Montag, September 30

In der Jugend ist das Risiko, psychisch zu erkranken, am höchsten. Die gute Nachricht: In dieser Lebensphase stehen die Chancen besonders gut, wieder gesund zu werden.

Die erste Liebe. Wilde Feten bei Freunden zu Hause. Am Wochenende bis mittags schlafen. Sich frei fühlen und unverwundbar. Das ist Jugend.

Aber auch das: Druck, die Schule zu packen. Enttäuschte Liebe. Sich komisch im eigenen Körper fühlen, zu dünn, zu dick, zu schlaksig. Lästereien und Häme. Und psychische Krisen. Jeder vierte Schweizer, jede vierte Schweizerin zwischen 17 und 21 Jahren hat seelische Probleme wie Angststörungen oder Depressionen. Das ergab eine Erhebung unter mehr als 3800 jungen Menschen.

Hohes Risiko für psychische Erkrankungen

Bis zur Corona-Pandemie war das psychische Wohlbefinden von Jugendlichen höchstens eine Randnotiz. Heute ist es Gegenstand von zahlreichen Studien. Zeit wird es: Denn tatsächlich ist das Risiko, psychisch zu erkranken, in kaum einer Lebensphase so hoch wie in den ersten 25 Lebensjahren, also bis zum Ende der Adoleszenz. Drei von vier seelischen Leiden nehmen ihren Anfang in der Jugend und im jungen Erwachsenenalter.

Seit einigen Jahren bezeugen Studien aus Europa einen Abwärtstrend in der mentalen Verfassung von Jugendlichen. Eine Erhebung mit mehr als 11 000 Schweizerinnen und Schweizern ab 14 Jahren ergab beispielsweise, dass das Wohlbefinden von Menschen zwischen 14 und 25 Jahren schon in den drei Jahren vor der Pandemie stetig abfiel, während es in allen anderen Altersgruppen etwa gleich blieb. Die jungen Leute klagten immer mehr über negative Gefühle, waren unzufriedener mit dem Leben, reizbarer, hatten öfter Schlafprobleme und Kopfschmerzen. Forscher suchen noch nach Erklärungen für diese Entwicklung.

Klar ist aber bereits: «Mit Beginn der Pubertät kommen auf den Menschen mehr Entwicklungsaufgaben zu als irgendwann sonst noch mal im Leben», sagt der Kinder- und Jugendpsychiater Michael Frey, Professor an der Technischen Hochschule Deggendorf in Süddeutschland.

Er hat mit seinem Kollegen Daniel Illy das «Praxishandbuch: Psychische Gesundheit in der Adoleszenz» geschrieben. Sie halten darin fest, wie lang die To-do-Liste für diese Lebensphase ist: Die eigene Identität finden, Autonomie entwickeln, sich also von den Eltern lösen, mit Gleichaltrigen Freund- oder Partnerschaften eingehen, Sexualität entdecken und erleben, die körperliche Entwicklung meistern. Kurzum: Die Jugend ist ein einziger Hürdenlauf.

«Gleichzeitig ist das Gehirn eine Grossbaustelle», betont Frey. Zwei Orte sind für das Verhalten von Jugendlichen besonders relevant – und im Umbau: der präfrontale Kortex, ein Hirnteil hinter der Stirn, und das limbische System im Inneren des Gehirns.

Umbauphase im Gehirn und hohe Anforderungen im Alltag

Im präfrontalen Kortex sitzt unsere Impulskontrolle, hiermit können wir das Risiko von unserem Tun beurteilen und langfristige Ziele verfolgen. «Diese Region ist allerdings erst mit etwa 25 Jahren vollends ausgeprägt. Deshalb handeln Jugendliche oft impulsiv und können Risiken nicht abschätzen, gleichzeitig sind sie stets offen für Neues», erklärt der Jugendpsychiater. Das limbische System wiederum ist für unser Gefühlsleben zuständig und erlebt einen immensen Reifeprozess. Junge Menschen empfinden Gefühle deshalb besonders intensiv. Wut, Angst, Traurigkeit, Freude: Oft brauche es nur kleine Reize für starke Empfindungen.

All das stösst auf die Lebensrealität von Jugendlichen. Die Erwartungen an sie nehmen im Rekordtempo zu, die Freiheiten deutlich langsamer. Jugendliche sollen die Schule meistern, Verantwortung übernehmen, ihre Zukunft planen. Sie müssen aber oft ihre Eltern um Erlaubnis fragen und dürfen nicht viel allein entscheiden. Und bei alldem wollen sie auch noch lässig bleiben, gut aussehen, ihre Freunde sehen, Spass haben, dazugehören.

Natürlich sind die Anforderungen dieser Lebensphase und die Umbauten im Gehirn nicht per se Auslöser von Krisen und Erkrankungen. Sie gehören zum Leben dazu, und die meisten kommen glimpflich hindurch.

