen. Auch Kleinigkeiten im Umgang zwischen Fachpersonal und Gebärender könnten potenziell traumatisierend sein, sagt die Medizinerin Ute Taschner.

Taschner hat viele Jahre in der Geburtshilfe unter anderem in der Schweiz gearbeitet, heute bietet sie Fachkräften Schulungen zu Trauma und Geburt an. Sie sagt: «Hat eine Frau unter der Geburt eine traumatische Erfahrung gemacht, wirkt sich das auf alle Lebensbereiche aus.» Probleme beim Stillen, in der Partnerschaft, in der Bindung zum Kind seien mögliche Folgen. Manchmal meiden die Frauen Arzttermine nach der Geburt oder während weiterer Schwangerschaften.

Eine Erhebung aus Deutschland mit mehr als 1000 Müttern zeigte: Etwa die Hälfte von ihnen hatte ein negatives Ereignis während der Geburt, von ihnen wiederum erlebte jede fünfte körperliche Gewalt wie den Kristeller-Handgriff, von dem die Weltgesundheitsorganisation mittlerweile abrät. Etwa gleich viele Frauen berichteten von psychischem Missbrauch, sie fühlten sich etwa lächerlich gemacht. Jede dritte hatte den Eindruck, im Kreisssaal vernachlässigt worden zu sein.

Die Folgen können gravierend sein: Frauen, die eines oder gar mehrere solcher Ereignisse gehabt hatten, neigten gemäss der Studie eher zu Wochenbett-Depressionen und wiesen mehr Anzeichen von posttraumatischem Stress auf. Ein Dominostein stösst den nächsten um: Erkrankt eine Mutter so kurz nach der Geburt psychisch, kann das die Beziehung zum Kind belasten.

Schlechte Arbeitsbedingungen und persönliche Einstellungen

Gleichzeitig betont Taschner: «Wir sollten auch verstehen, dass die Gewalt von den Hebammen, Medizinerinnen und Pflegekräften nicht bewusst gewollt ist.» Viele würden mit einem hohen Ethos in ihren Beruf starten. Und viele handeln ja auch positiv, auch das zeigen die Zahlen. In den bereits erwähnten Befragungen haben drei von vier Müttern in der Schweiz und etwa die Hälfte der Frauen in Deutschland keine negativen Erfahrungen erwähnt.

Aber worin liegen die Ursachen für die erlebten Grenzüberschreitungen in der Geburtshilfe dann? «Als Hebamme kann ich sagen: Die Übergriffe in der Geburtshilfe liegen auch in den Arbeitsbedingungen begründet», sagt Schäfer. Es sei nicht immer die Zeit vorhanden, um mit den Frauen abzusprechen, was sie möchten. Eine Eins-zu-eins-Betreuung sei nicht möglich, es gebe zu viele Aufgaben gleichzeitig.

Taschner sieht Hektik und problematische Arbeitsbedingungen aber nicht als eine gelungene Rechtfertigung für die Missstände: «Ich habe schon erlebt, dass Mediziner in der Notaufnahme ganz selbstverständlich mit bewusstlosen Menschen gesprochen und ihnen erklärt haben, was sie jetzt tun – trotz all der gebotenen Eile und Dramatik der Situation.»

«Kommunikation ist das Wichtigste», sagt auch die Hebammenwissenschafterin Schäfers. Oft würden Prozeduren durchgeführt, ohne dass man sie vorher ankündige, erkläre und sich von den Frauen die Zustimmung dafür einhole.

Die Rechte der Frauen

Für die Psychologin Claudia Watzel liegt die Ursache für unangemessene Handlungen während der Geburt tiefer: Den Frauen werde ihrer Meinung nach geradezu abgesprochen, dass sie einschätzen können, was mit ihrem Körper passiere. «Dabei können sie sehr wohl unterscheiden zwischen natürlichem Geburtsschmerz und gewaltvollen Handlungen von aussen», sagt Watzel. Seit zwei Jahren bietet sie in einem Familienzentrum in Berlin eine Sprechstunde für Mütter nach belastenden Geburtserfahrungen an. Sie sei erschrocken gewesen, wie viel Zulauf sie von Beginn an gehabt habe.

Haben die Frauen eventuell unrealistische Erwartungen an ihr Geburtserlebnis? Watzel sagt: «Dass Frauen so zahlreich von negativen Geburtserfahrungen berichten, liegt nicht an ihren zu positiven Erwartungen an die Geburt.» Was sie erwarten, sei ein respektvoller Umgang, so wie alle Patienten, die aus ganz verschiedenen Gründen zum Arzt gehen.

Um die Situation zu verbessern, Lücken in der Absprache zu vermeiden und Erwartungen einzupegeln, arbeitet man heute vielerorts mit Geburtsplänen. Dafür wird mit den künftigen Müttern und Vätern besprochen, welche Massnahmen für sie während der Geburt in Ordnung sind, welche sie nicht möchten. Das soll kein starres Konstrukt sein, aber eine Richtschnur für alle Beteiligten.

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Watzel empfiehlt Frauen zudem, sich mehr mit ihren Rechten auseinanderzusetzen und diese einzufordern: «Es ist ein Patientenrecht, dass Behandlungen nur nach informierter Zustimmung durchgeführt werden dürfen. Das bedeutet, die Frauen müssen aufgeklärt werden und dürfen Nein sagen. Hält man sich nicht daran, ist das rechtlich nicht in Ordnung.» In ihrer Beratung höre sie immer wieder, dass Rechte übergangen worden seien.

Eine gelungene Kommunikation hilft

Kam es zu einer belastenden Situation, dann kann es den Frauen helfen, im Nachhinein ins Gespräch zu gehen. In der Schweizer Befragung berichteten immerhin 50 Prozent der 6000 befragten Mütter, dass sie mit den Fachkräften noch einmal über ihre Erfahrung bei der Geburt ins Gespräch kamen. Die grosse Mehrheit fand das hilfreich.

Eine Forschergruppe aus Frankreich empfiehlt in einem Fachartikel sogar, alle Frauen zwei Tage nach der Niederkunft gezielt nach ihren Erinnerungen an diese Stunden zu befragen. Fielen Berichte von Frauen negativ aus, sollte man psychologisch intervenieren, um zum Beispiel einer Angsterkrankung oder Depression vorzubeugen. «Wie erging es Ihnen bei der Geburt?» – Solch eine kleine Frage kann für eine Mutter womöglich einen grossen Unterschied machen.

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