Der grosse französische Schriftsteller spricht über Weltpolitik, Religion und Donald Trump. Seine Aufgabe als Literat bestehe darin, jene Wahrheiten auszusprechen, die andere verdrängten.

Wir befinden uns in einem halbleeren und nicht besonders charmanten Eckcafé im 14. Arrondissement von Paris. Punkt 17 Uhr geht draussen eine gebeugte Gestalt langsam am Fenster vorbei, stösst die Tür auf, zieht die Kapuze herunter und blickt sich um. Es ist Michel Houellebecq, der vorgeschlagen hat, dass wir uns hier treffen. Der Kellner bringt den Wein und ein paar Erdnüsse, und wir stossen an.

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Herr Houellebecq, Sie schrieben uns, dass viele Ihrer Romane als lange Variante des Märchens «Des Kaisers neue Kleider» gelesen werden könnten. Was meinen Sie damit?

Als ich anfing, Romane zu schreiben, machte ich die Erfahrung, dass jeder vorgab, an etwas zu glauben. Ich hingegen glaube an nichts. Deshalb habe ich die Rolle desjenigen übernommen, der sagt: «Nein. Das, woran ihr glaubt, stimmt nicht.» Wie bei Hans Christian Andersens Märchen, wo ein Kind sagt, dass der König nackt sei. Auf allen Ebenen reden sich die Leute etwas ein, selbst im Berufsleben. Zum Beispiel tun Informatiker so, als ob sie für IT brennen. Dabei ist IT extrem langweilig! Die meisten langweilen sich. Als ich jung war, war es auch weit verbreitet, dass sich einige Frauen als Opfer sexueller Unterdrückung sahen, obwohl sie in Wirklichkeit Opfer davon waren, dass niemand sie begehrte. Ich hatte das Gefühl, dass ich die Rolle übernehmen musste, solche Überzeugungen zu zerstören, die die Leute haben, um das Leben für sich erträglich zu machen. Es besteht aber ein grosser Unterschied zu Andersens Märchen: Das Kind, das den nackten König enttarnt, weiss nicht, dass es mit seiner Ehrlichkeit eine Katastrophe auslöst. Ich schon.

Sie meinen, weil das Kind unschuldig ist?

Es ist unschuldig und sagt einfach die Wahrheit. Ich sage die Wahrheit, obschon ich weiss, dass dies zu einer Katastrophe führt. Es wird schlecht aufgenommen.

Sie tun es in vollem Bewusstsein der Konsequenzen?

Ich tue es, weil ich Lust dazu habe.

Der Wahrheit zuliebe?

Ja. In dem vollen Bewusstsein, dass mir das auch Probleme schaffen wird. Es war ein wesentlicher Antrieb für mein schriftstellerisches Werk, dass die Menschen um mich herum eine falsche Auffassung von den Dingen haben. Auf Französisch sagt man: «mettre les pieds dans le plat» – die Dinge unverblümt sagen. Und das tat ich dann in meinem ersten Roman.

In Andersens Märchen führt die Wahrheitsrede des Kindes dazu, dass das ganze Volk die Illusion erkennt, was eine Art Revolution auslöst. Hat es auch diesen Effekt, wenn Sie die Wahrheit sagen?

Also, ich habe ja noch keine Revolution ausgelöst . . . Aber ich habe doch Reaktionen bei Leuten hervorgerufen, die sagen: Ja, genau so sehe ich das auch. Diese Reaktionen bestärkten mich darin, dass es vielleicht doch nicht so abwegig war, was ich dachte.

Gilt das auch für Ihren Roman «Unterwerfung», der von einer muslimischen Machtübernahme und Islamisierung Frankreichs handelt? Der Roman erschien am 7. Januar 2015, am selben Tag, an dem bewaffnete Islamisten einen Terroranschlag auf die Redaktionsräume der Satirezeitschrift «Charlie Hebdo» verübten.

