In Europa gibt es zwei Magnete für Grenzgänger: die Schweiz und Luxemburg. Das Grossherzogtum erfindet den öffentlichen Verkehr gerade neu, um die Pendlerströme zu bewältigen. Reicht das, oder braucht es auch Hindernisse für Autos?
Am Morgen und Abend stauen sich jeweils die Fahrzeuge auf der Autobahn, die von der französischen Stadt Metz über Thionville nach Luxemburg führt. Gerammelt voll sind auch die Züge. Luxemburg ist ein Magnet für Grenzgänger aus Frankreich, aber auch für Belgier und Deutsche. 225 000 «Frontaliers» machen sich jeden Tag in den Nachbarländern auf den Weg, um nach Luxemburg arbeiten zu gehen. Das sind mehr internationale Pendler, als Genf aufweist. Dort sind es 154 000.
Verkehrspolitisch wird Luxemburg der hohen Zahl Grenzgänger, aber auch der vielen heimischen Pendler kaum Herr. Das ist offenbar der Preis, den der Kleinstaat für seine wirtschaftliche Dynamik bezahlen muss.
Der Wohlstand spiegelt sich auch im hohen Motorisierungsgrad des Landes: 698 Privatfahrzeuge kommen auf 1000 Einwohner, das ist der höchste Wert in der EU. Viele Familien haben zwei Autos, manche gar drei. Auch das trägt zur hohen Belastung des Strassensystems bei. Gleichzeitig scheint der öffentliche Verkehr das Rennen gegen das Privatauto verloren zu haben.
Gratisverkehr – auch eine soziale Massnahme
Doch Luxemburg wollte den drohenden Verkehrskollaps nicht als unabänderlich hinnehmen. Seit dem 1. März 2020 müssen die Passagiere innerhalb des Landes für die Nutzung von Bus, Tram und Zug direkt nichts mehr bezahlen, sämtliche Kosten werden aus der Staatskasse finanziert. Auch die Grenzgänger fahren gratis, allerdings nur auf Luxemburger Territorium.
Das Land ist auf die Massnahme, welche die Pendler zum Umstieg vom Auto auf den öffentlichen Verkehr bewegen soll, sehr stolz. Man sei damit ein Vorreiter, betont die Regierung immer wieder. Manche sagen allerdings, Luxemburg werbe auch deshalb gerne mit dem Gratisverkehr, um den Ruf des Landes aufzupolieren. Denn bei vielen Europäern hält sich hartnäckig Luxemburgs Image der superreichen Steueroase, der es auf Kosten anderer Länder gut geht.
Als Luxemburg die kostenlose Nutzung des öffentlichen Verkehrs vor fast genau vier Jahren einführte, verfolgten die politischen Parteien damit unterschiedliche Ziele. Initiant war ausgerechnet die liberale Partei DP. Für sie war die Initiative eine Art Wahlkampfschlager, ein Hintergedanke bestand aber auch darin, die administrativen Abläufe beim öffentlichen Verkehr zu vereinfachen.
Die Zusatzkosten, die sich der Staat mit dem Vorhaben aufbürdete, waren gering: Die Tickets waren in Luxemburg schon zuvor spottbillig gewesen, für bloss vier Euro konnte man einen Tag durch das Land reisen. Lediglich 8 bis 10 Prozent der Kosten des öffentlichen Verkehrs hatten die Kunden direkt bezahlt, der Rest war mit Steuern finanziert worden.
Trotzdem sehen gewisse Promotoren des Projekts im Gratisverkehr auch ein Sozialvorhaben – Bus, Zug und Tram sollen alle nutzen können, unabhängig vom Einkommen. Zudem sind die Steuern auch in Luxemburg progressiv gestaltet, so dass «gute Steuerzahler» stärker für das Verkehrssystem aufkommen als die weniger gut Betuchten.
Luxemburgs Grüne dagegen hatten erstaunlicherweise nicht zu den glühenden Verfechtern des Gratisverkehrs gehört. Er habe dem Vorhaben in den Koalitionsverhandlungen nur unter der Bedingung zugestimmt, dass es nicht auf Kosten der Verkehrsinvestitionen gehe, sagte der grüne Politiker François Bausch, der von 2013 bis 2023 Verkehrsminister war.
Bauschs Bedenken waren unbegründet. Luxemburg gibt derzeit für die Schieneninfrastruktur pro Kopf der Bevölkerung sogar mehr Geld aus als die Schweiz. Zusätzliche Züge werden gekauft, Bahnhöfe vergrössert und Tramlinien verlängert. Luxemburg hat sogar eine Park-and-Ride-Anlage in Frankreich mitfinanziert, die Grenzgänger dazu bewegen soll, den Arbeitsweg teilweise mit dem öffentlichen Verkehr zurückzulegen.
