In Glarus streitet man über Badis, Beizen und Budgetlöcher. Die Debatte zeigt, was passiert, wenn sich eine Gemeinde entscheiden muss – zwischen tiefen Steuern und einer lebendigen Gemeinschaft.
Im Städtchen Glarus liegt alles nah beieinander. Nur wenige Gehminuten vom Bahnhof entfernt liegt die Badi Ygruben, eingebettet zwischen steilen Hängen, seit über 100 Jahren ein Stück Glarner Geschichte. Selbst während des Zweiten Weltkriegs blieb sie geöffnet. An warmen Sommertagen erfuhr man in der Glarner Badi mehr über lokale Politik als auf jeder Gemeindeversammlung. Doch diese Saison sollen ihre Türen geschlossen bleiben. Kein Kinderlachen, kein Hotdog vom Kiosk, kein Sprung ins Bassin. Nur ein paar Velofahrer ziehen vorbei. Eine Schande sei es, dass das Freibad dieses Jahr geschlossen bleibe.
Die Gemeinde Glarus muss sparen – vier Millionen Franken fehlen dieses Jahr im Haushalt. Gestrichen werden sollen unter anderem Freizeitangebote oder kulturelle Treffpunkte. Das Schwimmbad bleibt zu, ein Skilift soll geschlossen werden, die Öffnungszeiten der Eisbahn werden angepasst. Dazu sollen Restaurants, die im Besitz der Gemeinde sind, veräussert werden. Der Sparkurs sorgt für Unmut in der Bevölkerung. Es bilden sich Komitees, im Städtchen wird diskutiert und gemunkelt. Und in Leserbriefen sprechen Einwohner von einem «Bankrott der Gemeindepolitik» oder einem «Angriff auf das Glarner Selbstverständnis».
Auch der «Blick» berichtete, schrieb vom «Mega-Sparhammer» in Glarus. Und das Telefon von Gemeindepräsident Peter Aebli steht seit der Bekanntgabe der Massnahmen kaum mehr still.
Was in Glarus passiert, mag lokal erscheinen und ist doch grundlegend. Die Schliessung einer Badi wird zum Symbol einer grösseren Auseinandersetzung: über Steuern, über soziale Infrastruktur, über das Schweizer Versprechen, dass alle mitreden dürfen. In Glarus zeigt sich, wie nah die direkte Demokratie am Alltag ist. Und wie fragil sie werden kann, wenn die Kassen leer sind.
Zwischen stolpernden Gasthöfen und geschlossenen Freibädern
Eine der prominentesten Stimmen gegen die Badi-Schliessung ist der gebürtige Glarner Andreas Schlittler. Als Reaktion auf die Sparmassnahmen der Gemeinde gründete er den Förderverein «Pro Badi Glarus», mobilisierte die Bevölkerung, sammelte 2300 Unterschriften gegen die Schliessung. Für Schlittler und die 180 Vereinsmitglieder geht es um mehr als das Freibad: Es geht um einen sozialen Treffpunkt, um ein Stück Glarner Identität.
Schlittler zeigt sich überrascht darüber, wie selbstverständlich die Gemeinde die Schliessung beschlossen habe. «Auch in den schwierigen Kriegsjahren, als das Geld knapp war, sah man die Badi als wichtigen Ort an. Dieses Bewusstsein darf nicht verlorengehen», sagt Schlittler.
Die grösste Fusion der Schweiz und was davon bleibt
Die Krise in Glarus hat ihre Ursprünge in einer politischen Grossübung, die schweizweit für Aufmerksamkeit sorgte. Im Mai 2006 stimmten die Glarnerinnen und Glarner an der Landsgemeinde für eine umfangreiche Strukturreform: 25 Gemeinden sollten zu drei Gemeinden fusionieren. Der Entscheid der Glarner Stimmbevölkerung fiel überraschend deutlich aus. Die neue Struktur trat 2011 in Kraft – sie ist bis heute die grösste Gemeindefusion der Schweiz.
Schul-, Fürsorge- und Bürgergemeinden wurden zusammengelegt, das Sozial- und Vormundschaftswesen kantonalisiert, bestehende Strukturen neu organisiert. Über 18 Millionen Franken kostete die Reform, 12 Millionen davon flossen in den sogenannten Vermögensausgleich: ein finanzieller Mechanismus, der Vermögen zwischen unterschiedlich wohlhabenden Gemeinden angleichen sollte. Die Verwaltung professionalisierte sich, viele Behördenposten wurden abgeschafft, Prozesse modernisiert. Die neu entstandenen Gemeinden Glarus, Glarus Nord und Glarus Süd galten fortan als effizienter, innovativer – und günstiger.