Das Buch hatte eher eine Wirkung wie eine langsam ausgelöste Handgranate. (Lacht.) Die Situation in Frankreich ist wohl mittlerweile wie am Anfang des Romans, also noch nicht so weit. Die ganze Entwicklung fing ja mit den dänischen Mohammed-Karikaturen an, die viele Muslime in Rage brachten. Heute gibt es keinen Franzosen mehr, der meint, es sei eine gute Idee, solche Karikaturen zu drucken. Besonders die jungen Leute sehen keinen Grund, den Islam zu kritisieren, und finden es direkt unsympathisch, wenn es jemand doch tut. In dieser Hinsicht haben die Attentäter gewonnen. Solche Karikaturen werden einfach nicht mehr gemacht. Es ist ein langsamer Prozess, aber die Entwicklung geht in diese Richtung.

Welche Entwicklung?

Es ist eine deutliche Bewegung in Richtung Anpassung an den Islam. Es ist natürlich schwer zu sagen, wie sich die Sache entwickeln wird und wie schnell. Aber die Richtung ist klar. Ich glaube nicht, dass das Christentum in Europa eine Zukunft hat.

Bedauern Sie das?

Nein, ich bedauere nichts. Für mich ändert sich dadurch nicht viel. Es wäre ein bisschen lächerlich, wenn ich sagen würde, dass ich das bedauere, da ich doch selber nicht an Gott glaube. Die Sache ist doch die: Gott ist tot. Wir haben ihn selbst getötet, wie Nietzsche sagt. Aber Nietzsche spricht nur vom christlichen Gott, der Gott des Islam ist überhaupt nicht tot.

Warum ist der Gott des Christentums gestorben?

Der Glaube ist verschwunden. Das ist vielleicht nicht sehr originell gesagt, aber die wissenschaftliche Erklärung der Welt hat über die religiöse gesiegt. Auch wenn die Leute nichts von der wissenschaftlichen Erklärung verstehen, glauben sie trotzdem, dass diese recht hat.

Kann der christliche Glaube zurückkehren? Oder ist das irreversibel?

Jetzt muss ich aufpassen, dass ich mir nicht selbst widerspreche . . . Grundsätzlich würde ich sagen: nein. Andererseits gibt es muslimische Länder, in denen die Religion wieder entsäkularisiert wurde. Die Religion hat neue Kraft gewonnen. Aber unmittelbar sehe ich keine offensichtlichen Anzeichen dafür, dass das Christentum zurückkommen kann. Und das sage ich mit Bedauern, denn ich möchte den Christen nicht die Hoffnung nehmen. Ich mag das Christentum.

Uns ist aufgefallen, dass Sie sich in Ihren letzten Romanen viel mit der Liebe beschäftigen.

Ich habe in meinen Büchern die Existenz der Liebe nie ernsthaft in Zweifel gezogen. Die Liebe existiert. Das habe ich übrigens schon in meinem ersten Roman «Ausweitung der Kampfzone» geschrieben, mit einem Zitat von Claude Bernard: «Die Liebe existiert auf jeden Fall, denn man kann ihre Wirkungen beobachten.» Aber das wird oft übersehen, oder?

Jedenfalls ist es ein verbreiteter Standpunkt, dass Sie in Ihren Romanen eine Welt beschreiben, die voller Sex, aber nicht gerade reich an Liebe ist.

Ich habe nie ganz verstanden, warum die Leute denken, dass es so viel Sex in meinen Büchern gibt. Es gibt nicht mehr als in vielen anderen Büchern.

Vielleicht, weil die Sexszenen ziemlich explizit sind?

Ja, das muss es sein. Denn gemessen an der Seitenanzahl glaube ich nicht, dass meine Bücher mehr Sex enthalten als andere.

Sie verlegen die Handlung Ihrer Romane oft in eine nahe Zukunft. Warum?

Ich habe als Jugendlicher viel Science-Fiction gelesen. Aber während vieles in der Science-Fiction in einer fernen Zukunft spielt, hat mir die nahe Zukunft immer gut gefallen. Sie macht es leichter, Kontraste hervorzuheben, die Dinge in einfacheren Farben zu malen. Das klingt vielleicht merkwürdig, aber so ist es für mich. Ich bin kein wirklicher Realist. Ich schreibe auf der Grundlage des Realismus, aber mit einer Neigung zum Expressionistischen.

Expressionistisch? Inwiefern?

