Mittwoch, Oktober 9

Auch nach dem Siegeszug des Handys gelten Grossbritanniens rote Telefonzellen als kulturelle Ikonen. Zum Telefonieren werden sie zwar kaum mehr gebraucht. Doch sind anderen Nutzungsmöglichkeiten kaum Grenzen gesetzt.

Grossbritannien hat viele Wahrzeichen – zu den berühmtesten gehört die rote Telefonkabine, die in diesen Tagen ihr 100-jähriges Bestehen feiert. Eigentlich ist die Phone-Box ein Relikt aus der Vergangenheit. Fast alle Britinnen und Briten sind heute im Besitz eines Mobiltelefons, weshalb der Bedarf an öffentlichen Telefonkabinen rapide gesunken ist. In den 1990er Jahren erreichte die Zahl der Telefonzellen mit rund 100 000 ihren Höhepunkt. Heute gibt es im öffentlichen Raum noch etwa 3000 von ihnen – wobei ihre Zahl nach Angaben der British Telecom jüngst wieder zugenommen hat.

Wettbewerb vor 100 Jahren

Tatsächlich erleben die traditionellen Kioske, wie sie im Volksmund auch genannt werden, seit einiger Zeit einen zweiten Frühling. Wer durch London spaziert, stösst am Strassenrand immer wieder auf Telefonzellen. Manche sind bis heute in Betrieb. Einige sind mit Graffiti versehen oder von Büschen umwachsen, andere werden als Abfallcontainer missbraucht – oder für neuartige Zwecke umgenutzt.

Das weltweit erste öffentliche Telefon in einer wetterfesten Kabine wurde 1878 in New Haven im amerikanischen Gliedstaat Connecticut aufgestellt. 1921 führte Grossbritannien die erste Serie von standardisierten Telefonzellen ein, doch die Kiosk Nummer 1 genannten Kabinen wirkten von Anfang an altmodisch und waren bei der Bevölkerung wenig beliebt.

Im Mai 1924 schuf das britische Parlament die Royal Fine Art Commission, die einen Wettbewerb zur Kreation einer neuen Telefonzelle organisieren sollte. Obenaus schwang der Entwurf des bekannten Architekten Sir Giles Gilbert Scott. Seine Telefonkabinen wirkten modern und sollten dank der roten Farbe auch im britischen Nieselregen leicht erkennbar und auffindbar sein. Heute gelten die Kabinen als kulturelle Ikonen – und sie sind berühmter als Scotts grosse Bauwerke wie die Universitätsbibliothek von Cambridge oder die Kathedrale von Liverpool.

«Adopt a Kiosk»

Der Siegeszug des Mobiltelefons schien den langsamen Tod der Telefonkabinen einzuläuten. Doch dann rief die British Telecom 2008 das Programm «Adopt a Kiosk» ins Leben. Mit grossem Erfolg: Britische Gemeinden im ganzen Land übernahmen über 7000 rote Telefonzellen – für den symbolischen Preis von einem Pfund pro Stück.

Manche Gemeinden restaurierten die Kioske mit grossem Aufwand, damit sie weiterhin das Strassenbild prägen konnten. Viele nutzten die alten Telefonkabinen auch um. Manche der berühmten roten Kästen dienen nun zum Beispiel als medizinische Servicestationen mit Defibrillatoren, die bei einem Herzstillstand helfen. Andere sind Kunstgalerien und zeigen Bilder oder Mosaike in den Glasfenstern.

In London gibt es inzwischen auch einige Cafés in alten Telefonkabinen. Da die umgewandelten Zellen weiterhin mit Strom versorgt werden, lässt sich leicht eine Kaffeemaschine anschliessen. Während der Pandemie machte beispielsweise der Betrieb eines kolumbianisch-britischen Paars in Westlondon international Schlagzeilen. Es hatte aus zwei aneinanderliegenden Telefonzellen eine kleine Imbissbude namens Amar Café gebaut.

Da Gastrobetriebe während des Lockdowns nur Verpflegung zum Mitnehmen im Freien anbieten durften, erlebte das Take-away-Café einen wahren Boom. Heute betreibt das Paar neben zwei weiteren umgebauten Telefonzellen auch ein herkömmliches Kaffeehaus im noblen Stadtteil Chelsea.

Bibliotheken und Arbeitsplätze

Im Trend liegt überdies die Nutzung der Telefonkabinen als Bibliothek oder als Tauschbörse für Bücher. Die Lewisham Micro Library in einer Telefonzelle im Quartier Brockley im Süden Londons beispielsweise ist mit einem Teppich versehen. Ein Rentner versorgt die mit einem Büchergestell ausgestattete Kabine mit Wasser und sauberen Gläsern, damit sich die Leseratten während ihres Aufenthalts in der Minibibliothek versorgen können. Ein Schild weist darauf hin, dass man bei einem Besuch nicht bloss ein neues Buch nach Hause nehmen dürfe, sondern im Gegenzug auch ein altes in der Kabine zurücklassen solle.

Wenn man sich mit den bescheidenen Platzverhältnissen arrangiert, sind den Nutzungsmöglichkeiten kaum Grenzen gesetzt. Bis vor kurzem wirkte in einer roten Zelle im Londoner Stadtteil Holborn ein Mechaniker, der sinnigerweise Mobiltelefone reparierte. Eine New Yorker Firma wandelte vor einigen Jahren auch mehrere Telefonkabinen in Büros für mobile Arbeitskräfte um. Für eine monatliche Gebühr kann man sich dank einem Code Zutritt zu den umgebauten Telefonkabinen verschaffen. Im Innern findet sich nicht nur ein Internetanschluss, sondern auch ein Stehpult für den Laptop sowie ein Drucker.

Die vielleicht berühmteste Londoner Telefonkabine steht am nordöstlichen Rand des Parliament Square in Westminster. Vor dieser Zelle bilden sich bis heute lange Warteschlangen – wie einst, als die Londoner anstehen mussten, um ihre Anrufe zu erledigen. Heute aber dient die Kabine touristischen Zwecken. Die rote Zelle liegt in perfekter Distanz zum Big Ben – so dass man sich für Instagram oder Tiktok in ein und derselben Aufnahme gleich vor zwei Londoner Wahrzeichen in Szene setzen kann.

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