Immer mehr Menschen schliessen sich den Protesten gegen die Regierung an. Sie agieren geschickt und distanzieren sich von jeglichem Krawall.
Die Proteste in Serbien haben am Wochenende einen neuerlichen Höhepunkt erreicht. Nach zahlreichen Kundgebungen im ganzen Land strömten am Samstag die Menschen zurück in die Hauptstadt Belgrad, um für mehr Rechtsstaatlichkeit und somit indirekt gegen das System von Präsident Aleksandar Vucic zu protestieren.
Die Regierung sprach von 107 000 Teilnehmern. Eine Organisation, die öffentliche Veranstaltungen dokumentiert, schätzte die Zahl aber dreimal so hoch ein, auf 325 000. Das würde bedeuten, dass am Samstag jeder zwanzigste Bewohner des Landes in Belgrad demonstriert hätte. Die grösste Kundgebung seit Beginn der Proteste vor drei Monaten war es allemal, vielleicht die grösste überhaupt, die es je in Serbien gegeben hat.
Korruption und Klientelismus
Die Proteste ausgelöst hatte der Einsturz eines kurz zuvor renovierten Bahnhofsvordachs Anfang November in Novi Sad, bei dem 15 Personen ums Leben kamen. Der Pfusch am Bau, zumal an einem öffentlichen Prestigeprojekt wie der Bahnlinie von Belgrad nach Budapest, und der offensichtliche Unwille der Regierung, dafür Verantwortung zu nehmen, stehen für viele Menschen in Serbien sinnbildlich für die Grundübel im Land: Korruption, Klientelismus und eine Kultur der Straflosigkeit. Die Kundgebung am Samstag – dem 15. März – stand unter dem Motto «Am 15. für die 15».
Die treibende Kraft hinter der Bewegung, die bewusst auf Wortführer verzichtet, sind Studenten. Der erste Akt des Protests war die Besetzung von Fakultäten. Seit drei Monaten findet in Serbien kein regulärer Hochschulunterricht mehr statt. Manche Studenten marschieren seit Wochen durch das ganze Land, von einer Kundgebung zur nächsten.
Die Bewegung ist aber längst über das universitäre Milieu hinausgewachsen. Auch Lehrer, Bauern und gewöhnliche Angestellte demonstrieren mit. Am Samstag waren teilweise mehrere Generationen einer Familie gemeinsam unterwegs. Viele Eltern der Studenten hatten um die Jahrtausendwende gegen den serbischen Machthaber Slobodan Milosevic protestiert.
Angst vor Ausschreitungen
Im Vorfeld der Grosskundgebung vom Samstag hatte aus Sorge wegen möglicher Ausschreitungen grosse Anspannung geherrscht. Das massive Polizeiaufgebot, das laut offiziellen Angaben dem Schutz der Demonstranten diente, wurde als Einschüchterungsversuch wahrgenommen.
Die Organisatoren verlegten am Samstag kurzfristig den Ort der Kundgebung. Vor dem Parlament in Belgrad, wo sich die Demonstranten ursprünglich versammeln wollten, kampieren seit Tagen regierungsnahe Studenten, die eine Wiederaufnahme des Universitätsbetriebs fordern. Geschützt werden sie von Sondereinheiten der serbischen Polizei.
Insbesondere zu Beginn der Proteste war es immer wieder zu Provokationen und Übergriffen auf die Demonstranten gekommen. Meist stellte sich später heraus, dass regierungsnahe Kreise hinter den Tätlichkeiten standen. Insgesamt wurden laut Regierungsangaben am Samstag 56 Personen leicht verletzt. Es kam zu 22 Festnahmen. Grössere Ausschreitungen blieben aber aus.
Die Studenten und ihre Anhänger treten in der Regel sehr diszipliniert auf und rufen immer wieder zu Gewaltverzicht auf. Als vor einigen Wochen Vertreter der politischen Opposition im serbischen Parlament Randale machten, distanzierten sich die Studenten umgehend von ihnen. Die Bewegung hält sich bewusst von jeder innen- oder aussenpolitischen Vereinnahmung fern. Auch Bezüge zur EU, die bei früheren Protesten als Symbol für rechtsstaatliche Reformen stand, fehlen vollständig.
Vucic spricht von «Farbrevolution»
Die Massenproteste sind die grösste Herausforderung für die Macht von Aleksandar Vucic, seit dieser vor dreizehn Jahren die Geschicke des Landes zu lenken übernommen hat. Wie bei früheren Protestbewegungen reagiert der Präsident mit einer Strategie aus Zugeständnissen und Diskreditierung auf den öffentlichen Unmut.
So mussten bereits mehrere Minister und der Regierungschef Milos Vucevic wegen der Proteste zurücktreten. Gleichzeitig spricht Vucic immer wieder vom Versuch einer Farbrevolution in Serbien, womit er den Studenten unterstellt, von ausländischen Mächten gesteuert zu sein. Beweise oder auch nur Hinweise darauf legt er jedoch keine vor.
Rückendeckung bekam Vucic kürzlich von Donald Trump Jr., dem Sohn des amerikanischen Präsidenten. In einem öffentlich ausgestrahlten Gespräch zwischen Trump und Vucic ging es unter anderem um die mögliche Unterstützung der Protestbewegung mit Geldern der amerikanischen Entwicklungshilfeagentur USAID.
Ähnlich wie Rumänien, wo sich Washington prominent in die Kontroverse um die Annullierung der Präsidentschaftswahl eingemischt hat, wird so auch Serbien zur Projektionsfläche für Debatten und Machtkämpfe, die nur oberflächlich mit dem Land zu tun haben. In den Augen der neuen amerikanischen Regierung steht USAID für die ideologisch fehlgeleitete Aussenpolitik ihrer Vorgängerin. Die Mittel der Entwicklungsorganisation wurden unmittelbar nach Trumps Amtsantritt drastisch gekürzt.
Ungebrochene Dynamik
Vucic ist es bisher nicht gelungen, die Dynamik der Strasse zu stoppen – das hat die Grosskundgebung vom Wochenende eindrücklich gezeigt.
Am Samstagabend erklärte er, die Regierung habe verstanden. Der Protest sei mit grosser negativer Energie, Wut und Zorn gegenüber der Regierung abgehalten worden. Wenn sich so viele Menschen versammelten, sei die Botschaft klar. «Wir werden uns ändern müssen.» Was er darunter verstand, liess er freilich offen.