Ich mag den Kontrast zwischen Licht und Schatten. Eigentlich ist es falsch, zu sagen, dass ich es mehr mag als das Subtile – ich habe einfach mehr Talent dafür. Viele der Autoren, die ich mag, schreiben viel nuancierter. Ich selbst kann es nur nicht.

Allmählich wird das Café ziemlich voll. Leider steigt auch der Geräuschpegel. Einer der Kellner dreht die Musik immer lauter, und wir rücken näher an Houellebecq heran, um zu verstehen, was er sagt. Nachdem er draussen eine Zigarette geraucht hat, schlägt er vor, dass wir einen anderen, ruhigeren Ort suchen, wo wir auch etwas essen können. Er empfiehlt ein Restaurant in der Nähe, und weniger als eine halbe Stunde später sitzen wir in einem kleinen traditionellen Restaurant, das wir zunächst für uns allein haben. Houellebecq bestellt Hering als Vorspeise und Tatar mit Pommes frites als Hauptgericht. Er erzählt, dass er sehr begeistert sei vom dänischen Regisseur Carl Theodor Dreyer, insbesondere von dessen Verfilmung von Kaj Munks Theaterstück «Das Wort» (1955). Dies sei sein Lieblingsfilm, sagt er.

Aber das ist doch ein religiöser Film?

Ja. Und es geschieht ein Wunder. Ich mag besonders den alten Gutsherrn Morten Borgen, er ist sehr sympathisch. Aber ich mag auch den bösen und strengen Schneider. Und die Mädchen sind auch gut. Ich glaube, ich habe diesen Film zehnmal gesehen, und ich weine immer noch jedes Mal am Ende.

Wenn man von einem Film so gerührt wird, manifestiert sich da nicht in gewisser Weise etwas Religiöses in diesem Moment?

Ja, das tut es . . . Aus christlicher Sicht geht es darum, wie Christus empfangen würde, wenn er heute zurückkäme. Diese Frage wird durch Johannes gestellt.

Ein charakteristisches Merkmal Ihres letzten Romans sind die vielen Traumbeschreibungen. Das ist neu, oder?

Ich habe meine Träume immer aufgeschrieben, und ich habe diese Protokolle aufbewahrt, ohne zu wissen, wozu sie gut sein könnten. Einige von ihnen gehen bis auf mein achtzehntes Lebensjahr zurück. Dann kam mir die Idee, dass ich einige davon in «Vernichten» verwenden könnte.

Also sind das einfach Ihre eigenen Traumaufzeichnungen?

Ja, das ist manchmal das Merkwürdige an der Literatur . . . Ich mochte diese Träume, und dann habe ich beschlossen, dass die Figuren im Roman einige von ihnen träumen sollten. Ich habe nichts daran verändert. Ich habe Passagen kopiert, von denen einige vor fünfzig Jahren geschrieben wurden.

Es ist inzwischen spät geworden, und nun ist das Restaurant auch gut gefüllt. Eine grössere Gruppe junger Leute hat mehrere Tische zusammengeschoben, um irgendetwas zu feiern, und es wird wieder schwierig, einander zu verstehen. Wir beschliessen aufzubrechen.

Houellebecq ist kürzlich mit seiner 35 Jahre jüngeren chinesischen Ehefrau in die Normandie gezogen, nachdem er einige Jahre in Paris gelebt hatte. Es ist nicht ganz leicht, sich Houellebecq in einem kleinen Dorf auf dem Land in der französischen Provinz vorzustellen, und er selbst musste sich auch erst daran gewöhnen, wie er sagt. Er besitzt allerdings weiterhin eine kleine Wohnung in Paris, damit er einen Ort hat, wenn er in der Stadt ist, aber er vermisst Paris nicht und ist nur selten dort. «Ich komme meistens wegen medizinischer Angelegenheiten nach Paris. Das ist ein bisschen traurig.»

