In der Weltwirtschaft zeigen sich Signale einer Beschleunigung der Konjunkturdynamik. An den Börsen findet eine Präferenzverschiebung statt: Aktien aus den Sektoren Energie und Grundstoffe kommen in Fahrt.
An den Finanzmärkten findet eine wichtige Verschiebung statt. Das zeigt ein Blick auf die Performance der Sektoren im Weltindex von MSCI in den vergangenen fünf Handelswochen seit Anfang März:
Die mit Abstand stärkste Performance lieferte der Energiesektor, der von Öl- und Gaskonzernen wie ExxonMobil, Shell oder TotalEnergies dominiert wird. Auf Rang zwei der Liste schafft es der Sektor Grundstoffe, in dem schwergewichtig Branchen wie Chemie (u.a. BASF), Baumaterialien (u.a. Holcim) sowie Rohstoffkonzerne wie BHP und Rio Tinto zu finden sind.
Der Star des vergangenen Jahres, der Sektor Informationstechnologie (u.a. Nvidia, Microsoft), ist im März nicht mehr vom Fleck gekommen, ebenso der Sektor Gesundheit mit den beiden «Fett weg»-Darlings Eli Lilly und Novo Nordisk.
Fünf Wochen sind eine kurze Zeit. Dennoch: Preise senden Signale, und wir versuchen im dieswöchigen «Big Picture», diese einzuordnen.
Die Themen
- Grüne Knospen
- Die grosse Frage
- Der Ölpreis als Spielverderber?
- Gold bricht aus
- Janet Yellen reist nach China
1. Grüne Knospen
Über weite Strecken der vergangenen Monate, und besonders seit der «sanften» geldpolitischen Wende von Fed-Chef Jerome Powell im Dezember, liess sich das Umfeld an den Finanzmärkten stark vereinfacht ungefähr so beschreiben:
- Die US-Wirtschaft rutscht nicht in eine Rezession
- Der US-Arbeitsmarkt, und damit auch der Konsum, bleibt robust
- Der Inflationsdruck nimmt langsam und stetig ab
- Europas Wirtschaft verharrt in einem quasi-rezessiven Zustand
- China sendet keine Signale einer konjunkturellen Belebung
- Die US-Notenbank wird im Juni beginnen, die Zinsen zu senken
- Dito die Europäische Zentralbank
Dieses Umfeld haben wir an dieser Stelle sowie im «The Big Picture Live»-Webinar vom 12. Februar als «disinflationären Boom» charakterisiert, der von der US-Wirtschaft angetrieben wird.
Dieses Umfeld gilt grundsätzlich weiterhin, doch der Punkt 3, der abnehmende Inflationsdruck, wird allmählich infrage gestellt. Seit einigen Wochen senden zudem die Punkte 4 und 5 in der Liste, Europa und China, leise Signale einer Belebung. Von einem Boom kann in diesen Wirtschaftsräumen zwar keine Rede sein, aber für die Finanzmärkte ist es immer die marginale Bewegung, die zählt. Und die zeigt nach oben. An diversen Orten in der Weltwirtschaft, nicht mehr nur in Ausnahmefällen wie den USA oder Indien, zeigen sich grüne Knospen.
Wir versuchen im Folgenden mit Hilfe von neun Grafiken, das Bild einzufangen.
Der Einkaufsmanagerindex (Purchasing Managers Index, PMI) des globalen Industriesektors, ein vielbeachteter vorlaufender Konjunkturindikator, ist nach anderthalb Jahren der Kontraktion wieder über die Expansionsschwelle von 50 gestiegen, was eine Beschleunigung der Konjunktur signalisiert:
Auch in China haben es alle PMI – das gilt sowohl für die offiziellen wie auch die vom Wirtschaftsmagazin «Caixin» erhobenen Barometer – wieder in den expansiven Bereich geschafft.