Doch das vermeintliche Erfolgsmodell hatte seinen Preis. Immer öfter wurde der Vorwurf laut, die politische Nähe zum Bürger habe unter der neuen Struktur gelitten, Gemeindeversammlungen sollen weniger besucht worden sein. Vor allem aber hatte man sich verrechnet: Peter Aebli, der amtierende Gemeindepräsident von Glarus, sagt, die kleineren Gemeinden hätten vor der Fusion Investitionen aufgeschoben – in der Hoffnung, dass die neue Einheit diese übernehme. So entstand ein Investitionsstau, der sich mit den Jahren bemerkbar machte.
Gleichzeitig blieben die Steuern in Glarus tief – im Gegensatz zu den hohen Ansprüchen an Infrastruktur und Verwaltung. Glarus erhebt seit Jahren einen deutlich tieferen Steuersatz als die Nachbargemeinden – ganze sieben Prozentpunkte weniger. Dass dies zu den finanziellen Schwierigkeiten beiträgt, wird in der gegenwärtigen Debatte von allen Seiten anerkannt. Und so beziffert die Gemeinde Glarus heute ein Defizit von vier Millionen Franken.
Stammtisch steht vor Veränderungen
Folgt man den steilen, schmalen Gassen vom Bahnhof Glarus aus Richtung Norden, erreicht man bald das Restaurant Schützenhaus. Es ist eines der sechs Gastrobetriebe, die die Gemeinde Glarus verkaufen will. Drinnen riecht es nach Rösti, es sind Röstiwochen. Als Mittagsmenü gibt es Tellerraclette mit Gschwellti und Essiggemüse.
Markus Kunde, einer der beiden Gastgeber im «Schützenhaus», kennt die meisten Gäste persönlich, weiss ihre Namen und Geschichten. Über die Sparpläne der Gemeinde ist er enttäuscht. Kunde vermutet, dass die Massnahmen eher «ein taktischer Schuss vor den Bug» seien, um die Bevölkerung dazu zu bewegen, einer Steuererhöhung endlich zuzustimmen.
Sollte das «Schützenhaus» privatisiert werden, würde Kunde als Wirt aufhören. Am meisten ärgere ihn die Kommunikation des Gemeinderats. Die Sparmassnahmen seien für alle aus heiterem Himmel gekommen. «Es war niemandem klar, dass es wirklich fünf vor zwölf ist», sagt Kunde.
Kritik aus den eigenen Reihen
Die Diskussion um die Finanzpolitik der Gemeinde findet in Beizengesprächen statt und oft auch hinter vorgehaltener Hand. In den vergangenen Jahren sei zu kurzfristig geplant worden, heisst es, etwa mit Blick auf jährliche Budgets und eine möglichst tiefe Steuerlast. Ein langfristiger Finanzplan über mehrere Jahre habe dagegen gefehlt. Auch bei der Umsetzung von Sparmassnahmen sei man zögerlich vorgegangen: Einzelne Verwaltungsbereiche hätten lange versucht, Kürzungen im eigenen Zuständigkeitsbereich zu vermeiden.
Worin sich viele einig sind in Glarus: Man dürfe die gegenwärtigen Schwierigkeiten nicht allein dem früheren Gemeinderat zuschreiben. Die heutige Verwaltung habe es versäumt, strukturelle Probleme frühzeitig anzugehen. Als Beispiel wird das Schulhaus Buchholz genannt, dessen Sanierung über Jahre verschoben worden sei und zwischen 30 und 40 Millionen Franken gekostet habe. Auch die personelle Zusammensetzung der Verwaltung wird vielerorts kritisch gesehen: Es sei in der Vergangenheit eher in leitende Stellen investiert worden als in Sachbearbeitung.
Grossinvestitionen wie das Schulhaus Buchholz wurden zu lange aufgeschoben. Nun sieht sich die Gemeinde zu unbeliebten Sparmassnahmen gezwungen.
Prioritäten statt Popularität
Gemeindepräsident Peter Aebli räumt ein, dass die Sparmassnahmen starke Emotionen auslösen, sieht jedoch keine Alternativen. Bereits seit zwei Jahren sei bekannt, dass Glarus unter einem strukturellen Defizit leide. Und da die Bevölkerung keine höheren Steuern wolle, müsse man halt sparen.
Die Debatte um die Steuererhöhung gärt seit langem und hatte im Herbst 2024 ihren politischen Höhepunkt. Damals beantragte der Gemeinderat eine Erhöhung des Steuerfusses um drei Prozentpunkte. Die Gemeindeversammlung lehnte den Antrag knapp ab. Linke Parteien forderten eine stärkere Erhöhung, FDP und SVP stellten sich gegen jede Anpassung. Sie argumentierten, es fehle an glaubwürdigen Sparmassnahmen, und verwiesen auf Versäumnisse des Gemeinderats im Vorfeld.
