Freitag, November 1

Früher reisten Musiker zu ihren Fans. Heute fliegen diese zu ihren Idolen an Konzerte der Superlative. Das jüngste Reisephänomen im Rampenlicht.

Wenige Klicks genügen, und Flug sowie Hotel sind gebucht. Nie war es einfacher, eine individuelle Reise zu planen. Das führte im vergangenen Sommer zu einer bemerkenswerten Massenbewegung. Reiseveranstalter und Influencer sprechen gar von einer neuen Reiseart, dem Gig-Tripping oder auch dem Tour-Tourismus: Musikfans fliegen um die halbe Welt, um Pop-Stars wie Taylor Swift in Edinburgh oder Adele in München live zu erleben. Das Konzert verbinden die Musikliebhaber mit Kurzferien. Der Gig als einzigartiger, authentischer Moment wird zum zentralen Erlebnis ihres Trips.

Das Prinzip hinter Gig-Tripping ist kein völlig neues. In den letzten vierzig Jahren reisten Menschen gezielt ins Ausland zu kulturellen Höhepunkten, um etwa die visionären Meisterwerke von Leonardo da Vinci in London oder die kurzen, energetischen Pinselstriche von Vincent van Gogh in einer Sammelausstellung in Amsterdam zu bewundern. Oder sie reisten nach Verona, um im Amphitheater der aussergewöhnlichen Tiefe von Maria Callas’ Stimme oder dem strahlenden, warmen und unverwechselbar hellen Timbre von Luciano Pavarotti zu lauschen.

In den letzten Jahrzehnten hat sich das Reiseverhalten stark verändert. Die Reisestrecken sind durch die einfachere Zugänglichkeit zum Fliegen länger geworden, «die Motive vielfältiger», sagt der deutsche Tourismusforscher Jürgen Schmude. Heute stehen beim Reisen neben kulturellen oft auch sportliche Aspekte, kulinarische Erlebnisse oder Shopping im Vordergrund. «Reisen ist längst nicht mehr nur Bildung oder Erholung am Strand, wie es bei unseren Eltern oder Grosseltern der Fall war.» Damals ging es primär um Horizonterweiterung oder die Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit bei der Arbeit. «Heute suchen Reisende einzigartige Erlebnisse, die ihre persönlichen Interessen widerspiegeln.» Neu am Gig-Tripping ist laut Professor Schmude, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Tourismuswissenschaft, «die Dimension – die Masse der Reisenden und die gezielte Organisation solcher Veranstaltungen».

Acht Stunden Flug für dreieinhalb Stunden Konzert

2023 fiel der Gig-Tourismus erstmals bei Beyoncés «Renaissance»-Tour auf. Schon damals zeichnete sich ab, was diesen Sommer deutlich wurde: Früher reisten die Stars zu ihren Fans in die Städte. Heute, beim Gig-Tripping, ziehen die Fans den Pop-Stars hinterher, deren Mega-Events in eigens für sie gebauten Arenen wie Magnete wirken.

Die Konzerte von Taylor Swift und Adele ziehen bemerkenswert viele internationale Besucher an. Bei Swifts Auftritten in Paris kam jeder fünfte Besucher aus den USA. Die drei Konzerte in der Stockholmer Friends Arena vereinten Menschen aus 130 Ländern, wobei die meisten internationalen Besucher auch da Amerikaner waren. Sie flogen mindestens acht Stunden, um in dreieinhalb Stunden 16 Outfitwechsel und 45 Songs der Ausnahmekünstlerin aus Pennsylvania zu erleben.

Bei Adeles zehn Konzerten im August in München stammte rund die Hälfte der 740 000 Besucher aus dem Ausland. Die grösste Fangemeinde der britischen Sängerin kam aus Grossbritannien, darauf folgten die Amerikaner. Zudem reisten zahlreiche Fans aus Europa an, am zahlreichsten aus den Niederlanden und Skandinavien, aber auch aus Brasilien, Argentinien, Australien, Kanada, China und Indien.

Superstars wie Adele bilden eigene Vergnügungswelten

Die Organisatoren eines Konzerts der Superlative investieren enormen Aufwand, der sich jedoch auszahlt. Für den Transport des Bühnenequipments von Taylor Swifts Welttournee sind 50 bis 70 Lastwagen erforderlich. Ihre Eras-Tour mit 152 Shows hat nach 60 Konzerten bereits eine Milliarde Dollar Einnahmen erzielt – ein Novum im Konzert-Business.