Die Einkaufsmanagerindizes von Taiwan und Schweden – zwei überdurchschnittlich zyklische, offene, exportorientierte Volkswirtschaften – zeigen ebenfalls nach oben. In Schweden hat es der Industrie-PMI nach 19 Monaten Kontraktion wieder auf 50 geschafft:
Das Wachstum der Exporte Taiwans, sowohl nach China wie auch in den Rest der Welt, hat markant angezogen:
Die Aktivitäten im weltweiten Frachtverkehr (schwarze Kurve) sowie die Geschäftsklima-Indikatoren (orange) signalisieren ebenfalls eine Erholung, wie Michael Howell von der Londoner Research-Boutique CrossBorder Research zeigt:
In der Eurozone ächzt der Industriesektor zwar immer noch, aber der Dienstleistungssektor zeigt seit März eine leichte Expansion:
Selbst in den Chefetagen der deutschen Unternehmen regt sich leiser Optimismus, wie der vom Münchner Ifo-Institut erhobene Geschäftsklimaindex zeigt:
In den USA schliesslich zeigt die Dynamik im Industriesektor ebenfalls nach oben (im Dienstleistungssektor herrschte in Amerika ohnehin ein ununterbrochener Boom). Die Subkomponente der neuen Bestellungen (New Orders, rote Kurve) im ISM-Einkaufsmanagerindex ist im März auf 51,4 gestiegen.
Der GDPNow-Konjunkturindikator der Distriktnotenbank von Atlanta veranschlagt das Wachstum der US-Wirtschaft im ersten Quartal auf 2,5%. Der heute Freitag publizierte Arbeitsmarktbericht bestätigte abermals die Robustheit der US-Wirtschaft: Im März wurden demnach 303’000 neue Stellen geschaffen, 50% mehr als erwartet. Die Arbeitslosenquote ist von 3,9% im Vormonat auf 3,8% gesunken.
Der Kupferpreis schliesslich, der ein ausgeprägtes Gespür für die Dynamik in der Weltkonjunktur besitzt, ist auf über 9000 $ je Tonne gestiegen, was den Aktienkursen von Kupferförderern wie Freeport-McMoRan zu kräftigen Kursgewinnen verholfen hat.
Selbstverständlich ist das Bild nicht unisono rosig. Der Preis für Eisenerz beispielsweise, der stärker als der Kupferpreis an Chinas Baukonjunktur hängt, zeigte im März keine Anzeichen einer Belebung. In Südkorea, ebenfalls einer zyklischen, exportorientierten Volkswirtschaft, ist der Industrie-PMI im März wider Erwarten leicht gesunken.
Trotzdem: Insgesamt betrachtet überwiegen die positiven Konjunktursignale. «Die Weltwirtschaft schaltet einen Gang höher», urteilt Howell von CrossBorder in seinem Wochenbericht.
Das ist erfreulich, nicht wahr?
Jein. Denn mit einer marginalen Beschleunigung in der Weltwirtschaft stellt sich für den restlichen Verlauf des Jahres eine grosse Frage.
2. Die grosse Frage
Hält das Momentum des Rückgangs in den Inflationsdaten genügend lange an, damit die Zentralbanken – primär das Fed – glaubhaft Mission Accomplished verkünden können?
Oder anders gefragt: Wie rasch führt ein Aufschwung der Weltwirtschaft zu einem Wiederaufflammen der Inflation?
In Europa geht die Bewegung noch in die richtige Richtung. In der Eurozone ist die Inflationsrate im März stärker als erwartet auf 2,4% gesunken, die Kernrate (ohne Energie und Nahrungsmittel) ermässigte sich auf 2,9%. In der Schweiz hat sich die Teuerung der Konsumentenpreise auf 1% zurückgebildet – ebenfalls stärker als erwartet.
Diffiziler sieht die Sache in den USA aus. Dort stockt der Rückgang im breiten Konsumentenpreisindex (CPI, blaue Kurve) seit mehreren Monaten.
Die März-Lesung des CPI vom kommenden Mittwoch (10. April) wird deshalb mit Spannung erwartet. Sollte sich der in den vergangenen drei Monaten begonnene Trend von höher als erwartet ausgefallenen Inflationsdaten festigen, wird die Hoffnung auf baldige Fed-Zinssenkungen zunehmend infrage gestellt. Neel Kashkari, Präsident der Distriktnotenbank Minneapolis, sagte am Donnerstag, es werde im laufenden Jahr möglicherweise gar keine Zinssenkungen geben, sofern der Inflationsdruck nicht weiter nachlasse.
Statt eines «disinflationären Booms» könnte das Umfeld damit wieder stärker in Richtung eines «inflationären Booms» kippen – höher als erwartete Konjunktur- und Inflationsdaten –, und dieses Umfeld bevorzugt an den Börsen die «harten» Sektoren Energie und Grundstoffe. Genau die beiden Sektoren also, die im März die Nase vorn hatten. «Wir erleben den Beginn einer historischen Kapitalverschiebung in Richtung Hard Assets», sagt dazu der New Yorker Marktbeobachter Larry McDonald.