Am nächsten Morgen liegt eine E-Mail von ihm im Posteingang, abgeschickt um sieben Uhr. Falls wir weitere Fragen hätten, stehe er uns zur Verfügung, wir könnten das Gespräch ungestört in seiner Wohnung fortsetzen. Sie liegt in einem Betonkomplex aus dem späten zwanzigsten Jahrhundert, im selben Viertel wie das Café und das Restaurant. Die Wohnung ist spärlich eingerichtet, mit vielen Büchern; im Eingangsbereich hängen einige von Houellebecqs eigenen Fotografien, die auch in verschiedenen Kunstgalerien und Museen ausgestellt wurden. Wir setzen uns um den Esstisch, Houellebecq zündet sich eine Zigarette an.

In den letzten Jahren hat man in Dänemark versucht, die Zuwanderung, die lange auf die grösseren Städte konzentriert war, auf andere Teile des Landes zu verteilen. Wie ist das in Frankreich?

Dasselbe. Das führt zu völlig absurden Situationen. In Frankreich gibt es viele wirklich ländliche Gegenden. Und dann setzt man zwanzig Äthiopier an so einen Ort, und die trauen ihren Augen nicht. Das geschieht unter Zwang. Dass ein alter Bauer vom Land mit einer Gruppe Sudanesen kommunizieren kann, ist eine Illusion. Niemand glaubt daran, trotzdem macht man weiter damit. Viele Menschen in Frankreich besitzen Waffen. Nicht wie in den USA, aber immerhin. Es gibt eine tiefe Kluft zwischen Zentrum und Peripherie, zwischen den grossen Städten und dem Land. Die Ansiedlung in kleinen Provinzstädten ist aber auch aus einem anderen Grund völlig verrückt: Es gibt dort keine Arbeit für sie. Nicht einmal für die Franzosen. Man versucht, die Probleme zu verteilen, anstatt sie zu lösen. Die lokalen Bürgermeister bleiben dann auf den Problemen sitzen.

Bei den Unruhen in Frankreich vor ein paar Jahren wurden Rathäuser, Schulen und andere öffentliche Gebäude in kleineren Städten in Brand gesetzt.

Das hatte aber nichts damit zu tun. Das waren Einwanderer der zweiten oder dritten Generation. Es waren einfach Randalierer, die Geschäfte geplündert haben, um die Beute – Sportkleidung, Handys und solche Sachen – danach zu verkaufen. Es waren keine neu angekommenen Flüchtlinge.

Schreiben Sie jeden Tag?

Nein. Aber ich lese jeden Tag. Ich liebe es. Zurzeit lese ich ein Buch von Alphonse Daudet. Kennen Sie ihn? In Frankreich ist er besonders für seine Geschichten und Erzählungen aus der Provence bekannt. Er war einer der letzten Naturalisten. Er ist heute ein wenig altmodisch, aber es ist wirklich nicht schlecht.

Wie schreiben Sie? Schnell wie Dostojewski? Oder ist es harte Arbeit, wie es bei Flaubert war?

Ich schreibe zu festen Zeiten. Die Sätze kommen bei weitem nicht immer von selbst. Wenn es nicht läuft, gehe ich zurück zu dem, was ich schon geschrieben habe, und überarbeite es. Und dann kommt plötzlich etwas. Im Durchschnitt schreibe ich wohl eine fertige Seite pro Tag.

Machen Sie einen Plan, wenn Sie einen Roman schreiben?

Nein, das widerspräche meiner Natur. Wenn ich ehrlich bin, glaube ich nicht, dass ich dazu in der Lage bin. Ich erinnere mich, dass ich in der Schule, wenn ich eine Philosophiearbeit schreiben sollte, auch nie einen Plan hatte, und ich bekam immer schlechte Noten. Es wäre auch dumm, einen Plan zu machen, wenn man einen Roman schreibt. Ich glaube, dass die Figuren lebendiger wirken, wenn man nicht alles von Anfang an geplant hat, sondern die Personen sich entwickeln lässt.

Ist das Lesen elitärer geworden? Hat der Philosoph Alain Finkielkraut recht, wenn er von einem Zustand der Postliteratur spricht?

Typisch Finkielkraut! Er geniesst seine Rolle als mahnender Intellektueller. Nein, er hat nicht recht. Ich kenne viele Leute in Verlagen, und sie sind nicht unzufrieden. Die Franzosen lesen noch immer Bücher. Mehr als die Spanier, Italiener, Deutschen oder Engländer. Doch die Franzosen lieben auch den Gedanken an den bevorstehenden Niedergang. Deshalb hat Finkielkraut so grossen Erfolg. Ich teile seine Katastrophenszenarien nicht.