Für Adele errichteten die Organisatoren im Osten Münchens ein Pop-up-Stadion auf einer Fläche von 56 Fussballfeldern. Die «Adele-Welt», wie die Arena genannt wurde, bot einen 93 Meter langen Laufsteg, den mit 220 mal 30 Metern grössten Bildschirm der Welt, einen Bauernmarkt mit gemütlichem Pub und ein Riesenrad. Der Organisator Marek Lieberberg, CEO von Live Nation GSA, sagt: «Ich glaube, dass hier in unserer schnelllebigen Zeit etwas Historisches geschaffen wurde.»

Adele verdiente mit ihrem Konzertmarathon rund 50 Millionen Dollar, während München mit 2,1 Millionen Übernachtungen einen Rekord bei Gästeübernachtungen verzeichnete. Der Geschäftsführer der Münchner Industrie- und Handelskammer, Manfred Gössl, sprach von einer «zusätzlichen lokalen Wertschöpfung von mehreren hundert Millionen Euro». Die meisten Besucher blieben für das Konzert zwei oder drei Nächte. Profitiert haben neben den Hotels insbesondere auch die Gastronomie, der Einzelhandel und Souvenirstände sowie Bus- und Taxigewerbe. Angela Inselkammer, Präsidentin des Bayerischen Hotel- und Gaststättenverbandes, sprach von einem «Sommermärchen».

1390 Franken für ein Ausziehsofa in Zürich

Auch Zürich profitierte dieses Jahr vom aufkommenden Gig-Tourismus und von Taylor Swift, die im Juli das Stadion Letzigrund für zwei Konzerte in «Taylor Town» verwandelte. Ihre Fans, die Swifties, füllten die Hotels der Stadt – zu teilweise exorbitanten Preisen. Das Hotel Olympia etwa bot eine Junior-Suite für über 3090 Franken pro Nacht an, Airbnb ein Zimmer mit Ausziehsofa in einer Zweizimmer-Dachwohnung in Zürich Enge für 1390 Franken.

Den Zürcher Tourismusdirektor Thomas Wüthrich erstaunt nicht, dass viele Gäste aus den USA für die Konzerte angereist sind. Er spricht heute von einer «guten Auslastung bei Gästen aus den USA», bei welchen die Destination Zürich hoch im Kurs ist. Seit mehreren Jahren ist Nordamerika der zweitwichtigste Markt in der Region Zürich, nach Gästen aus der Schweiz.

Flugzeugladungen voller Swifties oder «Daydreamers», wie sich Adele-Fans nennen, überqueren den Atlantik aus einem einfachen Grund: wegen des lieben Geldes. In den USA kosten Tickets für Konzerte von Taylor Swift auf Online-Plattformen bis zu 8000 Dollar, in Europa 400 Franken. Dieser Preisunterschied lohnt sich für viele Fans, selbst wenn sie im Ausland Übernachtungskosten in olympischer Höhe und Ausgaben für mehrere Ferientage einberechnen müssen.

Laut einer Umfrage der Online-Reiseplattform Skyscanner sind 44 Prozent der amerikanischen Reisenden bereit, für ein Konzert ihres Lieblingskünstlers einen Kurzstreckenflug zu buchen, 18 Prozent sogar einen Langstreckenflug. Bei den 25- bis 34-Jährigen steigt diese Bereitschaft auf 50 Prozent. Fragen bezüglich der Umwelt scheinen Gig-Tripper kaum zu belasten.

Technologische Sprünge führen zu neuen Reiseformen

Geld ist der Treiber im zeitgenössischen Konzerttourismus, doch wie so häufig bei der Entstehung neuer Reiseformen wird dieser Trend massgeblich durch neue Technologien gefördert. Vor 2000 Jahren ermöglichten Kamele und später Pferde Handelsreisen entlang der Seidenstrasse. Leistungsfähigere Schiffe brachten Pilgerfahrten und Expeditionen wie die von Marco Polo und schliesslich die Entdeckung der Neuen Welt voran. Die Erfindung der Dampfmaschine und die Eisenbahn beschleunigten das Reisen, machten Ferienreisen erstmals für eine breitere Bevölkerungsschicht zugänglich. Und erst der moderne Flugzeugbau nach dem Zweiten Weltkrieg schuf die Voraussetzung für Pauschalreisen und die heutige, beispiellose globale Mobilität.

