Wie verbreitet Geschlechtskrankheiten wirklich sind, weiss niemand. Denn die Dunkelziffer ist hoch. Resistenzen gegen Antibiotika verschärfen jetzt die Lage.
Die Fallzahlen sexuell übertragbarer Infektionen steigen an – und das in ganz Europa. Das zeigt der neuste Report der EU-Gesundheitsbehörde ECDC mit Daten aus 27 EU-Ländern. Gonorrhö-Infektionen haben 2022 im Vergleich zum Vorjahr um 48 Prozent zugenommen, Syphilis um 34 Prozent und Chlamydien um 16 Prozent.
Ein langsamer Anstieg der Fallzahlen ist bereits seit zehn Jahren zu beobachten. Doch der neuste Ausschlag ist bemerkenswert hoch. Das ECDC stuft ihn als besorgniserregend ein und fordert europaweit höhere Aufmerksamkeit für das Thema und besseren Zugang zu Tests und Behandlungen.
Auch in der Schweiz gibt es einen deutlichen Anstieg der Fallzahlen bei Gonorrhö. Im Jahr 2022 wurden schweizweit 5112 Gonorrhö-Fälle gemeldet, 25 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Bei Syphilis haben sich die Fallzahlen hingegen stabilisiert.
Die Geschlechtskrankheiten sind besonders bei jungen Menschen zwischen 20 und 35 Jahren häufig. Während Gonorrhö und Syphilis vor allem Männer und insbesondere homosexuelle Männer treffen, sind bei Chlamydien heterosexuelle Frauen am häufigsten betroffen.
Die Dunkelziffer ist hoch
Doch ob der Anstieg der Fallzahlen einen Anstieg der tatsächlichen Infektionen bedeutet, ist nicht ganz klar. Denn bei allen drei Geschlechtskrankheiten ist die Dunkelziffer hoch.
Benjamin Hampel ist leitender Arzt am Checkpoint Zürich, dem grössten Schweizer Zentrum für sexuell übertragbare Krankheiten. 25 Prozent aller Fälle von Gonorrhö und Syphilis in der Schweiz werden hier diagnostiziert. Bei Gonorrhö liege die Rate an positiven Tests beim Checkpoint Zürich seit Jahren zwischen 8 und 10 Prozent, sagt er. Werden mehr Tests durchgeführt, findet man also auch mehr Fälle.
Denn die Geschlechtskrankheiten bleiben häufig ohne Symptome. Betroffene merken dann nicht, dass sie erkrankt sind. Trotzdem kann eine unbehandelte Infektion teilweise schwere Folgen haben. Unfruchtbarkeit, starke Entzündungen und bei Syphilis sogar schwere Nervenerkrankungen sind möglich. Auch wenn diese schweren Komplikationen selten sind: eine frühzeitige Diagnose und Behandlung ist zentral.
In Europa hat sich daher die sogenannte «Test and Treat»-Strategie etabliert. Die Idee ist simpel. Man versucht, möglichst viele Menschen zu testen (Test), auch wenn sie keine Symptome haben. So entdeckt man auch die asymptomatischen Erkrankungen und kann sie behandeln (Treat). Dadurch unterbricht man Infektionsketten, und die Bakterien können sich nicht mehr ungehindert in der Population ausbreiten.
«Das hat man jetzt zehn Jahre lang probiert, und das hat so mässig funktioniert», sagt Hampel. Denn ein Erfolg müsste sich mittlerweile in einem Sinken der Fallzahlen niederschlagen.
Kondome werden weniger beliebt
Ein anderer Grund für die Zunahme der Fälle könnte im veränderten Sexualverhalten der Menschen liegen. So mutmasst die EU-Gesundheitsbehörde ECDC, dass nach der Pandemie mit der Anzahl der sozialen Kontakte auch die Anzahl sexueller Partner deutlich zugenommen hat. Gleichzeitig nehme die Verwendung von Kondomen ab.
Dieser Effekt zeige sich auch in Studien in der Schweiz, sagt Hampel. Denn im Gegensatz zur HIV-Infektion, von der es bis jetzt keine vollständige Heilung gibt, sind Gonorrhö, Syphilis und Chlamydien im Regelfall einfach zu behandeln. Vor HIV kann man sich aber heutzutage auch durch eine Prophylaxe schützen. «Das Kondom kam in der Schwulen-Community erst mit HIV auf, daher ist es logisch, dass die Kondome jetzt wieder zurückgehen», sagt Hampel.
Doch man solle das Kondom als Faktor nicht überschätzen, sagt Hampel. Denn Gonorrhö, Syphilis und Chlamydien sind bakterielle Erkrankungen, die sich über Schmierinfektionen ausbreiten. Oralverkehr, gemeinsam benutztes Sexspielzeug und jeglicher Schleimhautkontakt kann zu einer Ansteckung führen. Bei Gonorrhö und Syphilis kann sogar Knutschen ausreichen, um die Bakterien zu übertragen. Ein Kondom schützt da nur bedingt.
Antibiotika-resistente Gonorrhö breitet sich aus
Gonorrhö, Syphilis und Chlamydien können schnell und einfach mit Antibiotika behandelt werden. Doch das könnte sich bald ändern. 2016 vermeldete die WHO die Entdeckung eines Stamms von Gonorrhö-Bakterien in Grossbritannien, der gegen die übliche Therapie mit dem Antibiotikum Ceftriaxon resistent ist.
Ein neuer Report aus China berichtet nun von einem beunruhigenden Anstieg von Infektionen mit antibiotikaresistenter Gonorrhö. Waren 2017 noch 2,9 Prozent der Gonorrhö-Infektionen gegen Ceftriaxon resistent, waren es 2022 schon 8,1 Prozent. Innerhalb von fünf Jahren hat sich die Rate beinahe verdreifacht. Auch gegenüber zahlreichen alternativen Antibiotika wurden Resistenzen nachgewiesen.
Hampel bereitet das Sorgen. Denn wie häufig solche Resistenzen in der Schweiz sind, weiss niemand. «Wir testen viel zu wenig», sagt er. Der Test auf Resistenzen müsse momentan von der Versicherung oder vom Patienten selbst bezahlt werden. Da die Kenntnis des Ergebnisses für die Patienten meist keine Konsequenzen habe, werde der Test selten durchgeführt.
Wer häufig wechselnde Sexualpartner habe, habe immer ein gewisses Risiko, an sexuell übertragbaren Infektionen zu erkranken, sagt Hampel. Davor schütze weder das Kondom noch regelmässiges Testen. Trotzdem möchte er jungen Menschen die Angst nehmen. «Junge Leute sollen Spass am Sex haben und nicht primär an sexuell übertragbare Krankheiten denken.»
Aus Hampels Sicht ist die optimale Strategie nicht, so viele Menschen wie möglich zu testen. «Wenn wir allen sagen, sie sollen testen, erreichen wir nicht die, die das höchste Risiko haben, sondern die, die am meisten Angst haben und eh vorsichtig sind», sagt er. Stattdessen sollten gezielt Risikogruppen getestet werden und für diese Menschen die Tests gut zugänglich und gratis sein.
Das Bundesamt für Gesundheit führt seit mehreren Jahren jeweils im Mai gezielte Testkampagnen durch. Auch in diesem Jahr können sich Männer und Transpersonen, die Sex mit Männern haben, im Mai zu vergünstigten Preisen auf Geschlechtskrankheiten testen lassen.