Immer häufiger seien junge Erwachsene an schwere Gewaltdelikten beteiligt. Man müsse versuchen, sie von der schiefen Bahn zu holen.

Die Zürcher Staatsanwältinnen und Staatsanwälte versinken in Arbeit. Zum zweiten Mal in Folge sind die Fallzahlen gestiegen. Über 32 000 Geschäfte seien im vergangenen Jahr eingegangen. Dies hat die Staatsanwaltschaft am Donnerstag im Rahmen einer Medienkonferenz bekanntgegeben. Gegenüber 2021 entspricht dies einer Steigerung von 15 Prozent. Mit mehr Personal ist es der Staatsanwaltschaft zwar gelungen, mehr Fälle abzuarbeiten, aber mit dem Wachstum kommt sie derzeit nicht nach. Jede Staatsanwältin und jeder Staatsanwalt im Kanton sitzt deshalb auf einem Pendenzenberg von 90 bis 100 Fällen.

Gestiegen sind die Fallzahlen in verschiedenen Bereichen: Strassenverkehrsdelikte, Vermögensdelikte und auch Gewaltdelikte. Ines Meier ist leitende Staatsanwältin der Staatsanwaltschaft I. Diese ist spezialisiert auf die Verfolgung schwerer Gewaltkriminalität.

Frau Meier, die Gewaltstraftaten nehmen zu, das zeigen auch die Kriminalitätsstatistiken der Polizei. Beobachten Sie bestimmte Trends?

Es sind immer häufiger junge Erwachsene an schweren Gewaltdelikten beteiligt, also Menschen um die 20. Immer mehr Personen nehmen heute ein Messer mit in den Ausgang, die Schwelle, dieses einzusetzen, scheint gesunken zu sein. Das ist eine erschütternde Entwicklung.

Wie reagieren Sie darauf?

Unsere Aufgabe ist es, die Tat aufzuklären und die Beschuldigten zur Rechenschaft zu ziehen. Bringen wir junge Erwachsene vor Gericht, kommt allen Beteiligten eine besondere Verantwortung zu. Denn wir haben es mit Menschen zu tun, die an einem richtungsweisenden Punkt in ihrer Entwicklung stehen. Es liegt im gesellschaftlichen Interesse, sie von der schiefen Bahn zu holen.

Was können Sie als Staatsanwältin tun?

Wir hatten es kürzlich mit einer jungen Frau zu tun, die jemandem mit einer Flasche auf den Kopf geschlagen hat. Glücklicherweise blieben die Verletzungsfolgen gering, aber der Schlag hätte ohne weiteres auch einen Schädelbruch zur Folge haben können. Diese junge Frau ist in der Lehre und lebt in gefestigten Strukturen. Zudem ist sie vorher noch nie straffällig geworden. In solchen Fällen ist eine differenzierte Betrachtungsweise angezeigt.

Was heisst das?

Es gilt abzuwägen, was sinnvoller ist: dem Gericht eine unbedingte Freiheitsstrafe zu beantragen und damit eine Lehrabschluss zu verunmöglichen. Oder eine bedingte Freiheitsstrafe, dafür verbunden mit einer mehrjährigen Probezeit.

Können Sie sich erklären, warum die Gewalt zunimmt?

Darauf gibt es keine einfache Antwort. Zwei Themenbereiche beschäftigen uns besonders: das ist einerseits die häusliche Gewalt und andererseits sind das Gruppendelikte, bei denen mehrere Personen aufeinander losgehen oder mehrere Täter auf ein Opfer einprügeln.

Was bedeutet das für Ihre Arbeit?

Grosse Schlägereien mit vielen Beteiligten sind oft sehr aufwendig. Einerseits binden sie viel Personal, andererseits ist es häufig schwierig herauszufinden, wer die Haupttäter sind.

Können Sie das an einem Beispiel erklären?

Wir haben mehrmals pro Woche mit Fällen zu tun, bei dem ein Opfer gegen den Kopf getreten wurde. Das Opfer hält in einem solchen Fall meist die Arme schützend vor den Kopf und sieht also nicht, welcher der Beteiligten ihn getreten hat. Oft werden solche Gewalttaten aufgezeichnet. Solche Bilder anzuschauen, ist manchmal schwer zu ertragen. Aber sie können helfen, die Haupttäter zu überführen. Fehlen solche Beweise, kann es schwierig werden. Vor allem, wenn die Beschuldigten nicht aussagen.

Die Bekämpfung der häuslichen Gewalt ist ein Schwerpunktthema, das der Regierungsrat vorgegeben hat. Was tun Sie, um solche Fälle zu verhindern?

Das Thema beschäftigt alle involvierten Behörden seit Jahren intensiv. Wir haben inzwischen ein breites Instrumentarium, das wir einsetzen. Wir Staatsanwältinnen und Staatsanwälte wurden in diesem Bereich eingehend geschult und arbeiten in solchen Fällen interdisziplinär mit Spezialistinnen und Spezialisten zusammen; beispielsweise mit forensische Psychologen, die für uns Gefahreneinschätzungen machen, oder dem polizeilichen Bedrohungsmanagement. Es gibt auch Lernprogramme, in die wir gewaltbereite Partner schicken können.

Trotzdem bleibt die Zahl der Tötungsdelikte im häuslichen Bereich über die Jahre etwa gleich. Eine Trendwende zeigt sich nicht.

Unsere zahlreichen Massnahmen, mit denen Gewalttaten verhindert werden konnten, erscheinen in keiner Statistik. Wir sehen immer wieder, dass beispielsweise Lernprogramme zu positiven Verhaltensänderungen bei Tätern führen. Aber es ist leider auch eine Tatsache, dass wir nicht alles verhindern können. Es gibt Fälle, die passieren aus Sicht der Behörden absolut ohne Vorwarnung.

Am 1. Juli tritt das neue Sexualstrafrecht in Kraft. Neu gilt der Grundsatz: Nein heisst nein. Wird es mehr Anzeigen geben?

Das kann durchaus sein. Neu muss der Täter nicht mehr Gewalt oder Drohungen eingesetzt haben, damit es sich um eine Straftat handelt. Es reicht, wenn das Opfer durch Worte, Gesten oder auch Erstarren zeigt, dass es die sexuellen Handlungen ablehnt. Ob es am Ende aber auch zu mehr Verurteilungen kommt, ist offen. Denn das Kernproblem bleibt: Sexualdelikte spielen sich meist unter vier Augen ab. Die Schwierigkeit, die Tat nachzuweisen, besteht weiterhin.

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