Montag, Oktober 7

Die Spitzenverdiener in Schweizer Konzernen erhalten 143-mal mehr Lohn als ihre Kollegen am unteren Ende der Lohnskala. In gewissen Unternehmen ist die Lohnschere besonders gross.

Wie viel Geld kann menschliche Arbeitskraft wert sein? Und wann ist ein Lohn zu hoch oder zu niedrig? Seit es Lohnarbeit gibt, sorgen solche Fragen für rote Köpfe. Denn ein einfaches Kriterium, was ein gerechter Lohn ist, existiert nicht. Daher sind Diskussionen zur Lohnfrage oft sehr emotional, und es wird mit Begriffen wie «Dumping» oder «Abzocke» argumentiert. Das ist auch bei der Lohnschere-Studie der knapp 180 000 Mitglieder zählenden Gewerkschaft Unia der Fall.

Höchster Cheflohn bei Novartis

Die Studie untersucht die Lohnungleichheit in den 36 grössten und mehrheitlich börsenkotierten Unternehmen der Schweiz. Gemessen wird die Lohnschere, also das Verhältnis zwischen dem höchsten und dem niedrigsten Lohn innerhalb eines Unternehmens. Dabei zeigt sich: Die Lohnschere ist 2023 auseinandergegangen. So verdienten Topmanager im Durchschnitt 143 mal mehr als ihre Angestellten mit den tiefsten Löhnen. Im Jahr 2022 hatte die Lohnschere noch 1:139 betragen.

Spitzenreiter bei der Lohnungleichheit ist die UBS. Bei der einzigen global tätigen Grossbank im Land verdiente Konzernchef Sergio Ermotti im vergangenen Jahr rund 267 Mal mehr als der Angestellte mit dem tiefstmöglichen Lohn. Auf den nachfolgenden Rängen folgen Novartis (250) und Nestlé (220). Die geringste Lohnspreizung weisen bei den untersuchten Firmen die Detailhändler Coop (11) und Migros (16) sowie die bundesnahen Betriebe SBB (11) und Post (18) auf.

Während bei der UBS die Lohnschere am weitesten geöffnet ist, steht das Pharmaunternehmen Novartis beim Cheflohn an der Spitze. So erhielt Konzernchef Vas Narasimhan im vergangenen Jahr einen Lohn von 16,2 Millionen Franken. Das entspricht einem starken Zuwachs um 92 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Entsprechend machte auch das Verhältnis zwischen dem höchsten und tiefsten Lohn bei Novartis einen besonders grossen Sprung und verdoppelte sich beinahe.

Tageslohn höher als Jahreslohn

Die Spitzenposition von Narasimhan verlangt aber eine Relativierung. Denn der lohnmässig zweitklassierte Ermotti war 2023 im Zug der Credit-Suisse-Übernahme nur neun Monate im Sold der UBS und erhielt hierfür 14,4 Millionen Franken. Rechnet man diesen Lohn auf zwölf Monate hoch, resultiert eine Summe von 19,2 Millionen Franken. Mit einem solchen Jahreslohn käme Ermotti noch vor Narasimhan an der Spitze der Schweizer Grosskonzerne zu stehen.

Der Lohn Ermottis sorgte in den vergangenen Monaten nicht nur in der Bundesberner Politik für Unmut. Erwartungsgemäss spart auch die Gewerkschaft Unia nicht mit Empörung – und stellt hierzu einige Vergleiche an. So habe Ermotti pro Arbeitstag mit 84 000 Franken ein Salär erhalten, das höher liege als ein mittlerer Jahreslohn in der Schweiz (81 500 Franken). Und er habe pro Tag eineinhalb Mal so viel verdient wie der tiefstmögliche Jahreslohn bei der UBS.

Von den zehn Unternehmen mit den höchsten Cheflöhnen verdiente der CEO bei fünf Konzernen über 10 Millionen Franken. Insgesamt stieg der Cheflohn in dieser Zehnergruppe im Median (die Hälfte lag darunter, die andere darüber) um 3,5 Prozent. Die Unia schreibt: «Teuerungsausgleich und Reallohnerhöhungen sind also möglich, aber nur für die Bestverdienenden, welche im Gegensatz zu den Menschen mit tiefen und mittleren Löhnen nicht darauf angewiesen sind.»

Auch Arbeitnehmer sind Aktionäre

Man mag dies als Polemik abtun, wie auch der Titel der Unia-Studie («Abzocker und Aktionäre profitieren – Arbeitnehmer verlieren») sehr plakativ wirkt. Dass es aber dem Korpsgeist eines Unternehmens wenig dienlich ist, wenn der Belegschaft vorgerechnet wird, weshalb der Teuerungsausgleich finanziell nicht tragbar ist, die Cheflöhne aber weit stärker steigen als die Inflation, liegt auf der Hand. Doch bei der Fixierung von CEO-Löhnen spielt die Inflation eine marginale Rolle.

Sehr pauschal fällt die Kritik der Unia an den Gewinnen und Dividenden der Unternehmen aus. Es wird kritisiert, die grössten Schweizer Firmen hätten im vergangenen Jahr rund 45 Milliarden Franken an Dividenden ausgeschüttet, wobei vor allem Unternehmen wie Roche, Nestlé, Novartis und Zurich herausragen. Dabei wird suggeriert, von den Ausschüttungen und den ebenfalls kritisierten Aktienrückkäufen profitierten letztlich nur das Topkader und eine kleine Gruppe von Aktionären.

Die Realität dürfte komplexer sein: So besitzen die meisten Pensionskassen auch Aktien dieser SMI-Konzerne. Wenn deren Kurse dank Dividenden oder Aktienrückkäufen steigen, profitiert davon jeder Angestellte mit einer Pensionskasse, also auch Bezüger mittlerer und niedriger Einkommen. Es ist daher eine Irreführung, wenn Gewerkschaften oft den Eindruck vermitteln, es gebe keinerlei Überschneidung zwischen den Interessen von Arbeitnehmern und Aktionären.

Ruf nach zentralisierter Lohnpolitik

Fraglich ist zudem, ob die Rezepte von Unia geeignet sind, um die materielle Situation von Niedrigverdienern zu verbessern. So schreibt die Gewerkschaft in ihrer Studie, nur kollektive Lohnverhandlungen, generelle Lohnerhöhungen, ein Ende der individualisierten Lohnpolitik, allgemeinverbindliche Gesamtarbeitsverträge und gesetzliche Mindestlöhne könnten sicherstellen, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer anständige Löhne erhielten.

Eine solche Zentralisierung und Bürokratisierung der Lohnpolitik würde aber vor allem den Einfluss der Gewerkschaften stärken. Eine Lohnfindung, die sich von den spezifischen Bedingungen einzelner Unternehmen und Branchen entfernt, gefährdet letztlich die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen. Die Folge: Die Firmen verzichten auf Neueinstellungen, weil sie sich betriebswirtschaftlich nicht mehr rechnen. Damit wäre nichts gewonnen im Kampf für die Interessen der Arbeitnehmer.

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