Montag, Oktober 21

Boris Johnson wirkt in seinen Memoiren «Unleashed» wie der Protagonist eines Politthrillers. Sein Aufstieg ist untrennbar mit dem Brexit verknüpft. Doch zum Verhängnis wurde ihm die Pandemie.

Wer an Boris Johnson denkt, denkt unweigerlich an den Brexit. 2016 führte er den Abstimmungskampf für den EU-Austritt an, später durchbrach er als Premierminister die innenpolitische Blockade und setzte den Brexit in die Tat um. Das Londoner Establishment hat ihm das nie verziehen. In Brüssel gilt er noch immer als vertragsbrüchiger Scharlatan. Für die Brexiteers hingegen ist er ein Held, ohne den der Austritt aus der EU wohl nie Realität geworden wäre.

Der zweifelnde Brexiteer

So eng Johnsons Karriere mit dem EU-Austritt verknüpft ist, so zufällig scheint er in die Rolle des Brexit-Helden geschlüpft zu sein. Seine Kritiker haben ihm stets unterstellt, er habe das Referendum nur mit Blick auf seine Ambitionen auf das Amt des Premierministers unterstützt. Fest steht, dass Johnson Anfang 2016 kein hartgesottener Brexiteer war. In seiner Autobiografie «Unleashed» («Entfesselt») beschreibt er ausführlich, wie er damals noch als Londoner Bürgermeister mit dem Entscheid gerungen habe.

Johnson haderte, zweifelte, erhielt Anrufe von Weggefährten, die ihn zu beeinflussen suchten. Beim Tennisspiel habe ihm David Cameron ein hohes Ministeramt angeboten, wenn er für den Verbleib in der EU Position ergreife. Sollte er hingegen für den Brexit eintreten, werde er ihn «für immer fertigmachen» («fuck you up forever»).

Es erschien Johnson riskant, sich mit «Dave» anzulegen. Zudem seien ihm die fremdenfeindlichen Untertöne der sich anbahnenden Brexit-Kampagne unsympathisch gewesen. Doch sein Herz habe ihm einen anderen Weg gewiesen, weshalb er eine Zeitungskolumne schrieb, in der er für den Brexit plädierte. Die am gleichen Abend verfasste zweite Kolumne für den Verbleib in der EU sei ein unausgegorener Entwurf geblieben, den Johnsons späterer Verteidigungsminister Ben Wallace – «zu meiner grossen Peinlichkeit» – an die Presse weitergegeben habe.

Die trotz ihren fast 800 Seiten leichtfüssige Autobiografie wartet mit einer Fülle solcher Anekdoten auf. Sie beschreibt Begegnungen mit Premierministern und Präsidenten wie Wolodimir Selenski, den er am Tag nach der russischen Invasion der Ukraine zur Bildung einer Exilregierung in London einlud. Als Selenski entgegnete, er wünsche keine Hilfe zur Flucht, sondern eine zur Landesverteidigung, machte Johnson Grossbritannien zu einem der wichtigsten Verbündeten und Waffenlieferanten Kiews.

Johnson erscheint in seinen Memoiren als Mann, der über die Niederungen der Tagespolitik hinausblickt und an die Kraft grosser Gesten, Ideen und Bauvorhaben glaubt. Viel früher als andere Regierungschefs erkannte er die strategische Notwendigkeit zur Unterstützung der Ukraine. Er glaubt bis heute an eine ambitionierte Klimapolitik und an seinen epochalen Plan zur Eindämmung der Einkommensunterschiede zwischen dem vernachlässigten Norden und dem reichen Süden Englands. Dank seinem unvergleichlichen Charisma und seinem Bekenntnis zu diesem «levelling up» sprach er viele Wähler im postindustriellen Norden an, die 2019 erstmals überhaupt für die Tories stimmten. Bei der Unterhauswahl vom Juli wandten sich nun aber viele wieder von den Konservativen ab.

Dienstwohnung als «Crack-Hölle»

Gründe für Probleme bei der Umsetzung seiner Pläne findet Johnson weniger bei sich selbst als bei anderen. Schlecht weg kommt Theresa May, die er mit einer «alten, miesepetrigen Unterhose» vergleicht. May habe sich von Brüssel eine Verhandlungs-Sequenz diktieren lassen, die er für spätere Brexit-Probleme verantwortlich macht. Und sie habe einen «Pseudo-Brexit» angestrebt, bei dem Grossbritannien «wie die Schweiz an das Gravitationsfeld Brüssels angekettet» geblieben wäre. Johnson aber glaubte, dass nur ein gänzlich «entfesseltes» Grossbritannien sein Potenzial entfalten könne.

Mit seiner Demission als Aussenminister brachte Johnson May zu Fall und trat ihre Nachfolge an. Die Dienstwohnung, die er von ihr übernahm, vergleicht er mit einer «Crack-Hölle». Damit rechtfertigte er die vielkritisierte Anschaffung teurer Tapeten auf Kosten eines Parteispenders. Mays ehemaliger Stabschef giftelte gegenüber «Politico», es überrasche ja wohl niemanden mehr, dass Johnson manchmal Dinge sage, die mit der Wahrheit wenig gemein hätten.