In vielen Weltgegenden herrscht Krieg. Dazu haben wir die Klimakrise, die Gefahr durch künstliche Intelligenz . . .

Sie erwähnen viele Dinge. Trotzdem hatte ich eigentlich nie das Gefühl, in einer besonderen Zeit der Krisen zu leben. Die Welt war doch schon immer in einem permanenten Krisenzustand. Ich glaube nicht, dass es schlimmer geworden ist. Vieles geht auch schnell wieder vorüber.

Was geht vorüber?

Die Woke-Bewegung zum Beispiel. Ich habe sie gar nicht erst bemerkt. Es soll zwar Leute geben, die woke sind, aber ich habe sie nie getroffen. Ist die Wokeness nicht ein bisschen eine urbane Legende? Eine andere urbane Legende besagt, dass die Rechte den ideologischen Kampf gewonnen habe. Entschuldigung, aber das habe ich ehrlich gesagt auch nicht bemerkt. Es ist immer noch die Linke, die dominiert. Künstliche Intelligenz ist ein ernsthafteres Problem. Ich habe einmal versucht, etwas mit Chat-GPT zu übersetzen, und es war fast fehlerfrei. Das ist wirklich beeindruckend! Aber ich ziehe echte Übersetzer vor. Ich habe auch experimentiert, die KI selbst schreiben zu lassen, doch das hat mich nicht überzeugt. Aber das kann sich schnell entwickeln. Wie gesagt, ich habe als Jugendlicher viel Science-Fiction gelesen. Und vieles, was es in der Science-Fiction gibt, scheint jetzt Wirklichkeit werden zu können.

Also gehören Sie nicht zu den Technologiepessimisten? Ein Technologieoptimist wie Elon Musk . . .

Ach, Elon Musk. Ehrlich gesagt spreche ich lieber nicht über ihn. Er hat so viele widersprüchliche Dinge gesagt. Einmal äussert er Besorgnis über Robotersoldaten, ein anderes Mal fordert er mehr KI. Ich weiss nicht, was er meint. Vielleicht ist er so intelligent, dass ich ihm nicht folgen kann – das will ich nicht ausschliessen. Aber es würde mich interessieren, mit ihm zu sprechen.

Elon Musk will den Menschen zu einem multiplanetaren Wesen machen, das nicht an die Erde gebunden ist.

Das ist auch in der Science-Fiction ein wichtiges Thema. Das hat mich sehr beschäftigt. In der Science-Fiction zögern die Menschen meistens, andere Planeten zu kolonisieren. Ich bin für die Kolonisierung, ich finde das spannend. Ich sehe nicht ein, warum man sich ausgerechnet bei diesem Punkt beschränken sollte. Aber es ist kompliziert, die Entwicklung in diesem Bereich geht langsamer voran als bei der künstlichen Intelligenz. Übrigens finde ich die Idee, das Gehirn zu optimieren, durchaus vertretbar. Nietzsche spricht an einer Stelle davon, dass man dem Menschen zwei Gehirne machen solle, eines für die Wissenschaft und eines für den Rest. Das ist nicht dumm. Ich hatte einmal vor langer Zeit Probleme mit Mathematik, und ich erinnere mich deutlich an das Gefühl, dass da nicht derselbe Teil des Gehirns arbeitete. Es ist dieser Teil des Gehirns, der optimiert werden könnte, soweit ich das verstanden habe. Aber natürlich habe ich auch Angst, dass wir es nicht kontrollieren können. Es ist wie in Goethes berühmtem Märchen vom Zauberlehrling, wo der Junge beim Experimentieren mit magischen Kräften die Kontrolle verliert.

Die Dinge verändern sich auch in dieser Zeit mit der isolationistischen Politik der USA.

