Donnerstag, Juli 4

Die Schweiz begeistert an der Europameisterschaft, England enttäuscht komplett. Und doch bietet sich auch den hart kritisierten Engländern eine unerwartete Gelegenheit, Geschichte zu schreiben.

Im Leben ist es manchmal ganz angenehm, die Dinge einfach zu halten. Listen sorgen für Ordnung, und das gilt auch bei der Frage, ob das 2:0 im EM-Achtelfinal gegen Italien der grösste Sieg in der Geschichte der Schweizer Fussball-Nationalmannschaft gewesen sei.

Vielleicht ist das eine Frage des Alters und der Perspektive. Es gibt das historisch aufgeladene 4:2 gegen Grossdeutschland an der WM 1938, es gibt den Erfolg gegen den damaligen Weltmeister Frankreich vor drei Jahren im Achtelfinal der Europameisterschaft, das wundersame 1:0 gegen den späteren Weltmeister Spanien in der WM-Vorrunde 2010, das fulminante 4:1 gegen Rumänien an der Weltmeisterschaft 1994.

Irgendwo in dieser Reihe steht der Sieg gegen Italien. Womöglich wird man auch in 30 Jahren noch begeistert darüber reden. Der Plan der Schweizer ist es, in den nächsten Tagen noch grössere Taten zu vollbringen, über die auch 86 Jahre danach noch gesprochen wird. Zunächst einmal im Viertelfinal am Samstag in Düsseldorf gegen England. Gemessen an den Auftritten an dieser EM ist die Favoritenrolle keineswegs so klar verteilt, wie angesichts der Spieler-Marktwerte laut einschlägigen Portalen zu erwarten wäre (England: 1,5 Milliarden Franken; Schweiz: 280 Millionen Franken).

Die Engländer enttäuschen an dieser EM bis anhin komplett. Sie treten mutlos auf, ohne Konzept und Ideen, im Achtelfinal gegen die Slowakei standen sie am Sonntagabend am Rande des Abgrunds. Erst Jude Bellinghams Fallrückzieher zum 1:1 in der Nachspielzeit rettete England in die Verlängerung, in dieser gelang Harry Kane dann bald das 2:1.

Bellingham und Kane sind so viel wert wie alle Schweizer

Ausgleich in der 95. Minute, Siegtor in der 91. Minute – bei den Engländern läuft gerade einiges schief. In der Heimat wird die Auswahl seit Wochen hart kritisiert. Der Experte und frühere Nationalspieler Gary Lineker sagte in seinem Podcast «The Rest is Football» am Montag, er könne sich nicht erinnern, schon einmal eine derart armselige englische Mannschaft wie beim Auftritt gegen die Slowakei gesehen zu haben: «Zwei Schüsse aufs Tor in 120 Minuten. Hätte das Spiel sechzig Sekunden weniger lang gedauert, wäre es als einer der peinlichsten Auftritte überhaupt in die Geschichte eingegangen.»

Lineker ging in seiner vernichtenden Analyse gar so weit, den Engländern die Favoritenrolle für den Viertelfinal gegen die Schweiz wegzunehmen: «Die Schweiz ist stark, selbstbewusst und gut organisiert. Ich glaube nicht, dass wir noch die Favoriten sind.»

England statt die Slowakei als Gegner: Der Viertelfinal gewinnt dadurch aus Schweizer Optik einerseits deutlich an Attraktivität, andererseits ist die Ausgangslage völlig anders – die erstmalige Qualifikation für einen Halbfinal an einer Endrunde darf nicht erwartet werden. Der Verteidiger Manuel Akanji sagte bereits direkt nach dem Spiel gegen Italien, dass er sich England als Gegner wünsche. Weil seine englischen Teamkollegen bei Manchester City die Schweiz ab und zu ganz schön kleinreden würden. «Es wäre unglaublich, gegen sie zu gewinnen. Und ich sehe gute Chancen für uns», sagte Akanji.