Fest steht, dass Johnson wie so viele Politiker zur Schönfärberei neigt. Er schreibt, er hätte Grossbritannien nie einen No-Deal-Brexit zugemutet. Doch habe er die EU darüber bewusst im Ungewissen gelassen und so den Verhandlungserfolg erzielt. Allerdings gelang der Durchbruch erst, als Johnson in das Nordirland-Protokoll einwilligte. Im Buch zeigt er sich verärgert darüber, dass die EU die im Protokoll festgeschriebenen Zollkontrollen zwischen Nordirland und der britischen Insel umsetzte.

Covid als unerwartete Katastrophe

Johnson schreibt ähnlich humorvoll und bombastisch, wie er spricht. Manchmal wirkt er wie der Protagonist eines Abenteuerromans. Covid erscheint als unerwartete Katastrophe, welche die Pläne des Helden durchkreuzt. Im Frühling 2020 erkrankte Johnson am Virus und musste auf der Intensivstation behandelt werden. Er beschreibt qualvolle Stunden, in denen er, um Sauerstoff ringend, gegen den Schlaf ankämpfte – aus Angst, dass er nicht mehr erwachen würde.

Das Impfprogramm bezeichnet Johnson als einen seiner grössten Erfolge. Grossbritannien hatte die Covid-Vakzine drei Wochen früher zugelassen als die EU, was zum britischen Vorsprung bei der Immunisierung der Bevölkerung beitrug. Johnson erwähnt nicht, dass die rasche Zulassung noch vor dem Vollzug des Brexits unter Einhaltung von EU-Recht erfolgte.

Doch zeigt er sich entrüstet über EU-Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen, die ihm habe verbieten wollen, seine Impferfolge als Brexit-Errungenschaften zu präsentieren. Auch dem damaligen EU-Chefunterhändler und heutigen französischen Premierminister Michel Barnier attestiert Johnson ein fast obsessives Bemühen, den Brexit um jeden Preis als Misserfolg erscheinen zu lassen.

Auf dem Höhepunkt des Streits blockierte die EU die Lieferung von 5 Millionen AstraZeneca-Impfdosen nach Grossbritannien. Johnson beschreibt, wie er sich nach einer nächtlichen Recherche auf Google Earth wie in einem Action-Film über die Möglichkeiten informieren liess, die Dosen in einem Lagerhaus in den Niederlanden von britischen Spezialeinheiten beschlagnahmen und klandestin nach London bringen zu lassen.

Den etwas spät verhängten, aber harten Lockdown von 2020 erachtet er im Rückblick als unausweichlich. Gleichzeitig beschreibt Johnson fast ungläubig das Dickicht von Regeln und Verboten, die er und seine Beamten dem Land während der Pandemie zumuteten – und die zu seinem Verhängnis werden sollten.

Die Affäre rund um Partys an seinem Amtssitz während der Lockdowns handelt Johnson auf wenigen Seiten ab. Er spricht von einer masslosen Übertreibung und einer «Hexenjagd» der Medien und der Opposition. Kaum Erwähnung findet die Wut über die Doppelmoral, welche die Affäre angesichts der strengen Corona-Regeln für die gewöhnliche Bevölkerung auslöste. Oder dass sich Johnsons Büro bei Queen Elizabeth II. entschuldigen musste, weil seine Mitarbeiter am Vorabend der Beerdigung von Prinz Philip bis in die frühen Morgenstunden getrunken und getanzt hatten.

Johnson sieht den Hauptgrund für seinen Sturz in den Tory-Abgeordneten, die ihm Skandale einbrachten und angesichts der sinkenden Umfragewerte in Panik gerieten. «Wenn Cäsar dreiundzwanzig Stichwunden aufwies, hatte ich deren zweiundsechzig», schreibt er. So hoch war die Zahl von Juniorministern und Kabinettsmitgliedern, die im Sommer 2022 Schatzkanzler Rishi («Brutus») Sunak folgten und Johnson mit ihrer massenhaften Demission zum Rücktritt zwangen.

Sein Prestigeprojekt «levelling up» blieb toter Buchstabe. Bis heute ist unklar, was das «entfesselte» Grossbritannien mit seinen Brexit-Freiheiten genau anfangen will. Teilweise scheiterte Johnson an sich selbst und seiner Herangehensweise. So räumt er ein, der Beziehungspflege und der feinen Mechanik der Macht in Westminster zu wenig Beachtung geschenkt zu haben. Gleichzeitig absorbierten die Pandemie und der Ukraine-Krieg bis zu seinem Rücktritt fast alle seine Ressourcen. Und seine Nachfolger agierten keineswegs überzeugender als Johnson.

Dennoch blickt der 60-Jährige nicht im Zorn zurück, sondern mit der für ihn typischen Selbstironie. Und einer Spur Wehmut darüber, dass ihm nach drei Jahren als Premierminister vorschnell die Zeit ausging.

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