Gratisverkehr ist eine gut tönende Idee; ob er aber einen Umsteigeeffekt auslöst, ist sehr umstritten. Verlässliche Daten dazu gibt es nicht, weil das Projekt kurz vor Ausbruch der Pandemie eingeführt wurde, was die Analyse erschwert. Er vermute, dass es den Umsteigeeffekt nur aufgrund des Preises nicht gebe, sagt der Verkehrsforscher Merlin Gillard vom Luxembourg Institute of socio-economic Research.
Dieser Einschätzung dürften in Luxemburg mittlerweile alle Experten zustimmen. «Der Umsteigeeffekt hängt in erster Linie von der Qualität des öffentlichen Verkehrs ab, nicht vom Preis», sagt Bausch.
Unterfinanziertes Schienensystem
Gerade deshalb wird Luxemburg noch einige Zeit mit den verkehrspolitischen Versäumnissen der Vergangenheit zu kämpfen haben. Lange habe man versucht, das Stauproblem mit noch breiteren Strassen zu lösen, sagt Bausch. «Das Schienensystem dagegen war unterfinanziert.»
Luxemburg ist allerdings auch vom eigenen wirtschaftlichen Erfolg überrollt worden. Welcher Verkehrsplaner konnte auch nur ahnen, welches demografische und wirtschaftliche Wachstum das Land erzielen würde? Luxemburgs Bevölkerung ist seit 1981 um 81 Prozent auf 661 000 Personen gestiegen.
Die Zahl der Frontaliers hat in den letzten 24 Jahren auf mehr als das Zweieinhalbfache zugenommen. In der EU weisen die französischen Regionen Rhône-Alpes und Lorraine die höchste Zahl an ausreisenden Grenzgängern auf. Aus ersterer zieht es die Arbeitskräfte in die Westschweiz, aus letzterer nach Luxemburg.
Wohnen ist in Luxemburg zudem teuer, so dass vielen Ausländern nichts anderes übrig bleibt, als zu pendeln. Genossenschaften oder staatlich mitfinanzierte Unterkünfte, die das Angebot vergrössern, gibt es kaum, der Wohnungsmarkt ist fast ausschliesslich privaten Investoren überlassen.
Vor allem junge Wissenschafter stellen daher auch die ketzerische Frage, ob man nicht auch das auf Wachstum ausgerichtete Wirtschaftsmodell Luxemburgs hinterfragen sollte. Vielleicht seien auch strukturelle Massnahmen nötig, um etwa die Zersiedelung zu stoppen, oder möglicherweise müsse man auch das kapitalistische Modell Luxemburgs neu denken, sagt Gillard. Konkrete Antworten bleibt der Forscher aber schuldig.
Das Auto stellen auch die Grünen nicht infrage
Er wirft allerdings die Frage auf, ob es denn reiche, den öffentlichen Verkehr zu forcieren («Pull»), oder ob es auch nötig sei, den Autofahrern Hindernisse in den Weg zu legen («Push»). Er verweist etwa darauf, dass viele Angestellte auf Firmenarealen gratis parkieren könnten – wäre der Platz kostenpflichtig, würde das Pendler möglicherweise zum Umsteigen bewegen.
Massnahmen, die das Autofahren behindern, sind allerdings auch in Luxemburg sehr umstritten. Angedacht ist jedoch, Fahrgemeinschaften zu fördern. Derzeit baut das Land die A 3, eine Autobahn, die zum luxemburgisch-französischen Grenzübergang führt, auf je drei Spuren aus. Die jeweils linke Spur soll dereinst ausschliesslich von Bussen und Autos benutzt werden dürfen, in denen mindestens drei Personen unterwegs sind. Um die Belegung der Fahrzeuge zu kontrollieren, sollen digitale Instrumente zum Einsatz kommen.
Das Auto als Verkehrsmittel mag allerdings nicht einmal der Grüne Bausch in Zweifel ziehen, trotz den vielen Staus. Es sei Teil der Mobilität, müsse aber effizienter eingesetzt werden, sagt er.
Ebenso wenig rüttelt Bausch an Luxemburgs Wirtschaftsmodell. «Die Lösung unserer Verkehrsprobleme kann sicher nicht darin liegen, die wirtschaftliche Dynamik des Landes zu brechen», meint er.