Donnerstag, Oktober 10

Der Wissenschafts- und Medizinhistoriker Dietrich von Engelhardt dokumentiert in einem Sammelband Goethes Wirkungsgeschichte unter Naturwissenschaftern des 19. Jahrhunderts.

Kein Poet der Welt hat sich je so weit aus dem literarischen Feld in das der Naturwissenschaft hinübergewagt wie Goethe. Seine «Metamorphose der Pflanzen» und seine «Farbenlehre» haben weit über die deutschen Grenzen hinaus immer wieder lebhafte, wenngleich im späteren 19. Jahrhundert mehr und mehr negative Resonanz gefunden.

Der epochemachende Physiologe Emil Du Bois-Reymond hat in seiner Rektoratsrede von 1882, der er – an Goethes grossen Shakespeare-Essay anknüpfend – den Titel «Goethe und kein Ende» gab, der Naturforschung des Dichters eine unheilvolle und den wissenschaftlichen Fortschritt hemmende Rolle zugeschrieben. Er tat es ausdrücklich im Namen einer Naturwissenschaft, die sich nun als die neue, die eigentliche Kultur der Zukunft verstand.

Du Bois-Reymonds Fach: Die Sinnesphysiologie, die sich lange immer wieder auf Goethe berufen hatte, sollte von ihren naturphilosophischen und vitalistischen Ursprüngen gänzlich befreit werden, eine reine «Physik des Organischen» sein und so Physik und Chemie gleichgestellt werden. «Keine anderen Kräfte als die physisch-chemischen» wollten du Bois-Reymond und seine Weggefährten im Organismus anerkennen. «Es gibt kein anderes Erkennen als das mechanische, keine andere wissenschaftliche Denkungsform als die mathematisch-physikalische.» So das Axiom der neuen Physiologie.

Diese ist wiederum nicht frei von einem Fortschrittsspiessertum, wenn du Bois-Reymond Goethe gewissermassen nachruft: Dichter, bleib bei deinem Leisten – und einen «Alternativ-Faust» vorschlägt: Faust hätte, statt «zu den Müttern in die vierte Dimension zu steigen, besser getan, Gretchen zu heiraten, sein Kind ehrlich zu machen, und Elektrisiermaschine und Luftpumpe zu erfinden».

Bewunderung und Ablehnung in einem

Jahrzehnte zuvor klang das bei du Bois-Reymond wie seinem Bundesgenossen Hermann von Helmholtz noch ganz anders. In seiner Gedächtnisrede auf Helmholtz’ und du Bois-Reymonds epochemachenden Lehrer (und in seiner Jugend dezidierten Goetheaner) Johannes von Müller preist im Jahre 1859 ausgerechnet jener du Bois-Reymond Goethe als Retter des durch spiritualistische Spekulation bedrohten «Prinzips der Beobachtung für die Naturwissenschaften».

Es bleibt erstaunlich, wie stark sich im 19. Jahrhundert führende Naturwissenschafter weit über die deutschen Grenzen hinaus auf Goethe beriefen oder sich an ihm rieben. Es ist bezeichnend, dass gar die bis heute prominenteste englischsprachige Fachzeitschrift «Nature» 1869 ihre erste Ausgabe mit dem Goethe zugeschriebenen Fragment «Die Natur» eröffnete. In seinem Nachwort schreibt der Übersetzer des Fragments, der grosse Biologe Thomas Huxley, es werde noch dann seine Bedeutung nicht verloren haben, wenn alle in «Nature» abgedruckten Spezialartikel vergessen seien.

Damit schien es seit du Bois-Reymonds Rektoratsrede vorbei, das Urteil über Goethes Naturforschung gefällt. Es war kaum damit zu rechnen, dass mit dem Ende des Absolutismus mechanischen Erkennens in der Naturwissenschaft des 20. Jahrhunderts in dieser Hinsicht ein Meinungsumschwung einsetzen würde.

Der Wissenschafts- und Medizinhistoriker Dietrich von Engelhardt hat nun eine monumentale Dokumentation der Resonanzgeschichte des Naturforschers Goethe aufseiten der Naturwissenschaft und Medizin im 19. Jahrhundert vorgelegt. Dass diese Wirkungsgeschichte von der Goethe-Forschung lange ignoriert wurde, ist ein Musterbeispiel für die Trennung der «zwei Kulturen», wie sie C. P. Snow diagnostiziert hatte, das zunehmende Auseinanderdriften von Geistes- und Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert, die für Goethe noch eine Einheit bildeten.

