Neue Zahlen zeigen, wer die grossen Gewinner der Individualbesteuerung sind, über die der Nationalrat nächste Woche entscheidet: die verheirateten Rentner. Sie werden politisch von allen Seiten umgarnt. Für Spitzenverdiener sieht es weniger gut aus.
Wer hat die mächtigste Lobby im ganzen Land? Die Banken, die Bauern, die Krankenkassen? Alles falsch. Mit einer Gruppe kann es niemand aufnehmen: mit den Rentnerinnen und Rentnern, ganz besonders mit den Verheirateten unter ihnen. Die Reformen zu ihren Gunsten, an denen das Parlament zurzeit arbeitet, stellen alles in den Schatten.
Bereits beschlossen ist die Vorlage zur Abschaffung des Eigenmietwerts. Diesen muss versteuern, wer im Eigenheim lebt. Übersteht die Reform im Herbst die Volksabstimmung, dürfen sich vor allem Rentner freuen, weil sie ihre Hypotheken oft weitgehend abbezahlt haben.
Um noch mehr Geld geht es beim zweiten Beispiel: der AHV-Initiative der Mitte-Partei. Wird sie angenommen, erhalten pensionierte Ehepaare Jahr für Jahr 4 Milliarden Franken mehr Renten – finanziert wohl über eine weitere Erhöhung der Mehrwertsteuer oder zusätzliche Lohnabzüge von den Erwerbstätigen. Weil die Initiative als chancenreich gilt, laufen im Parlament bereits Diskussionen über einen Gegenvorschlag oder eine vorauseilende Finanzierung.
Rentner leiden unter «Heiratsstrafe»
Weniger auffällig ist der Vorteil der Rentner beim dritten Beispiel: bei der Individualbesteuerung, über die der Nationalrat nächste Woche verhandelt. Es wäre die grösste Steuerreform seit langem, sie brächte einen grundlegenden Systemwechsel: Künftig soll jede und jeder für sich alleine Steuern bezahlen. Verheiratete – auch solche mit Kindern – würden nicht mehr als Wirtschaftsgemeinschaft gelten und müssten zwei separate Steuererklärungen ausfüllen.
Dass Pensionierte zu den grossen Nutzniessern gehören, mag auf den ersten Blick erstaunen. Doch die Zahlen, welche die Eidgenössische Steuerverwaltung auf Anfrage veröffentlicht hat, zeigen ein klares Bild. Es handelt sich dabei um Schätzungen zur neusten Variante der Reform, welche die Wirtschaftskommission des Nationalrats Anfang April als Kompromiss präsentiert hat. Die Zahlen illustrieren unter anderem die Auswirkungen auf verschiedene Haushalttypen.
Die auffälligste Gruppe sind die verheirateten Rentner. Sie machen zwar nur 14 Prozent aller Steuerpflichtigen aus, auf sie entfielen aber 35 Prozent der gesamten steuerlichen Entlastungen, welche die Reform bewirken soll.
Der Grund ist simpel: Heute sind zahlreiche pensionierte Ehepaare von der «Heiratsstrafe» betroffen, die es bei der Bundessteuer teilweise immer noch gibt und die mit der Individualbesteuerung beseitigt werden könnte. Vor allem Ehepaare, bei denen beide Partner ähnlich hohe Einkommen versteuern, sind heute gegenüber unverheirateten Paaren schlechtergestellt.
Weil sich die Einkommen vieler Paare nach der Pensionierung annähern, sind Rentner in besonderem Mass von der «Heiratsstrafe» betroffen. Allerdings ist die Diskriminierung insofern zu relativieren, als die grosse Mehrheit aller pensionierten Paare verheiratet ist (knapp 90 Prozent).
Ebenfalls betroffen sind jüngere Doppelverdienerpaare. Viele müssten mit der Individualbesteuerung deutlich weniger Steuern zahlen als heute, vor allem wenn sie keine Kinder haben. Gesamthaft, für alle Haushalte gerechnet, führt die Reform in der neuen Variante zu einer Entlastung von rund 600 Millionen Franken im Jahr. 115 Millionen entfallen auf kinderlose Doppelverdiener, bei den verheirateten Rentnern ist es ungefähr das Doppelte.
Allerdings ist die Vorlage so konstruiert, dass sie nicht einfach nur die «Heiratsstrafe» korrigiert. In diesem Fall wäre sie politisch angreifbar, weil die Entlastung stark auf gutsituierte Haushalte fokussiert wäre. Stattdessen soll das System so justiert werden, dass auch Personen mit weniger hohen Löhnen profitieren.
Doch das Konstrukt ist politisch wacklig. Hinter der Reform stehen SP, FDP, Grüne und GLP. SVP und Mitte sind dagegen. Die Befürworter haben ein zweifaches Problem: Zum einen ist ihre Mehrheit im Parlament äusserst klein, zum anderen ist ihre inhaltliche Schnittmenge noch kleiner. Zwar sind sie sich beim Prinzip der Individualisierung einig, nicht aber darin, wie hoch die Steuerausfälle werden dürfen. Angefangen hat es bei rund einer Milliarde, nun sollen es noch etwa 600 Millionen Franken sein. Klar ist, dass die Reform in jedem Fall Verlierer hervorbringen wird, die höhere Steuern bezahlen müssen. Sie sind umso zahlreicher, je geringer die Ausfälle sind.
Ein Problem gelöst, ein neues geschaffen
Gesamthaft – über alle Lohnklassen und Haushalttypen hinweg – kann die Hälfte aller Steuerpflichtigen dank der Reform mit einer Entlastung rechnen. Die Zahl der Verlierer ist mit 14 Prozent wesentlich kleiner. Für den Rest bleibt alles gleich, zumal viele Haushalte heute und auch in Zukunft ohnehin keine Bundessteuern bezahlen müssen.
Auffällig ist jedoch, dass bei den Spitzenverdienern das Gegenteil der Fall ist. Bei den 10 Prozent mit den höchsten Einkommen können nur drei von zehn Haushalten mit einer Entlastung rechnen – die anderen sieben müssen sich auf eine Steuererhöhung einstellen.
Treffen dürfte es gemäss der Steuerverwaltung vor allem drei Gruppen: Alleinstehende vor und nach der Pensionierung sowie Familien, in denen ein Elternteil – zumeist der Vater – mehr oder weniger das gesamte Einkommen erzielt. Hier zeigt sich der Preis, der für die Reform bezahlt werden muss: Dank ihr gäbe es zwar keine «Heiratsstrafe» mehr, die Unterschiede nach Zivilstand würden wegfallen.
Im Gegenzug entstünde aber eine neue Ungleichbehandlung: Paarhaushalte mit gleichen Gesamteinkommen würden (sehr) unterschiedlich besteuert, abhängig davon, wie die Einkommen auf die beiden Partner verteilt sind. Je gleichmässiger, desto tiefer die Steuern. Vierköpfige Familien mit steuerbaren Einkommen von etwa 120 000 Franken zahlen heute unabhängig von der Aufteilung rund 2700 bis 3100 Franken Bundessteuern. Neu müssten Doppelverdiener nur noch 1000, Alleinverdiener jedoch 5000 Franken bezahlen.
Der Ausgang der Debatten im Parlament ist offen. Nächste Woche wird sich im Nationalrat zeigen, ob die Allianz aus Linken und Liberalen hält.