3. Der Ölpreis als Spielverderber?
Der Ölpreis der Sorte Brent ist diese Woche erstmals seit Oktober über 90 $ je Fass gestiegen. Seit Anfang Jahr hat sich der Energieträger um gut 18% verteuert.
Die Gründe für einen Preisanstieg sind nie kausal bestimmbar, aber folgende Faktoren haben zur Ölpreishausse beigetragen:
- Die Belebung der Weltwirtschaft
- Die in der vergangenen Woche erneut bekräftigte Produktionsdisziplin der Staaten des «Opec+»-Kartells
- Die angespannte Lage im Nahen Osten, besonders nach Israels Bombardierung der iranischen Botschaft in Damaskus
- Wiederholte ukrainische Drohnenangriffe auf russische Raffinerien, was Russlands Exportkapazitäten für Diesel und andere Treibstoffe schmälert
Was auch immer die Treiber des Ölpreis-Anstiegs sind: Er wird zu einem Problem. Erstens, weil ein Anstieg des Ölpreises dem Weltfinanzsystem Liquidität entzieht, und zweitens, weil er Präsident Biden in Schwierigkeiten bringt. Der durchschnittliche Benzinpreis in den USA hat sich seit Anfang Jahr um mehr als 15% verteuert und ist diese Woche über 3.50 $ je Gallone (3,79 Liter) gestiegen.
Es gibt wenig, das die Amerikanerinnen und Amerikaner direkter in ihrem Geldbeutel und ihrem Gemüt spüren als ein Anstieg des Benzinpreises. Und auch wenn die Energiekosten nicht in die Berechnung der vom Fed präferierten Kern-Inflationsrate fliessen, so können die Währungshüter diese Form der Inflation trotzdem nicht gänzlich ignorieren. In der öffentlichen Diskussion ist die cost of living crisis ein Dauerthema.
2022, vor den Kongresswahlen, konnte Biden den Ölpreisschock abfedern, indem er die strategischen Erdölreserven der USA (Strategic Petroleum Reserve, SPR) anzapfte und innerhalb weniger Monate rund 250 Mio. Fass Rohöl bezog (blaue Linie in der untenstehenden Grafik). Zwar ist die SPR heute nicht leer, aber mit 360 Mio. Fass liegt die strategische Reserve gegenwärtig nur bei 50% ihrer Kapazität (orange Linie) und auf dem niedrigsten Stand seit 1985.
Das Energieministerium hat in den vergangenen Monaten nur in geringem Ausmass daran gearbeitet, die SPR wieder zu füllen. Seit dieser Woche sind die Käufe wieder offiziell ausgesetzt.
4. Gold bricht aus
Die Rendite zehnjähriger Treasury Notes ist seit Anfang Jahr um rund 50 Basispunkte auf gegenwärtig rund 4,35% gestiegen. Der Dollar, gemessen am handelsgewichteten Dollar-Index (DXY), hat sich um mehr als 3% aufgewertet. Diese Kombination – steigende Zinsen und steigender Dollar – ist normalerweise Gift für den Goldpreis.
Doch der Goldpreis hat es im März nach vier Anläufen in den vergangenen vier Jahren geschafft, nach oben auszubrechen und ist auf über 2300 $ je Unze gestiegen:
Die historisch betrachtet enge negative Korrelation zwischen den realen Treasury-Renditen und dem Goldpreis – steigen die Realzinsen, sinkt der Goldpreis und vice versa – gilt seit gut einem Jahr nicht mehr, wie die folgende Grafik von Michael Hartnett, Chefstratege von Bank of America, eindrücklich zeigt:
Die Realzinsen (dunkelblaue Kurve, linke Skala, invers dargestellt) sind gestiegen, während der Goldpreis (hellblau, rechte Skala) ebenfalls gestiegen ist.
Auch hier gilt: Die Gründe für den Anstieg lassen sich nicht kausal beweisen. Aber der Goldpreis signalisiert etwas. Vielleicht nimmt er, wie Hartnett vermutet, kräftig sinkende Realzinsen in den USA vorweg. Das wäre zum Beispiel dann der Fall, wenn die US-Wirtschaft doch noch in eine Rezession rutscht oder wenn das Fed den Kampf gegen die Inflation vernachlässigt und seinem inoffiziellen Hauptmandat, nämlich der Sicherstellung einer reibungslosen Refinanzierung des Staates an den Treasury-Märkten, Priorität einräumt.