Und doch: «Dass psychische Leiden so häufig in der Jugend beginnen, hängt auch mit den vielen Veränderungen in dieser Zeit zusammen», sagt Stefanie Schmidt, Professorin für klinische Psychologie des Kindes- und Jugendalters an der Universität Bern. Angststörungen, Depressionen und Essstörungen gehören zu den häufigsten psychischen Erkrankungen unter Jugendlichen.

Das Gehirn ist empfänglich für Belohnung und Zurückweisung

Zudem sind Menschen zwischen 12 und 25 Jahren besonders empfänglich für das Feedback von Gleichaltrigen. «In keiner Altersgruppe reagieren Menschen so sensibel auf die Rückmeldung von aussen wie in der Jugend», sagt Schmidt. Und der Jugendpsychiater Frey betont: «Sich zu den Peers hinzuwenden, ist eine der wichtigsten Entwicklungsaufgaben. Wenn man da grobe Zurückweisung erlebt, kann das Depressionen oder Ängste begünstigen.»

Schwierige Verhältnisse im Elternhaus und andere zerrüttende Faktoren können zusätzlich auf den Schultern der Heranwachsenden lasten – und manchen in die Knie zwingen. Klimakrise und Kriege tun ihr Übriges. «Die vielen globalen Krisen treffen auf die normalen Ängste Jugendlicher vor der Zukunft, ihre Unsicherheiten und können sie verstärken», erklärt Stefanie Schmidt.

Auch immer wieder im Gespräch: soziale Netzwerke. Ob – und wenn ja, wie stark – sich die Nutzung auf die Gehirne im Baustellenmodus auswirkt, ist noch längst nicht zu Ende erforscht. «Soziale Netzwerke haben Gutes wie Schlechtes, sie bieten vieles, was Jugendlichen gefällt und was sie zum Teil auch brauchen, zum Beispiel einen Raum ohne die Eltern», betont der Jugendpsychiater Frey. Problematisch sei es aber, wenn wegen der Online-Kanäle alles andere vernachlässigt werde.

«Das junge Gehirn ist extrem empfänglich für Belohnungsreize», sagt Frey. Soziale Netzwerke, aber auch Computerspiele und Alkohol senden solche Wohlfühlreize aus. «Und das in einer Zeit, wo man sein Verhalten nicht immer gut kontrollieren kann», sagt der Jugendpsychiater. Deshalb seien Jugendliche besonders suchtgefährdet.

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Die richtigen Weichen für die psychische Gesundheit stellen

Doch so verletzlich Heranwachsende auch sind, so günstig ist diese Zeit, um die Weichen zu stellen oder wieder auszurichten. «Gelingt es in der Jugend gut, mit sich umzugehen und gesund zu bleiben, ist das ein wichtiger Schutz für das Erwachsenenleben», betont die Psychologieprofessorin Schmidt. Zu merken, wann es einem schlecht geht, sei der Schlüssel, um sich einen positiven Ausgleich zum Alltag zu suchen. Konkret empfiehlt sie genauso wie Frey, generell gesund durchs Leben zu gehen: ausreichend Bewegung, ausgewogene Ernährung, genügend Schlaf und sozialen Austausch.

Wenn jemand bereits erkrankt ist, ist Psychotherapie hochwirksam. Jugendliche können von ihr besonders profitieren, weil sie schnell lernen und im Geist noch sehr flexibel sind. «Die Heilungschancen sind in jungen Jahren für viele Erkrankungen sehr gut. Je früher man eine Behandlung beginnt, desto besser», sagt der Jugendpsychiater Frey. Seelische Leiden beeinträchtigten die notwendigen Entwicklungsaufgaben in der Jugend, die man oft nicht nachholen könne. Langes Warten auf Psychotherapieplätze sei daher ein grosses Problem.

Laut einer Erhebung sind derzeit nur 20 Prozent der jungen Schweizer mit psychischen Erkrankungen in Behandlung. An den Wartezeiten allein kann das aber nicht liegen. Eine kleine Befragung unter Schweizer Jugendlichen zwischen 12 und 19 Jahren zeigte, dass viele sich gar nicht erst trauen, über ihre seelischen Probleme zu sprechen. Ein junger Mensch sagte zu den Wissenschaftern: «Wir sind Jugendliche, wir werden nicht ernst genommen. Unsere Probleme sind halt nicht so bedeutsam.»

Wenn Jugendliche ihr Leid mitteilen und Erwachsene es anerkennen, wäre das ein essenzieller Schritt. Denn klar ist: Die Jugend ist zwar eine vergleichsweise kurze Lebensspanne, aber auch eine der turbulentesten Phasen. Und sie ist eine Zeit, in der Lebenspfade gezogen werden. Gut, wenn kein Sturm den Weg verweht.

Jana Hauschild ist Psychologin und freie Journalistin. Kürzlich erschien ihr Jugend-Ratgeber «Puderzucker an der Waffel – Wie die Psyche im Gleichgewicht bleibt» im Carlsen-Verlag.

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