Das mutige Denken der Schweizer, das entwickelte Selbstverständnis auf und neben dem Rasen, vor allem aber die herausragende Darbietung gegen Italien – die Schweizer träumen vom nächsten Triumph. Nach dem Sieg gegen den Europameister von 2021 wartet das Duell mit dem EM-Finalisten 2021, der – bei aller berechtigten Häme über die bisherigen EM-Auftritte – über genügend Ausnahmekönner verfügt, um eine Begegnung entscheiden zu können.

Der Schweizer Trainerstab ist sich bewusst, dass die individuelle Qualität der englischen Fussballer viel höher ist als jene der italienischen. Auch Bellingham und Kane wurden in den Medien heftig attackiert, aber sie haben gegen die Slowakei bewiesen, dass sie jederzeit für einen Geniestreich oder zumindest ein Siegtor besorgt sein können. Das Duo ist übrigens genauso viel wert wie alle 26 Schweizer Spieler an der EM zusammen.

Auch Gareth Southgate verschoss einen wichtigen Elfmeter

Die Engländer wissen, dass sich ihnen in Deutschland eine unerwartete Konstellation bietet, nach 58 Jahren und dem WM-Titel 1966 endlich wieder einen Pokal zu gewinnen. Die Slowakei im Achtelfinal, die Schweiz im Viertelfinal, vielleicht Österreich im Halbfinal – auf dem Papier hat es wohl noch nie einen einfacheren Weg in den Final gegeben. Zudem hat England in 27 Länderspielen gegen die Schweiz nur dreimal verloren, letztmals 1981.

In Erinnerung geblieben sind vor allem die zwei Begegnungen zwischen den beiden Nationen an Europameisterschaften. 1996 errang die Schweiz im Eröffnungsspiel im Wembley-Stadion ein 1:1 – als Kubilay Türkyilmaz kurz vor Schluss einen Elfmeter verwandelte. Acht Jahre später resultierte in Portugal ein 0:3 in der Vorrunde. Es war jene Begegnung, in der Alex Frei den Engländer Steven Gerrard anspuckte. Auch der heutige Schweizer Nationaltrainer Murat Yakin stand damals als Innenverteidiger auf dem Platz.

Die Engländer traten in jenen Jahren mit einer Art All-Star-Mannschaft an, einzig die Torhüterposition war mit David James nicht exzellent besetzt. Die Abwehr bildeten Gary Neville, John Terry, Rio Ferdinand und Ashley Cole, im Mittelfeld waren Gerrard, Frank Lampard, Paul Scholes und David Beckham, vorne stürmten Wayne Rooney und Michael Owen. Doch auch diese starke Generation gewann keinen Titel für England. 2004 scheiterte das Team im Viertelfinal an Portugal – wieder einmal dramatisch im Elfmeterschiessen.

Es existieren bestimmt Listen über die schmerzhaftesten Elfmeter in der Geschichte Englands. Der gegenwärtige Nationaltrainer Gareth Southgate – er war wie Yakin Innenverteidiger – belegt mit seinem Fehlschuss 1996 im EM-Halbfinal gegen Deutschland einen Spitzenplatz. Southgate muss in der Heimat gerade viel Kritik einstecken, weil die Engländer derart schwach und uninspiriert auftreten – nur der EM-Titel kann seine Ehre retten.

Genauso pragmatisch coacht er auch. Der spröde Southgate holt spielerisch sehr wenig aus der Ansammlung von hochbegabten Fussballern heraus. Gemessen an den Ergebnissen allerdings verläuft seine Ära durchaus zufriedenstellend: Halbfinal an der WM 2018, Finalist an der Euro 2021, Viertelfinal an der WM 2022. So unvorstellbar das gerade klingen mag: Ein Titelgewinn in diesem Sommer würde Southgate in der Liste der erfolgreichsten englischen Trainer weit nach oben führen.

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