Tatsächlich hatte sich der Gemeinderat noch im Jahr zuvor gegen eine Steuererhöhung ausgesprochen, mit dem Versprechen, zuerst strukturell sparen zu wollen.
Als die Steuererhöhung an der Gemeindeversammlung im Herbst abgelehnt wurde, blieb dem Gemeinderat nur noch die Option, grössere Einschnitte vorzunehmen. «Die Badi ist charmant und emotional wichtig», sagt Aebli im Gespräch, «doch zwei Freibäder im Abstand von anderthalb Kilometern sind heute schlicht Luxus.»
Die Sparmassnahmen seien bereits im vergangenen November intensiv diskutiert worden, sagt Präsident Aebli – etwa als an der Budgetversammlung sogar beantragt wurde, die Löhne von Lehrpersonen zu kürzen. Der Gemeinderat habe diese Anträge entschieden bekämpft. «Aber die, die nicht von Kürzungen betroffen waren, kamen oft gar nicht an die Gemeindeversammlung», sagt Aebli. «Wenn wir gesagt hätten: Erhöhen wir nicht die Steuern, schliessen wir die Badi, dann wären sie schon alle gekommen. Aber das ist nicht seriöse Politik.»
In der Diskussion wird häufig auf das zweite Freibad im Gemeindegebiet verwiesen: die Badi Goldingen im Nachbarsdorf Netstal. Die Glarner nennen sie die «Teenager-Badi», vor allem auf Jugendliche ausgelegt, die hinter den Büschen schmusten oder kifften. Sie sei nicht zu vergleichen mit der Badi Glarus, wo viele Mütter ihren Kleinkindern das Schwimmen beibrächten, wo sich die Rentner der Gemeinde zum Kaffee träfen. Mit dem Auto in die Badi Netstal fahren zu müssen, kommt für viele Glarner nicht infrage.
Und dann sei da noch ein über Jahre gewachsenes Selbstverständnis, sagt Stadtpräsident Aebli: jenes, dass Glarus eine wohlhabende Gemeinde sei. Ein Bild, das heute nicht mehr mit der Realität übereinstimme. In früheren Jahrzehnten habe Glarus von günstigen Steuerstrukturen profitiert. So hatten viele Unternehmen ihren Sitz in Glarus und zahlten hier Steuern. Nach mehreren Reformen sind diese Vorteile jedoch weitgehend verschwunden und mit ihnen viele Unternehmen. Gleichzeitig bleibe die Gemeinde flächenmässig riesig und damit betreuungsintensiv: mit Alpen, Wäldern, Strassen oder anderen Infrastrukturen, die unterhalten werden müssten.
Die Sparmassnahmen betreffen nicht nur Zahlen – sondern auch das Selbstbild von Glarus.
Peter Aebli weist den Vorwurf zurück, mit der Schliessung Druck auf die Bevölkerung für eine Steuererhöhung ausüben zu wollen. Der Gemeinderat müsse Verantwortung übernehmen und Prioritäten setzen, auch wenn diese unpopulär seien. Gleichzeitig räumt er Kommunikationsfehler ein: «Wir haben die Dramatik unserer finanziellen Lage möglicherweise nicht klar genug vermittelt.»
Was bleibt, wenn gespart wird
An der nächsten Gemeindeversammlung wird Glarus erneut darüber diskutieren, ob die Steuern erhöht werden sollen. Und wo gespart werden muss. Und damit auch darüber, ob Orte der Begegnung genauso wichtig sind wie der ausgeglichene Finanzabschluss.
Anfang April kam dann unverhofft eine schöne Nachricht. Die Stiftung «Glarner Gemeinnützige» erklärte sich dazu bereit, eine Defizitgarantie von 150 000 Franken zu gewähren. Und so kann die Badi Glarus wahrscheinlich geöffnet werden. Für Andreas Schlittler und seinen Verein ist diese Nachricht ein Erfolg: «Ein klares und kraftvolles Bekenntnis zum Erhalt dieser wichtigen Institution», schreibt der Verein im Communiqué.
Die Defizitgarantie sei allerdings nur eine kurzfristige Lösung. Der Verein werde die gewonnene Zeit nutzen, um gemeinsam mit der Gemeinde ein langfristiges Konzept für die Badi zu erarbeiten. Klar sei jedoch, dass die Bevölkerung in Zukunft mitentscheiden müsse, wie viel ihr die Badi wert sei – finanziell wie gesellschaftlich.