Alexander von Humboldt hat darin das Zukunftsweisende von Goethes Naturforschung gesehen: «Das Bündnis zu erneuern, welches im Jugendalter der Menschheit Philosophie, Physik und Dichtung mit einem Band umschlang.» Dietrich von Engelhardts Dokumentation versammelt 48 vollständige Texte aus deutschen und internationalen Organen, viele an entlegenen Orten erschienen und manche bisher so gut wie unbekannt. Das Vergnügen an dieser Anthologie von Wissenschaftstexten wird durch eine profunde Einführung des Herausgebers, Kurzbiografien der Autoren und Résumés der abgedruckten Texte sowie einen ergiebigen Anhang erhöht.

Lange Nachwirkung im 20. Jahrhundert

Mit dem Ende der klassischen Physik ist der Streit um Recht oder Unrecht der Goetheschen Naturforschung weithin verstummt. Dass der physikalische Teil seiner Farbenlehre nicht zu retten ist, wird freilich von niemandem mehr bestritten. Ernst Cassirer, philosophisch, naturwissenschaftlich und als Goethe-Experte gleichermassen kompetent, sah im Verhältnis Goethes zur mathematischen Naturwissenschaft einen «tragischen Einschlag in dessen Leben und Aufbau der theoretischen Weltsicht».

Gleichwohl bleibt es erstaunlich, wie stark die bedeutenden Repräsentanten der modernen Physik – wie Niels Bohr und Werner Heisenberg – sich den Prämissen des Goetheschen Denkens verpflichtet fühlten. Vor allem wird immer wieder der Appell laut, dass die «zwei Kulturen» zu wechselseitigem Gewinn wieder zusammenkommen müssten. Dafür mag Goethe vorbildlich sein.

Niemand hat diesen Einheitswunsch deutlicher artikuliert als der Dichtermediziner Gottfried Benn in seinem Essay «Goethe und die Naturwissenschaften» aus dem Goethe-Jahr 1932. Unbeirrt schlägt Benn sich in seiner Opposition gegen die mechanizistischen Erklärungsmodelle der modernen Naturwissenschaft, gegen den Zweckrationalismus und den Machbarkeitswahn der Zeit, ja gegen die utilitaristische Vereinnahmung der Welt überhaupt auf die Seite Goethes. Dessen «Kampf gegen Newton war der Kampf gegen den Physikalismus, die instrumentell und formelhaft erzeugte Welt».

In Bezug auf Goethes Farbenlehre bemerkt Benn: «Wenn das Auge nämlich spricht, spricht es nicht von Brechungsindex, Newtonschen Spalten, Fraunhoferschen Linien, virtuellen Bildern, sondern es spricht von seiner Welt, dem Licht [. . .]. Wenn das Auge spricht und sich bewegt, so bewegt es sich innerhalb einer Physik ohne Mathematik, einer Physik von: Physis, Natur, Natur des Menschen.» Niemand hat es nach der Goethezeit gewagt, sich so ungeniert mit Goethes Widerspruch gegen die Newtonsche Physik zu solidarisieren wie Gottfried Benn.

Goethes Opposition gegen die Dominanz der exakten Naturwissenschaften ist in den letzten Jahrzehnten auch immer wieder auf Zustimmung bei Wissenschaftsskeptikern und ökologisch orientierten Zivilisationskritikern gestossen. Sie sehen in seiner Naturforschung, als einer kommunikativen Begegnung mit der Natur, die Alternative zu einer technisch-instrumentalistischen Wissenschaft.

Das aber steht nicht mehr (oder nur angedeutet in der Einleitung) in Engelhardts eindrucksvoller Dokumentation, die sich eben auf das 19. Jahrhundert beschränkt. Nach deren Lektüre bleibt nur ein – dringender – Wunsch offen: derjenige nach einem Nachfolgeband, welcher Goethe als Naturforscher im Urteil der Naturwissenschaft und Medizin des 20. Jahrhunderts präsentiert. Dieser Band – wer anders könnte und sollte ihn herausgeben als Dietrich von Engelhardt – dürfte noch fesselnder sein als der vorliegende, da er mitten ins Herz unserer eigenen Zeit, ihrer Sorgen und Hoffnungen träfe.

Dietrich von Engelhardt: Goethe als Naturforscher im Urteil der Naturwissenschaft und Medizin des 19. Jahrhunderts. Themen, Texte, Titel. Verlag J. B. Metzler, Heidelberg 2024. 673 S., Fr. 102.90.

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