Ja, aber das ist eine wirklich gute Sache. Um ehrlich zu sein: Die einzige Frage, die mich nach der Wahl eines neuen US-Präsidenten beschäftigt, ist, ob er einen neuen Krieg auslösen wird. Und ob er Frankreich bitten wird, an einem Krieg teilzunehmen. Unter den Neokonservativen wurde sehr viel Krieg geführt. Ein Präsident der USA kann eine sehr, sehr gefährliche Person sein. Und ehrlich gesagt, wenn es sich bei Trump wirklich um einen Isolationisten handelt, dann bin ich beruhigt.

Führt die Politik Trumps die Länder Europas zusammen?

Das weiss ich nicht. Ich bin gegen Europa. Ich finde, Frankreich sollte aus der EU austreten. Wir haben mehr Interesse daran, auszutreten.

Aber die Dinge ändern sich doch, und man muss sich verteidigen können.

Verteidigen gegen wen?

Gegen Russland zum Beispiel.

Aber Russland wird uns nicht überfallen. Nicht einmal im Traum. Es ist überhaupt nicht Putins Politik, Dänemark oder Frankreich zu überfallen. Ich habe keine Angst vor Putin. Mit den baltischen Staaten ist die Situation eine andere. Ich glaube, Putin hat einen genauen Plan. Er will nicht die Sowjetunion wiederherstellen, aber sich grössere oder kleinere Stücke zurückholen. Ich glaube nicht, dass es sein Ziel ist, die ganze Ukraine zu bekommen. Aber er will zweifellos den Osten des Landes. Und es ist auch denkbar, dass er Pläne für die baltischen Staaten hat.

Was denken Sie über Trump?

Es ist mir unverständlich, dass er nach dem Sturm auf das Capitol nicht völlig diskreditiert war. Ich war sicher, dass seine politische Karriere vorbei ist. Und es ist natürlich traurig, dass er so ist, wie er ist. Dass er kein anständiger Mensch ist. Aber eine isolationistische Politik passt mir gut. Ich habe sehr schlechte Erinnerungen an all diese Kriege, die von Bush senior und junior ausgelöst wurden.

Sind Sie Pazifist?

Nein, aber ich weigere mich, die Phantasien der Amerikaner zu unterstützen. Afghanistan. Irak. Das hat zu nichts anderem als zu Katastrophen geführt. Alle Terroranschläge, die wir in Frankreich hatten, standen zu einem Teil im Zusammenhang mit dem französischen Engagement im Nahen Osten.

Also sagt Ihnen die Idee einer transatlantischen Bruderschaft nichts?

Nein! Für mich ist es offensichtlich, dass die Amerikaner immer ihre eigenen Interessen verfolgt haben. Es ist unvernünftig, etwas anderes zu glauben. Die Amerikaner waren immer egoistisch. In Frankreich haben wir Atomwaffen, also brauchen wir keinen amerikanischen Schutz. Wir sollten auch sofort die Nato verlassen. Frankreich kann sich selbst verteidigen. Man greift kein Land an, das Atomwaffen hat und in der Lage ist, sie einzusetzen. Das ist nicht möglich.

Wenige Wochen nach unserer Begegnung reiste Michel Houellebecq nach Israel, um am Literaturfestival von Jerusalem den Preis für sein Gesamtwerk entgegenzunehmen. Houellebecq hat Israel stets verteidigt, bei diesem Besuch bekräftigte er seine Unterstützung für das Land. Er bezeichnete den heutigen Antisemitismus in Europa als monströs. Seine Äusserungen lösten in Frankreich heftige Kritik aus, zahlreiche Veranstaltungen mit ihm wurden abgesagt oder verschoben. Über das angespannte Debattenklima schrieb uns Houellebecq per E-Mail: «Wenn doch nur diese enge Charta des Guten, die öffentlichen Äusserungen auferlegt wird, ein guter Romanstoff sein könnte . . . Aber das ist nicht der Fall. Die Hüter der Norm sind zu karikaturenhaft, um echte Charaktere zu sein. Und doch sind sie real.»

Anders Ehlers Dam und Adam Paulsen sind Professoren für Literaturwissenschaft an der Europa-Universität Flensburg in Deutschland bzw. an der süddänischen Universität Odense. Dies ist die gekürzte Fassung eines Interviews, das zuerst in der dänischen Zeitung «Information» erschienen ist.

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