Im 19. Jahrhundert war es die Eisenbahn, heute ist es das Smartphone, das unsere Art zu verreisen stark verändert hat. Dienste wie Spotify und Apple Music ermöglichen es Fans, neue Künstler und kommende Konzerte leichter zu entdecken. «Bezeichnenderweise sind die meisten Gig-Tripper digitalaffine Millennials und Angehörige der Generation Z», sagt Professor Jürgen Schmude. Diese Gruppen nutzen ihre Geräte nicht nur zur Buchung von Tickets, Flügen und Unterkünften, sondern auch, um sich über soziale Netzwerke mit Gleichgesinnten zu vernetzen und ihre Erlebnisse zu teilen. Plattformen wie Instagram und Tiktok spielen eine entscheidende Rolle, indem sie die Sichtbarkeit von Konzerten erhöhen und Fans dazu motivieren, 10 000 Kilometer zu fliegen, um von Südafrika nach Südschweden an einen Event von Swift zu reisen.

Im digitalen Raum verlieren Entfernungen an Bedeutung

Beliebte Gig-Trip-Destinationen sind nicht nur klassische Metropolen wie Paris oder London, wo für einen Big Mac 4 Dollar 23 bezahlt werden müssen, sondern auch aufstrebende Städte wie Lissabon oder Warschau, wo die Kosten niedriger sind, der Big Mac für 2 Dollar 74 zu haben ist.

Die digitale Welt entgrenzt Raum und Zeit, geografische Entfernungen verlieren an Bedeutung. Ein Ticket in einer weniger bekannten Stadt wie Cardiff, Lyon, Gelsenkirchen, die von Swift beehrt wurden, kann in den sozialen Netzwerken ebenso viel Aufmerksamkeit erhalten wie eine Metropole, in der das Prestige die Nachfrage beeinflusst.

Reiseportale in den USA haben den Gig-Tripping-Trend erkannt und raten, bereits fünf Tage vor dem Konzert anzureisen. Das hat mehrere Vorteile: Man fühlt sich wohler und vermeidet Jetlag am Veranstaltungstag. Zudem sind die Flugtickets in dieser Zeit oft günstiger, was die kurz vor dem Event massiv ansteigenden Hotelkosten ausgleicht.

Die Veranstaltungsorte von Taylor-Swift-Konzerten bemühen sich, die Touristen länger zu halten. Zürich, die kleinste der 152 Konzertstätten, in denen Swift auftrat, versuchte dies laut dem Direktor von Zürich Tourismus, Thomas Wüthrich, durch gezielte Ansprache in den sozialen Netzwerken. Angepriesen wurden die Altstadt, der See, das Seebecken und der Üetliberg. Zürich, eine naturnahe Stadt. Den Status einer Mega-Event-Stadt wie München während der Adele-Konzerte strebt Zürich nicht an. Lieber setzt Zürichs Vermarkter auf Klasse statt Masse. Thomas Wüthrich: «Zürich ist eine Premium-Destination. Deshalb setzen wir auf die hohe Lebensqualität der Stadt und die intakte Natur.»

Metropolen mit Flug-Hubs profitieren zukünftig noch stärker

Umfragen von Tourismus Zürich zeigen, dass durchschnittlich jede zweite Person, die mindestens zwei Nächte in der Limmatstadt logiert, mindestens einen Berg besucht. Die Erfahrungen mit der Fussball-Euro 2008, der Street Parade und der Rad-WM vor ein paar Wochen zeigen zudem: «Grossanlässe sind in Zürich nur sinnvoll, wenn sie auch von der Bevölkerung mitgetragen werden», sagt Thomas Wüthrich.

Andere Städte streben danach, von der Anziehungskraft Taylor Swifts zu profitieren. Singapur etwa hat mit der Sängerin einen Exklusivvertrag über sechs Konzerte abgeschlossen und ist deshalb die einzige Destination in Südostasien, in der die 34-jährige Amerikanerin im Rahmen ihrer Welttournee gastierte.

Der Gig-Tourismus im gigantischen Stil hat gerade erst begonnen. Billie Eilish, Dua Lipa, Iron Maiden, Green Day, Bryan Adams, Oasis und Ed Sheeran touren voraussichtlich im kommenden Jahr. Coldplay, eine der erfolgreichsten Bands des 21. Jahrhunderts, startete ihre Weltreise bereits 2024/25. Die vier Briten treten nur in wenigen Städten auf, fast alle sind wichtige Luftfahrt-Drehkreuze. In Abu Dhabi, der Hauptstadt der Vereinigten Arabischen Emirate, zwischen dem guten, alten Europa und dem Wachstumsmarkt Indien, spielen sie achtmal. Alle Konzerte sind ausgebucht.

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