Mit Freude beobachten wir, wie sich die Aktienkurse von Goldminengesellschaften wie Agnico Eagle Mines, Barrick oder Newmont im Zeitraum seit Mitte Februar signifikant erholt haben.
Deutlichen Auftrieb hat auch der kleine Bruder des gelben Edelmetalls, Silber, erhalten – auch wenn der Silberpreis noch ein gutes Stück vom Allzeithoch entfernt ist.
Kollege Christoph Gisiger präsentiert hier die Gründe für einen weiteren Anstieg des Silberpreises und zeigt, welche Minengesellschaften Potenzial bieten.
5. Janet Yellen reist nach China
Es mag nicht spektakulär klingen, aber es handelt sich um eine der wichtigsten politischen Zusammenkünfte des Jahres: Janet Yellen befindet sich dieser Tage auf offiziellem Besuch in China. Und die US-Finanzministerin hat ein Hauptgesprächsthema mitgebracht: die Überkapazitäten in Chinas Industrie sowie die Strategie Pekings, diese Überkapazitäten in den Rest der Welt zu exportieren.
Besonders im Zeitraum der vergangenen vier Jahre, hinter dem «Vorhang» der Covid-Pandemie, ist China unter der Führung von Parteichef Xi Jinping mehr und mehr zu einem merkantilistischen, exportgetriebenen Wachstumsmodell zurückgekehrt. Der kanadische China-Experte Dan Wang bezeichnet die Strategie in einem Interview mit dem «Handelsblatt» als «eine Wirtschaft mit deutschen Charakteristika: wenig Internet, viel Produktion».
Chinas Überkapazitäten sind zwar kein neues Thema. Die 2013 von Xi ausgerufene «Belt and Road»-Initiative war teilweise eine Antwort auf die inländischen Überkapazitäten in Bereichen wie Zement und Stahl.
Doch nun betrifft das Thema vermehrt andere Sektoren, die die Volkswirtschaften in Europa und Nordamerika direkter betreffen, wie Jörg Wuttke, der frühere, langjährige Präsident der EU-Handelskammer in China, in diesem Gastbeitrag für The Market schreibt.
In Bereichen wie Wind- und Solarenergie (mit fatalen Folgen für westliche Anbieter wie Meyer Burger), Batterien oder Elektrofahrzeuge sind in China dermassen grosse Überkapazitäten aufgebaut worden, dass die Weltmärkte regelrecht geflutet werden. Im Automobilsektor beispielsweise ist die Volksrepublik innerhalb von drei Jahren von einem Niemand zu einer Weltmacht avanciert.
Nun mag man einwenden, dass das ein Zeichen von Wettbewerbsfähigkeit sei und Chinas Anbieter auf den freien Weltmärkten ihren Platz erkämpft haben. Doch das greift zu kurz. Viele dieser Industrien waren – oder sind – in hohem Ausmass staatlich subventioniert.
Und, noch wichtiger: Chinas riesige Exportüberschüsse sind Ausdruck einer horrend aus der Balance geratenen Volkswirtschaft. Die folgenden zwei Grafiken von Marko Papic von der Research-Boutique Clocktower Group verdeutlichen das Problem. Der Anteil des privaten Konsums in China liegt mit weniger als 40% des BIP deutlich unter den Werten der USA, Japan oder Deutschland (violette Kurve, linke Grafik). Chinas Anteil an der globalen Industrieproduktion (rechte Grafik) ist derweil auf gut 30% gestiegen.
Falls Sie das Thema interessiert, empfehlen wir diesen höchst informativen Beitrag unseres Gastautors Michael Pettis. «Während China 18% des weltweiten BIP und nur 13% des weltweiten Konsums ausmacht, stellt das Land derzeit ausserordentliche 31% der weltweiten Produktion», schreibt Pettis.
Yellen ist mit einer simplen Botschaft nach China gereist: Entweder, Peking arbeitet glaubhaft daran, die heimischen Überkapazitäten zu begrenzen und, vor allem, die inländische Nachfrage anzukurbeln, oder Washington wird weitere Importbeschränkungen auf Waren aus China beschliessen.
Xi und seine Kollegen werden sich gut überlegen müssen, ob sie Yellen bzw. der Biden-Regierung komplett die kalte Schulter zeigen wollen: Donald Trump hat bereits angedroht, er werde Importzölle von 60% auf Waren aus China verhängen, falls er Anfang 2025 wieder ins Weisse Haus einziehen sollte.